Donnerstag, 28. März 2024

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Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz
"1918. Die Deutschen zwischen Weltkrieg und Revolution"

1918 endete der Erste Weltkrieg für die Deutschen mit einer schweren Niederlage. Die Monarchie war am Ende. Die erste aus demokratischen Kräften zusammengesetzte Regierung Deutschlands musste das Versagen der alten, konservativen Eliten ausbügeln.

Von Wolfgang Stenke | 18.06.2018
    Buchcover / Hintergrund: Demonstrierende Matrosen in Kiel beim Ausbruch der Revolution im November 1918
    Buchcover "1918. Die Deutschen zwischen Weltkrieg und Revoution" (Buchcover Ch.Links Verlag/ Hintergrund AP)
    "Arbeiter und Soldaten! Furchtbar waren die vier Kriegsjahre. Grauenhaft waren die Opfer, die das Volk an Gut und Blut hat bringen müssen. Der unglückselige Krieg ist zu Ende, das Morden ist vorbei! […] Die Niederlage, die wir unter allen Umständen verhüten wollten, ist uns nicht erspart geblieben."
    Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Philipp Scheidemann. Am 9. November 1918 rief er nach der Abdankung des Kaisers von einem Balkon des Reichstages* die "Deutsche Republik" aus:
    "Alles für das Volk, alles durch das Volk! Nichts darf geschehen, das der Arbeiterbewegung zur Unehre gereicht. Seid einig, treu und pflichtbewusst! Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen! Es lebe das Neue, es lebe die Republik."
    Eine Welt fiel in Trümmer
    Für Harry Graf Kessler - Diplomat, Schriftsteller und Kunstsammler - fiel in diesen Tagen eine Welt in Trümmer. Obwohl er ein mondäner Freigeist war und zu linken Sozialdemokraten Kontakt hielt, schrieb er am 31. Dezember in sein Tagebuch:
    "1918 wird wohl ewig die schrecklichste Jahreszahl der deutschen Geschichte bleiben."
    Aus heutiger Perspektive eindeutig ein Fehlurteil, denn aus der Hinterlassenschaft des Ersten entstand der noch viel blutigere Zweite Weltkrieg. Doch das Verdikt zeigt, wie sehr die Niederlage, der Sturz der Monarchie, die harten Waffenstillstandsbedingungen und die Revolution die Zeitgenossen bedrückten. Dass 1918 auch den Beginn der ersten deutschen Demokratie markiert, zählte für einen großen Teil der verunsicherten Bürger nicht.
    Scheidemanns historische Rede und Kesslers Impressionen aus dem Epochenjahr finden sich in einem überaus lesenswerten Textbuch:
    "1918. Die Deutschen zwischen Weltkrieg und Revolution."
    Herausgegeben haben es Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz - ein Historikerteam, das sich bereits mit mehreren Standardwerken zu diesem Themenkreis hervorgetan hat - u.a. mit der umfassenden "Enzyklopädie Erster Weltkrieg". Ihr neues Buch kombiniert historische Zeugnisse - Briefe, Tagebuchnotizen, Auszüge aus Reden, zeitgenössische Fotos und Propagandamaterial - mit der Chronologie der Ereignisse des Jahres 1918.
    Essayistisch angelegte Überblicke, gut geschrieben und stets auf dem Stand der Forschung, ordnen dieses Material in die historischen Zusammenhänge ein. Besonderen Wert legt das Autorenteam auf die alltagsgeschichtliche Dimension: auf die Nöte der Angehörigen an der "Heimatfront" und das Erleben der Soldaten in Schützengräben und Lazaretten. Und so schreibt z.B. der Feldpostsekretär Paul Kessler im April 1918 von der Front an der Somme an seine Frau im badischen Lahr:
    "Mein liebes Herz! [...] Das Gelände, durch das wir nun schon seit Tagen marschieren, ist furchtbar zugerichtet [...]. Ein Trichterfeld, soweit das Auge reicht, dazwischen unzählige weiße Kreuze [...]. Massenhaft liegen noch englische Leichen herum. Ein Bild des Grauens überall."
    Ein Bericht aus den Tagen der deutschen Frühjahrsoffensive im Westen. Zu der Zeit rechneten Politiker und Militärs sich noch Siegeschancen aus: Nach dem Sturz des Zarenregimes mussten die russischen Revolutionäre die harten Waffenstillstandsbedingungen der Deutschen akzeptieren.
    Bis zuletzt - Hoffnung auf den Sieg
    In Frankreich drangen die deutschen Armeen unter Mobilisierung der letzten Kräfte erneut vor. Doch wenig später ging es wieder zurück. Die Vereinigten Staaten schickten den britischen und französischen Alliierten frische Truppen und nahezu unerschöpfliches Material. Die Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff musste ihre Niederlage eingestehen. Die Verantwortung schob sie den Politikern in der Heimat zu. Von jahrelanger Siegespropaganda beeinflusst, waren nur wenige Deutsche bereit, die bittere Realität zur Kenntnis zu nehmen. So wie der Landwirt Wilhelm Fahlbusch aus einem Dorf bei Seesen im Harz. - Brief vom Oktober 1918 an den Sohn Otto, Sanitätsgefreiter an der Westfront:
    "Nachdem der Karren sehr, sehr tief im Dreck steckt, werden jetzt die Sozialdemokraten davor gespannt, um ihn wieder heraus zu ziehen. [...] Was haben wir denn nun von unserer gewaltigen militärischen Macht und Rüstung vor dem Kriege gehabt? Nur, dass wir die ganze Welt gegen uns herausgefordert haben [...]."
    Der Briefschreiber hat klar erkannt, dass das Versagen der konservativen Eliten des Kaiserreichs von der demokratischen Opposition ausgebügelt werden musste. Der Friedensschluss, die Demobilisierung von Millionen von Soldaten und die Versorgung der Bevölkerung stellten die republikanischen Kräfte vor gewaltige Herausforderungen. Im Interesse der inneren Sicherheit wollte der neue Reichskanzler Ebert auf die ultrakonservativen Fachleute in Verwaltung, Polizei und Militär nicht verzichten. Der Riss, der schon im Kriege den linken Flügel vom Zentrum der deutschen Arbeiterbewegung trennte, wurde dadurch weiter vertieft. Über diese folgenschwere Spaltung, die Ende 1918 zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands führte, hätte man im vorliegenden Buch gerne mehr erfahren. Das vielfältige Bild der "Deutschen zwischen Weltkrieg und Revolution", das die Herausgeber durch die kluge Zusammenstellung dieses Sammelbandes geschaffen haben, wäre dann noch um eine Facette reicher.
    (* Korrektur durch Redaktion: Ursrünglich war vom Balkon des Berliner Stadtschlosses die Rede, das war nicht korrekt.)
    Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.): "1918. Die Deutschen zwischen Weltkrieg und Revolution",
    Ch. Links Verlag, 312 Seiten, 25 Euro.