Dienstag, 23. April 2024

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Gerichtsberichte 1967-1969
RAF-Kaufhausbrand, Vergewaltigung und Mordprozesse

Verbrechen werden zwar nicht verharmlost, aber Uwe Nettelbach ergreift in seinen Prozessberichten meist Partei für die Angeklagten und gegen die Staatsanwaltschaft. Seine Berichte aus drei Jahren seien Sozialreportagen der 1960er-Jahre, meint unser Rezensent.

Von Mathias Schnitzler | 03.08.2015
    Schadensbegutachtung nach dem Anschlag des Frankfurter "Kaufhof", der von späteren RAF-Terroristen verübt wurde.
    Schadensbegutachtung nach dem Anschlag des Frankfurter "Kaufhof", der von späteren RAF-Terroristen verübt wurde. (dpa/picture alliance/Roland Witschel)
    Anfang der 1960er-Jahre beleuchtet der brillante Filmkritiker Uwe Nettelbeck die dramaturgische Raffinesse in Sam Peckinpahs frühen Spätwestern, während das deutsche Publikum Schlange für Karl-May-Filme steht. Im Feuilleton der "Zeit" schreibt der Verächter feuilletonistischen Dünkels über Popkultur, als Pop in der Bundesrepublik noch das Gegenteil von Kultur ist, auch für die meisten seiner Redakteurskollegen. Nettelbeck plädiert in messerscharf reflektierten Texten für die ganze künstlerische und gesellschaftliche Freiheit – nicht für die mit Netz und doppeltem Boden.
    Dieser eigenwillige Journalist kommt 1967 auf die Idee, Gerichtsreporter zu werden. Über zwei Jahre entstehen elf Berichte, die in der Wochenzeitung "Die Zeit" erscheinen. Nettelbecks Texte über den "Kindsmordprozess" gegen Ursula Kablau, den von der Boulevardpresse als Ungeheuer vorgeführten pädo-sexuellen Serienmörder Jürgen Bartsch oder das Verfahren gegen die Kaufhausbrandstifter Baader und Ensslin gehören zu den – seinerzeit heftig umstrittenen – Glanzstücken des deutschen Journalismus nach 1945. Fast 50 Jahre später liest man die Beiträge immer noch mit Faszination und Gewinn.
    Bereits das Ende des ersten Textes über einen wegen Doppelmordes verurteilten Malergesellen zeigt, mit welcher Motivation Nettelbeck schreibt:
    Bruch mit journalistischen Regeln
    "Das Strafgesetz ist nicht für einen, sondern für alle da. Nur trifft es eben immer einen Menschen, der keinem anderen gleicht, und richtet es stets über einen Fall, der ohne Beispiel ist."
    Nettelbeck bricht von Anfang an mit journalistischen Regeln. Ausgewogenheit und Objektivität sind seine Sache nicht. Ohne die Verbrechen zu verharmlosen oder die Würde der Opfer zu verletzen, ergreift er Partei gegen die Staatsgewalt und für die meisten Angeklagten. Diese seien bereits in ihrer Kindheit Geschädigte gewesen, Verurteilte, und würden nun, vor Gericht, dafür noch einmal bestraft: Heimkinder, missbrauchte Jugendliche, Milieugeschädigte. Sein Bericht über eine junge Frau, die ihre Nebenbuhlerin erschoss, beginnt wie folgt:
    Stücke gleichen scharfsinnigen Sozialreportagen
    "Im Jahr 1957 verließ das damals 16-jährige Mädchen Gisela Kreutzmann die Stadt Halle und die DDR, seine nur doppelt so alte Mutter und den 29-jährigen Stiefvater, der das Mädchen, das die Schwester seiner Frau hätte sein können, der Mutter vorzog, wenn er getrunken hatte."
    Wer wissen will, wie es in Deutschlands Mietwohnungen und Einfamilienhäusern zuging, bevor die heute oft gescholtenen 68er auf die Straße gingen, muss Nettelbecks Prozessberichte lesen, die immer auch scharfsinnige Sozialreportagen sind. Da viele der zwischen 1967 und 1969 verhandelten Fälle einen Vorlauf von mehreren Jahren haben, entwirft Nettelbeck so das Bild einer Gesellschaft, die Mitte bis Ende der 60er-Jahre immer noch extrem autoritätsfixiert ist, ledige oder geschiedene Frauen für verrucht und Sexualität für etwas Schmutziges hält.
