Freitag, 19. April 2024

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Gerechtigkeit in Deutschland
"Wir nutzen unsere Potenziale nicht, Kinder zu befähigen"

Es sei ungerecht, dass es in Deutschland immer noch einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg gebe, sagte Georg Cremer, Generalsekretär der Caritas, im Deutschlandfunk. Man müsse Menschen besser unterstützen, ihre Potenziale zu entfalten. Das sei derzeit die größte Herausforderung für den Sozialstaat in Deutschland.

Georg Cremer im Gespräch mit Christiane Florin | 21.08.2016
    Georg Cremer, Generalsekretär der Caritas, Volkswirtschaftsprofessor und Buchautor
    Georg Cremer, Generalsekretär der Caritas, Volkswirtschaftsprofessor und Buchautor (Anke Jacob)
    Christiane Florin: Herr Cremer, einer der ersten Sätze, die Kinder sagen, lautet: "Das ist ungerecht." Was war für Sie als Kind ungerecht?
    Georg Cremer: Ungerecht war, wenn irgendwas nicht gleich verteilt war. Ich hatte drei ältere Brüder, ich fand es ungerecht, dass ich weniger Rechte hatte als meine älteren Brüder und früher ins Bett musste. Aber an schlimmere Dinge erinnere ich mich nicht.
    Florin: Was finden Sie heute ungerecht in Deutschland?
    Cremer: Gerechtigkeit ist eine mehrdimensionale Geschichte. Ich finde vieles, was in Deutschland wirklich sehr gut ist. Ich finde es besonders herausfordernd oder ungerecht, wenn wir deutlich unter unseren Möglichkeiten bleiben, Menschen dabei zu unterstützen, ihre Potenziale zu entfalten. Also den weiterhin engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg empfinde ich als ungerecht. Die Tatsache, dass der Schulerfolg auch vom Wohnort abhängt, weil die befähigende Qualität des Bildungssystems regional sehr starke Unterschiede aufweist.
    Florin: Wo ist das Bildungssystem gut, wo ist es schlecht?
    Cremer: Wir haben als Caritas untersuchen lassen, wie hoch der Anteil der Kinder ist, die in der Schule scheitern. Wir sehen da extreme Unterschiede zwischen Kreisen, wo vielleicht jedes 50. Kind in der Schule scheitert und Kreisen, wo jedes achte, jedes neunte Kind in der Schule scheitert, keinen Hauptschulabschluss bekommt. Das zeigt einfach massive Defizite vor Ort auf, dass wir unsere Potenziale nicht nutzen, Kinder zu befähigen. Das finde ich die größte Herausforderung derzeit für den Sozialstaat in Deutschland.
    "Den gesunden Menschenverstand auch bei der Debatte zum Sozialstaat anschalten"
    Florin: Sie haben in einem Zeitungsartikel für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die "empiriefreie Empörung" beim Thema soziale Gerechtigkeit beklagt. Wer empört sich da über wen empiriefrei?
    Cremer: Ich finde, dass die Sozialstaatsdebatte oder die Debatte zum Sozialstaat in extremen Lagern geführt wird. Das ist zum einen eine übersteigerte Empörung über den Sozialabbau in Deutschland, der nicht stattgefunden hat. Also massive Klagen, die dann letztlich zu einer folgenlosen Empörung führen und nicht die Debatte konzentrieren auf die Frage, was wir ganz konkret an Schritten zur Armutsprävention tun können. Dann gibt es natürlich das andere Lager, was diesen Sozialstaat für aufgeblasen hält, für einen Widerspruch zur Freiheit und empiriefrei behauptet, der Sozialstaat sei am Ideal der Gleichheit orientiert usw. Diese Debatte in Lagern hilft uns nicht weiter.
    Florin: Sollte sich zum Thema Gerechtigkeit nur äußern, wer Statistik studiert hat?
    Cremer: Nein, natürlich nicht. Man muss nicht Statistik studiert haben. Aber man sollte den gesunden Menschenverstand auch bei der Debatte zum Sozialstaat anschalten. Beispielsweise sprechen wir über Armut und Armutsrisiko und wir messen dies an der Armutsrisikoquote. Das ist der Anteil der Menschen, die weniger als 917,00 Euro pro Monat zur Verfügung haben. Das ist statistisch völlig okay. Aber dann müssen wir auch darüber nachdenken, ob denn wirklich Studierende und Auszubildende, die temporär mit wenig Geld auskommen, dann ja wirklich ein soziales Problem sind.
