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Gertraud Klemms Roman "Erbsenzählen"
Lustvoll misanthropische Tiraden

Annika will sich eigentlich den Schranken der neoliberalen Leistungs- und traditionellen Wertegesellschaft entziehen. Doch dann verliebt sie sich in einen Mann, der doppelt so alt ist wie sie - und sie landet in einer Falle ökonomischer und emotionaler Abhängigkeit, die sie sich selbst gestellt hat.

Von Julia Schröder | 24.08.2017
    Cover von Gertraud Klemms Roman "Erbsenzählen, vor dem Hintergrund eines Fotos, auf dem die Silhouetten von einer Frau und einem Mann zu sehen sind.
    "Österreichische Übellaunigkeit": Gertraud Klemm reflektiert das Verhältnis Frau/Mann mit "schöner Gnadenlosigkeit". (dpa/Droschl Verlag)
    Wenn du Ende zwanzig bist, und dein Freund ist Ende fünfzig, also doppelt so alt wie du, hast du ein Problem. Da sind sich alle einig. Annika, 29, die Ich-Erzählerin in Gertraud Klemms neuem Roman "Erbsenzählen", spürt das andauernd. Sie spürt das an den Blicken auf Partys, die sie, die gelernte Physiotherapeutin mit abgebrochenem Studium der Kunstgeschichte, zusammen mit dem einflussreichen Kulturredakteur Alfred, 58, besucht. Sie glaubt zu wissen, was die anderen Fußballeltern denken, wenn sie Alfreds pubertierenden Sohn zum Spiel begleitet. Und beim Abendessen mit einem befreundeten Paar bekommt sie es irgendwann ins Gesicht gesagt.
    "Jetzt reden sie sich wieder warm, über eine junge Nachwuchsautorin, die dieses Jahr sogar einen hochdotierten Literaturpreis gewonnen hat, sie sind sich nicht einig, schmalzig sei diese Sprache, ekelt sich Alfred, geschmeidig, korrigiert Vinzent und hebt seinen Zeigefinger (…). Ich blicke auf meine kleinen, ungepflegten Kellnerinnenhände, Kinderhände, sagt Alfred manchmal. Mich langweilt diese Diskussion, warum können sie nicht über etwas sprechen, bei dem wir, Eleonore und ich, mitreden können? (...)
    Was sagst du dazu, Annika, du bist ja auch aus der Generation, sagt Vinzent unvermittelt. Das ist das erste Mal, dass er mich heute derart direkt anspricht. Du bist so still. Ich bin immer still, will ich sagen, aber stattdessen sage ich: Ich finde sie schön. Das ist alles?, ruft Vinzent empört.
    Alfred sieht mich gespannt an, die Arme verschränkt, er reibt sein rechtes Ohrläppchen (…). Nein, sage ich, ich gebe wieder, was ich kann, ohne je etwas von ihr gelesen zu haben: Sie ist schön, sie ist preisgekrönt, sie schreibt über das Sterben. Ich möchte jedenfalls nicht in ihrer Haut stecken, denn es kann eigentlich nur mehr bergab gehen.
    Eleonore schnaubt, keine Ahnung, ob zustimmend oder abweisend. (…) Und wenn sie fett wäre und Ende fünfzig, fragt sie. (...)
    Kann man zu jung sein, um talentiert zu sein, bläst Alfred ein bisschen ins Feuer. (...)
    Du halt dich da raus, du kannst nicht mitreden, fährt sie ihn an, du bist ein Kollaborateur mit deiner, verzeih, Annika, jungen Puppe."
    Nein, Annika ist keine Dumme, im Gegenteil, sie reflektiert ihre eigene Rolle, so wie sie Frauenrollen in einem fort reflektiert, das Verhältnis von Frauen zu ihren Männern, ihren Kindern, ihren Müttern, denn das ist es, was Frauen tun. Frauen, jedenfalls bei Gertraud Klemm, reflektieren diese Verhältnisse nicht nur, sie definieren sich darüber, und das ist ihr Problem.
    Die Zerstörung der "Prinzessin in unseren Köpfen"
    Klemm hat ihrem Buch ein Zitat der derzeit angesagtesten feministischen Vordenkerin der westlichen Welt, Laurie Penny, vorangestellt, einen Satz über die Prinzessin in unseren Köpfen, die es zu zerstören gelte.
    Die gebürtige Wienerin Klemm, Jahrgang 1971, sieht sich in der Nachfolge von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz. Behaupte also niemand, er habe nicht wissen können, was ihn bei der Lektüre erwartet. Mit "Erbsenzählen" knüpft Klemm an die Sujets ihrer vorangegangenen drei Romane an, die allesamt die Herausforderungen und Sackgassen moderner Frauenleben mit schöner Gnadenlosigkeit beleuchteten. Klemms feministische Prosa ist allerdings nicht so Apokalypse-verliebt wie die Jelineks, und mit Streeruwitz' sprachkritischer Zertrümmerungssyntax haben ihre Sätze keine Ähnlichkeit. Dieses Erzählen zeichnet eher eine sehr österreichische Übellaunigkeit aus, eine Lust am bösen Blick, an der misanthropischen Tirade, die der Leserin je nach Disposition gallige Freude bereitet oder schmerzhaft zu nahe tritt.
    "Was ist mit dir? Du hast einen Mann, der vor dir sterben wird, den du vielleicht pflegen musst, wenn du Ende vierzig bist, hat Mutter zu Ostern gesagt, als sie jenes halbe Glas zu viel hatte. Andere beginnen in deinem Alter erwachsen zu werden, die wechseln ihren spät geborenen Babys oder ihren dementen Eltern die Windeln - und nicht ihren Lebenspartnern."
    Der "egoistische Alfred mit der Waldhonigstimme"
    Gertraud Klemms "Erbsenzählen" hält ein paar nette Pointen bereit, aber eigentlich erzählt das Buch von einer sehr traurigen Sache: Es sind eben nicht nur, wie in Klemms früheren Romanen, die von der Familienarbeit aufgezehrten Hausfrauen und Mütter, die sich in der selbstgestellten Falle ökonomischer und emotionaler Abhängigkeit wiederfinden. Nein, in solche Sackgassen können auch die sexuell aufgeschlossenen, postfeministischen, jungen Dinger geraten. Und: Wenn's ganz blöd läuft, zudem ohne die ökonomischen Segnungen einer bürgerlichen Eheschließung.
    Nicht die geringste Pointe von Klemms aktuellem Roman besteht darin, dass Annikas Mutter natürlich Recht behalten und die Sache zwischen der jungen, hübschen, klugen und stillen Annika und dem alten, egoistischen Alfred mit der Waldhonigstimme in die Grütze gehen wird, wenn auch auf etwas andere Weise, als zu erwarten gewesen wäre. Die Leserin ist vorher schon schlauer gewesen. Beziehungsweise hat sie auf subtile Weise erfahren, dass Durchblick nicht vor Schaden schützt.
    Allerdings braucht es zur entscheidenden Wendung des Romans nichts Geringeres als einen terroristischen Anschlag mitten in Wien, und das ist eine Plattheit, die Gertraud Klemms "Erbsenzählen" nicht nötig gehabt haben sollte.
    Gertraud Klemm: "Erbsenzählen"
    Droschl Verlag, Graz, 160 Seiten, 19 Euro