    Viele der Richter oder Staatsanwälte, die Nettelbeck neben den Beschuldigten porträtiert, haben schon im Dritten Reich gedient. Da bezeichnet ein Amtsgerichtsdirektor den Angeklagten als "nach Herkunft und Veranlagung minderwertig", während ein psychiatrischer Gutachter davon spricht, jemanden wie den Täter hätte es "in einem machtstaatlichen Gebilde" nicht gegeben.
    Keiner wird von Kritik ausgenommen
    Mit jedem neuen Prozess wird Nettelbeck radikaler. Einerseits in der Darstellung, wenn seine verschachtelten Sätze ausufern oder er Zeugenaussagen zu Montagen formt, die auf seine späteren literarischen Arbeiten vorausweisen. Andererseits erprobt der Autor, wie weit ein Journalist im demokratischen Deutschland gehen kann, bis seine freie Berichterstattung gekappt wird.
    Nettelbeck provoziert, indem er Richter lächerlich macht, geltende Gesetze kritisiert, gegen die herrschende Ordnung anschreibt – in der bürgerlichen Presse, die Teil dieser Ordnung ist. Dabei spielt er förmlich mit der Erwartung, als Redakteur gekündigt zu werden. Später wird Nettelbeck den von ihm sogenannten "Verkaufsjournalismus" generell ablehnen, der von Anzeigenerlösen lebt. In der "Zeit" macht Nettelbeck dennoch keine Zugeständnisse und ist glaubwürdig, weil er trotz abhängiger Beschäftigung unabhängig schreibt und niemanden von seiner Kritik ausnimmt.
    Die Brandstifter von Frankfurt und späteren RAF-Gründer ermahnt Nettelbeck, ironisch und doch in kluger Vorahnung, wegen vorsätzlicher Menschengefährdung. Nicht weil Kaufhausbesucher beim nächtlichen Feuer in Gefahr gewesen seien, sondern die Brandstifter selbst. Man hätte in Kauf genommen, drei Jahre im Zuchthaus zu verbringen und kein Zweck heilige das Mittel der Gefährdung eines Menschen. Zudem gebe es Gesetze, deren Übertretung politisch wirksamer sei.
    Kündigung durch "Die Zeit" kommt Nettelbach zuvor
    Seinen Bericht über den Prozess eines Studenten, der sich gegen prügelnde Polizisten wehrte, schließt Nettelbeck mit folgender Überlegung:
    "Verhandlungen, in denen namenlose Demonstranten zu ein paar Monaten Gefängnis verurteilt werden, sind für die Presse nicht interessant, es sei denn, sie lassen handfeste Störungen erwarten; die Störung einer solchen Verhandlung ist darum weder sinnlos noch bloß ungezogen, sie ist ein Ohnmächtiges, aber im Augenblick das einzige Mittel, der politischen Isolation und Kriminalisierung dieser Angeklagten, dem Unrecht entgegenzutreten, das an ihnen vollstreckt werden soll."
    Diese Worte, die laut Nettelbeck "nur noch zufällig" am 7. Februar 1969 erscheinen, werden die letzten in Nettelbecks kurzer, doch eindrucksvoller Karriere als Gerichtsreporter sein. Der Kündigung durch "Die Zeit" kommt er zuvor und stellt seine Mitarbeit ein. Über seine Auseinandersetzung mit dem damals stellvertretenden Chefredakteur Theo Sommer, dem er ein enges Verhältnis zu Macht und Politik vorhält, berichtet Nettelbeck in der linken Zeitschrift "konkret", deren Herausgeber ihn bald wieder entlässt. Dann ist seine Karriere als Journalist vorerst beendet. Von nun an wird sich Nettelbeck hoch spannenden musikalischen, schriftstellerischen und editorischen Projekten widmen.
    Uwe Nettelbeck:
    Prozesse. Gerichtsberichte 1967-1969.
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 189 Seiten, 19,95 Euro.