    Florin: Sie sagen also, die Zahl ist zu hoch, wenn man das so bemisst?
    Cremer: Ich sage, die Zahl ist ein Armutsrisiko und man muss dann gucken, wer arm ist oder ein soziales Problem hat und wo unsere Risikogruppen sind. Unsere Risikogruppen sind nicht die Studierenden, sind nicht die Auszubildenden. Unsere Risiken sind die Langzeitarbeitslosen und unsere Risiken sind die Menschen, die aufgrund durchbrochener Berufsbiographien in die Altersarmut hinein schlittern werden. Unsere Risiken sind auch Arme oder Niedrigeinkommensbezieher im städtischen Bereich, die aufgrund hoher Mieten eben ein besonderes Risiko haben. Und wenn wir die Debatte so führen, dann fokussieren wir sie eben auch auf den Handlungsbedarf. Zum Beispiel auf den sozialen Wohnungsbau, zum Beispiel auf eine Arbeitsmarktpolitik, die nicht kapituliert vor der verfestigten Sockelarbeitslosigkeit oder auf ein Bildungssystem, das eben besser wird und den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg lockerer macht.
    "Politischer Wille ist die entscheidende Ressource"
    Florin: Ich greife das jetzt noch einmal auf, weil Sie es schon zweimal erwähnt haben: den Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft, also den sogenannten bildungsfernen Schichten, und dem schulischen Erfolg. Seit Jahren wird mantramäßig wiederholt, dass in keinem europäischen Land dieser Zusammenhang so deutlich erkennbar ist wie in Deutschland. Warum geschieht so wenig?
    Cremer: Also zum einen würde ich sagen, auch andere Länder haben dieses Problem. Wir haben auch eine leichte Tendenz in Deutschland, immer zu sagen: "Wir haben dieses Problem in besonderer Weise." So als wären wir Verelendungsweltmeister. Wir haben dieses Problem. Nach dem PISA-Schock ist aber massiv investiert worden oder ist zumindest sehr viel gemacht worden, die Leseschwäche von Schülern zu überwinden. Also die Lesewerte in der PISA-Untersuchung sind deutlich besser, aber letztlich ist es ein Konflikt um Ressourcen und man müsste die personelle Ausstattung, Klassengrößen usw. gerade spezifisch in Brennpunkt-Schulen oder in Schulen in sozial abgehängten Wohngebieten deutlich verbessern. Aber das würde auf den erheblichen Protest der bürgerlichen Mitte stoßen, davon bin ich überzeugt.
    Florin: Wer ist "man" in diesem Zusammenhang? Wer müsste was machen?
    Cremer: Die Schulpolitik der Länder und die ergänzende Schulpolitik der Kommunen. Und die großen regionalen Unterschiede in den Erfolgs- oder Misserfolgsquoten zwischen den Kreisen zeigt ja auch, dass man handeln kann und dass politischer Wille die entscheidende Ressource ist.
    Florin: Mangelt es an politischem Willen?
    Cremer: Ach Gott. So allgemein kann man das natürlich auch nicht sagen. Aber eine Armutsdebatte oder eine Debatte zur Armutsprävention, die eben wegginge von dem rituellen Starren auf die statistischen Daten und hinginge zu diesen konkreten Problemen, die ich benannt habe, würde auch vor Ort mehr an Lösungsorientierung hervorbringen und vielleicht auch den politischen Willen stärken.
    Florin: Sehen Sie denn eine Partei, die sich Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hat? Die dafür kämpft?
    "Wer keine Ausbildung hat, hat ein extrem erhöhtes Armutsrisiko"
    Cremer: Eigentlich schreibt sich ja jede Partei Gerechtigkeit auf die Fahnen. Nur ist natürlich Gerechtigkeit ein sehr abstraktes Wort. Wir brauchen natürlich Umverteilung, wir haben in Deutschland ein hohes Maß an Umverteilung. Aber ich glaube, wir können durchaus – jedenfalls so die Forderung der Caritas – einiges noch mehr tun für Hartz IV-Empfänger, sie besser materiell absichern. Wir könnten was in der Grundsicherung im Alter tun. Dann macht man aber Politik für Randgruppen und das ist natürlich für jede Partei risikoreich, weil sie auch dann die entsprechenden Belastungen finanzieren muss.
    Florin: Kann es nicht sein, dass der politische Wille, über den wir vorhin gesprochen haben, auch deshalb nicht so ausgeprägt ist, weil abgehängte, oder Menschen, die sich abgehängt fühlen, die arm sind, selten zur Wahl gehen?
    Cremer: Das ist ein sehr zentrales Problem. Die nach sozialen Milieus extrem unterschiedliche Wahlbeteiligung wird zu einem Problem der demokratischen Repräsentativität und irgendwann auch zu einem Legitimationsproblem des demokratischen Systems. Ich habe allerdings da keine irgendwie geartete Lösung. Meine Hoffnung wäre, dass lösungsorientiertere politische Debatten vielleicht ein Stück hilfreich sein könnten. Möglicherweise kann ein politisches Interesse der nichtwählenden Milieus auch eher im lokalpolitischen Rahmen überwunden werden. Denn nicht zu wählen, stellt natürlich auch einen Faktor oder ich sage, ein Indiz der Selbstexklusion.
    Florin: Im September erscheint ein Buch von Ihnen. Wie kann ein Buch Armut bekämpfen?
    Cremer: Ja, das Buch heißt "Armut in Deutschland. Wer ist arm, was läuft schief, wie können wir handeln?" Und ich versuche einerseits, das Phänomen Armut in Deutschland zu beschreiben, auch zu verteidigen, dass wir Armut relativ an den Lebensmöglichkeiten der Mitte in Deutschland messen, aber eben auf konkrete Schritte der Armutsbekämpfung einzugehen, sowohl was die Umverteilung angeht, als auch was befähigende Ansätze angeht. Natürlich kann ein Buch Armut nicht bekämpfen, aber eine politische Debatte, zu denen dieses Buch beitragen soll, kann hoffentlich Wirkung entfalten.
    Florin: Was läuft schief an der Debatte?
    Cremer: An der Debatte läuft schief, dass, wenn wir den Sozialstaat verbessern - und das haben wir ja in manchen Bereichen getan, denken Sie an die Grundsicherung im Alter - das gleichzeitig diskutiert wird als ein Anstieg der Altersarmut, weil die Zahl der Empfänger zugenommen hat. Die Zahl der Empfänger hat aber zugenommen, weil das Hilfesystem an dieser Stelle deutlich verbessert wurde. Das ist ein Beispiel, wo die Debatte schief läuft. Aber die Frage ist eher, was läuft schief, dass wir Armut nicht stärker präventiv bekämpfen, als uns das heute gelingt?
    Und dann würde ich schon sagen, das eine ist noch mal dieser Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildung. Wer keine Ausbildung hat, hat ein extrem erhöhtes Armutsrisiko und ein Element, wo es schief läuft, ist, dass Menschen, die im Niedrigeinkommensbereich sind, gar nicht für ihr Alter vorsorgen können, weil alles, was sie ansparen, ihnen dann später, wenn sie dennoch auf ergänzende Grundsicherung angewiesen sind, wieder bei der Berechnung der Grundsicherung abgenommen sind. Sie sind also die Dummen, die gespart haben, aber trotzdem davon nichts haben.
    Cremer: Konkurrenz der Armen verhindern
    Florin: Gibt es eine Konkurrenz der Armen um Wohnraum, um Jobs, um Chancen? Manche Parteien, nicht nur die AfD versuchen das ja zu suggerieren.
    Cremer: Wenn es eine Konkurrenz gibt, dann muss man natürlich sagen, trifft diese Konkurrenz eher die Menschen unten. Es sind die Menschen, die angewiesen sind auf billigen Wohnraum oder günstigen Wohnraum, die in Konkurrenz zu Flüchtlingen stehen oder die einen Job im Niedriglohnsektor oder im Bereich der geringer qualifizierten Arbeit brauchen. Also müssen wir alles tun, um eine solche Konkurrenzu zu verhindern. Und die Situation der Aufnahme von Flüchtlingen zeigt auch, dass wir in bestimmten Bereichen notwendige politische Schritte versäumt haben. Der soziale Wohnungsbau lag darnieder und der Anstieg der Mieten in den Ballungsräumen haben wir ja nicht, erst seit die Flüchtlinge zu uns kamen.
    Florin: Der Philosoph Peter Sloterdijk hat vor Jahren einmal einen "Semi-Sozialismus" beklagt in Deutschland und der Medienwissenschaftler Norbert Bolz die "Despotie der Betreuer". Damit wurde der Sozialstaat verächtlich gemacht. Kann es sein, dass Sozialpolitik, auch weil Intellektuelle sich in dieser Weise äußern, eine gewisse Zeitlang nicht schick war?
    Cremer: Es wurde ein Gegensatz konstruiert von Sozialpolitik und Freiheit. Und diesen Gegensatz halte ich für völlig abwegig. Natürlich wird der Sozialstaat über Steuern und wenn Sie so wollen, damit über Zwang finanziert. Aber zu diesem Zwang haben wir uns immer in Wahlen bekannt. Sozialstaat stützt Freiheit, wenn er Menschen Ressourcen gibt, damit sie angemessen leben können. Und wir sehen das ja in den USA, wenn Ihre Krankenversicherung an den Arbeitgeber gebunden ist, dann verlieren Sie als chronisch Kranker zwei sehr zentrale bürgerliche Rechte. Sie können nämlich nicht den Arbeitgeber so einfach wechseln und Sie können auch nicht den Wohnort wechseln, weil der an Ihren Arbeitsplatz gebunden ist.
    Das heißt eine vernünftige sozialstaatliche Sicherung stützt Freiheit und insofern finde ich diesen Diskurs von rechts Sozialpolitik als Gefährdung der Freiheit völlig absurd. Meines Erachtens ist auch der Vorwurf absurd, der Sozialstaat in Deutschland wäre radikal am Bild der Gleichheit orientiert. Man muss nur mit Hartz IV-Empfängern reden, um zu wissen, dass das Unfug ist.
    Florin: Wie oft reden Sie mit Hartz IV-Empfängern?
    Cremer: Ich gehe relativ häufig in Beratungsstellen der Caritas und spreche dort auch mit Leuten, die sich dort beraten lassen. Und ich bin in engem Kontakt mit den Sozialarbeitern oder mit Aktiven der Caritas, so dass ich hoffe, etwas von ihrer Lebenssituation mitzubekommen.
    "Verlogen wird es dann, wenn die Selbstverantwortung betont wird"
    Florin: Wenn ich jogge, dann sehe ich viele mit Fitnessarmbändern. Manche machen sogar ihre Werte dann auf Facebook öffentlich. "Seht her, so gesund verhalte ich mich", soll uns das wohl sagen. Die Kehrseite: Wer krank ist, der gilt als selbst schuld und wer alt ist, der hat eben zu wenig Anti-Aging betrieben und wer arm ist, der hat eben zu wenig an sich gearbeitet. Sehen Sie so eine Selbst-Schuld-Mentalität auch?
    Cremer: Auch da finde ich, muss man aufpassen, dass man nicht in unproduktiven Lagern debattiert. Es gibt einen Selbstverantwortungsdiskurs, der überzogen ist und so tut, als seien soziale Notlagen selbst verschuldet. Und gerade, weil das so ist, gibt es auf der anderen Seite aber Menschen, die jedes Mal, wenn das Wort Selbstverantwortung fällt, sofort ihre Nackenhaare steil stellen. Der Befähigungsansatz von Amartya Sen, mit dem wir uns ja stark orientieren, betont, dass Menschen Fähigkeiten entfalten müssen. Und ich finde das keinen neoliberalen Diskurs.
    Verlogen wird es aber dann, wenn die Selbstverantwortung betont wird und wenn Leute in Sonntagspredigen die Selbstverantwortung hochpreisen und werktags aber zum Beispiel den Ausbau der Schulsozialarbeit blockieren. Wer von selbst Verantwortung oder Eigenverantwortung spricht, muss sich auch der Frage stellen, wie Menschen in die Lage kommen, überhaupt ihr Leben in die Hand nehmen zu können.
    Florin: Die Worte Chancengerechtigkeit und Teilhabegerechtigkeit kannte ich natürlich, aber Befähigungsgerechtigkeit – habe ich in Ihren Texten gelesen – dieses Wort war mir neu. Was meint das genau?
    Cremer: Es ist eine Erweiterung des Gerechtigkeitsdiskurses. Und es geht ja letztlich um ein gelingendes Leben. Und um ein gelingendes Leben führen zu können, brauchen Menschen Fähigkeiten. Und diese Fähigkeiten müssen sie entwickeln. Und wer eben in einem gefestigten, stabilen, bürgerlichen Milieu aufwächst und sich einbildet, alles, was er dann im Leben erreicht hat, ist Ergebnis seiner Anstrengung und seiner eigenen Fähigkeiten, verkennt natürlich, wie viel er mitbekommen hat. Und ein Bildungssystem, übrigens auch zivilgesellschaftliches Engagement, kann eben diesen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Lebenschancen deutlich lockern.
    Florin: Und wer soll das bezahlen?
    Cremer: Zum einen glaube ich, dass wir Ressourcen haben in diesem Sozialstaat, die wir besser nutzen können. Wir versuchen gerade als Caritas in den katholischen Geburtskliniken ein Netz früher Hilfen aufzubauen, wo Sozialarbeiterinnen zu den Familien oder den alleinerziehenden Müttern Kontakt aufnehmen, um sie auch zu ermutigen, Hilfe in Anspruch zu nehmen später, wenn das notwendig ist. Das sind im Prinzip minimale Kosten. Und sicherlich wird man an der einen oder anderen Stelle auch mehr investieren müssen, dann kommt man natürlich in die Konflikte einer Steuerfinanzierung, die unvermeidbar sind.
    Abstiegsängste: "Die Mitte ist panischer, als sie sein müsste"
    Florin: Wenn mehr zu zahlen wäre, wer soll das zahlen, die Mittelschicht oder die sehr Vermögenden?
    Cremer: Das Problem ist einfach, dass die ganz sehr Vermögenden zum Teil Möglichkeiten haben, sich der Steuerbelastung zu entziehen oder die Gruppe auch vergleichsweise klein ist. Und es ist eine sehr kluge Abschätzung der Heinrich-Böll-Stiftung, dass man mit den verschiedenen Instrumenten vielleicht 20 bis 40 Milliarden Euro mehr einnehmen könnte. Ich halte die untere Zahl für realistischer als die obere Zahl. 20 Milliarden für Befähigung wäre natürlich sehr viel Geld. Aber wir geben jetzt schon im staatlichen System einschließlich der Sozialversicherungssysteme 1.200 Milliarden aus, das heißt wir beamen uns nicht in ganz andere Dimensionen.
    Wir müssen also auch gucken, wie wir die Systeme wirksamer machen und sicherlich wird man auch einiges umverteilen müssen für Randgruppen, die natürlich weniger politische Durchsetzungschancen haben als die Mitte selbst. Aber eine große Ausdehnung des staatlichen Sektors ginge zu Lasten der Mitte und nicht allein zu Lasten der Reichen und niemand der Mitte hält sich ja für reich, sondern die Grenze zum Reichtum beginnt ja immer oberhalb des eigenen Einkommens.
    Florin: Es ist viel von Abstiegsängsten in der Mitte die Rede. Es gibt dazu Bücher, von Heinz Bude zum Beispiel, eines heißt "Bildungspanik". Halten Sie diese Abstiegsängste erstens für vorhanden und zweitens für berechtigt?
    Cremer: Ich glaube, dass die Mitte panischer ist, als sie sein müsste. Ganz prägend ist die Sorge, ob die Kinder die eigene Stellung halten können. Ich glaube, dass ein Teil dieser Panik auch damit zusammenhängt, dass wir nicht mehr in dieser Phase sind des Fahrstuhleffekts der Nachkriegsdekaden, wo es allen besser ging, sondern dass wir jetzt in einer Gesellschaft mit relativ niedrigen Wachstumsraten sind und wir keine Vision für eine solche Post-Wachstumsgesellschaft haben.
    Wenn man sieht, wie stark es doch der Mitte gelingt, den Status an ihre eigenen Kinder weiterzugeben, könnte die Mitte gelassener sein. Natürlich gibt es auch prekäre Situationen in der Mitte, auch bei gut qualifizierten Leuten, wenn sie sich beispielsweise für den Kulturbereich entschieden haben, aber das Gros der Mitte ist weit besser gesichert, als es der öffentlichen Wahrnehmung entspricht.
    Florin: Nun sind Sie Caritas-Generalsekretär, die Caritas ist der größte Arbeitgeber in Deutschland und gehört zur katholischen Kirche. Bedeuten nicht weniger Arme, also eine wirksamere Armutsbekämpfung, auch weniger Aufträge für die Caritas?
    Cremer: Nein. Sie können die Frage natürlich jedem Zahnarzt stellen. Würden putzende Zähne der Bürger nicht das Geschäft kaputt machen? Die Caritas arbeitet für Kinder, für Jugendliche, sie betreut Alte, wir gucken mit Sorge, wie wir in der Zukunft genügend Personal für diese ganzen Aufgaben im demographischen Wandel gewinnen. Also wir brauchen nicht Elend, damit unser Geschäftsmodell erhalten bleibt.
    "Wir kommen in Teilen auch an personelle Grenzen unserer Hilfsbereitschaft"
    Florin: Ihnen fehlt eher Personal als Geld? Geld haben Sie genug?
    Cremer: Geld hat man natürlich nie genug. Aber ich würde schon sagen, dass sich das Gefühl bezüglich des Fachkräftemangels deutlich verändert hat. Als ich 2000 anfing, war die Haltung doch: "Wir kriegen jede Stelle besetzt, die wir finanzieren können." Das ist heute vorbei. Wir haben in Bereichen, gerade in der Altenpflege oder jetzt auch bei der Betreuung von Flüchtlingen, erhebliche Schwierigkeiten, qualifiziertes Personal zu gewinnen. Das heißt wir kommen in Teilen auch an personelle Grenzen unserer Hilfsbereitschaft und das zeigt ja auch noch mal, wie zentral Befähigung ist, denn der Worst Case unseres Sozialstaats wäre doch eine Situation, wo uns einerseits die qualifizierten Arbeitskräfte ausgehen und wir andererseits aber Menschen unterstützen müssen, weil ihre Befähigung, ihre Bildung, ihre Ausbildung verpasst wurde.
    Florin: Woran liegt das, dass Sie keine Leute finden? An der allgemeinen demographischen Entwicklung oder am nicht so attraktiven Image der Kirche?
    Cremer: Die Kirche muss an ihrem Image arbeiten, auch gerade, was das kirchliche Arbeitsrecht angeht. Aber andere Wohlfahrtsverbände haben es (das Problem) auch, es ist kein kirchliches Phänomen. Es hat natürlich was zu tun mit den teilweise schwierigeren Arbeitsbedingungen, aber man muss natürlich auch daran arbeiten, die Attraktivität der Sozialberufe zu erhalten und auch dafür einzutreten, dass sie von der Vergütung her nicht hinter der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung abhängen. Und das hat die Konkurrenz mit privatgewerblichen Anbietern, dieses Ziel ist erschwert worden.
    Florin: Bezahlt die Caritas gerecht?
    Cremer: Die Caritas zahlt im Vergleich zu anderen Anbietern gut. Wir brauchen uns nicht zu verstecken gegenüber Tarifen, die zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden erkämpft wurden. Insofern würde ich sagen, grundsätzlich ja, zahlt die Caritas gerecht.
    Florin: Sie haben in den 80er Jahren eine Zeitlang in Indonesien gelebt. Kommen Ihnen da die Probleme in Deutschland wie Luxus-Probleme vor?
    Cremer: Nein, aber ich habe durch meine Zeit in Indonesien einen anderen Blick auf Deutschland bekommen. Ich war hyperkritisch mit den deutschen Verhältnissen, als ich nach Indonesien ging und ich habe diesen gefestigten Rechtsstaat und diesen Sozialstaat auch aus dem Blick der Verhältnisse eines diktatorischen Landes ohne soziale Sicherung schätzen und lieben gelernt. Aber die Probleme sind unsere Probleme, die wir angehen müssen. Ich bin allerdings sehr sensibel, wenn quasi relative Armut bei uns und absolute Armut in einen Topf gerührt werden und dort unbillige Vergleiche gezogen werden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Im September erscheint:
    Georg Cremer: "Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?"
    CH Beck Verlag. 272 Seiten, 16,95 Euro.