Donnerstag, 25. April 2024

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Gesammelte Werke und ausgewählte Briefe

Band 1: Nach Mitternacht. Lyrik. 380 Seiten

Alexander von Bormann | 09.03.1999
    Band 2: Brief aus dem Packeis. Prosa und Briefe. 438 Seiten

    Band 3: Dreizehn Meter über der Strasse. Dokumente zu Leben und Werk. 419 Seiten

    Alexander Xaver Gwerder ist für uns ein etwas verschollener Dichter. Er spielte in den frühen fünfziger Jahren eine gewisse Rolle, aus seiner Gedichtsammlung "Blauer Eisenhut" (1951) wurde gern zitiert. So ist er in viele Anthologien gelangt. Seine Signatur sind Naturbilder, die leicht übersetzbar waren: in Seelenzustände, Haltungen, Erfahrungen, und zumeist gibt es eine kleine kritische Pointe. Ein beliebiges Beispiel:

    Sommerregen - Oh, Grau im Grün mit dem man Wiese und Wald vergisst: Heimatlos irrt alles lichte Bemühn um jedweden Glanz, der doch keiner ist.

    Das sind gekonnte, schöne Verse: gefällig fallende Daktylen, Bilder, deren Bedeutung von der Tradition wie von der Wahrnehmung gestützt ist. Gwerders Vorbilder sind leicht erkennbar: Rilke und Else Lasker-Schüler gehören dazu, ganz zentral auch Benn, dann schließlich Karl Krolow, mit dem er auch im Austausch stand.

    Nur wenig von Gwerders Werk hat das Licht der Öffentlichkeit erblickt: drei schmale Gedichtsammlungen 1951, wovon die erwähnte, "Blauer Eisenhut", eine gewisse Aufmerksamkeit erregte; dazu eine Handvoll Rezensionen, Wortmeldungen, Notate. Ein unglückliches Autoren-Los, das weiß man gleich, wie es seit Urzeiten und bis heute immer wieder eher die Regel denn die Ausnahme ist. Es ist anrührend, wenn einer seine Sache so auf nichts, das heißt auf seinen Versuch, künstlerisch zu arbeiten, gestellt hat und bereit ist, die Konsequenzen zu tragen. Begabung war durchaus da, Gwerder hat auch sehr ansehnliche Gemälde und Skizzen hinterlassen. Er hatte manche Freunde und nicht unbedeutende Förderung; aber irgendwie glückte es ihm nicht, sich als Dichter zu installieren. Vermutlich war es Ungeduld, vielleicht kam auch der unglückselige Wahn unserer Zeit hinzu, daß man hauptamtlich Dichter sein müsse (was Benn, Döblin, Brecht, Celan, Jandl und viele andere der 'Großen' sich nicht geleistet haben) - jedenfalls sind die Zeugnisse im wesentlichen auf den Ton der Klage gestimmt. Ich denke, Gwerder griff zu früh zu hoch. Da ist in seinen Schriften immer wieder vom Genie, vom genialischen Dichter die Rede, und als Leser ertappt man sich beim Zuruf: "Junge, entspann dich!" Das haben ihm wohl zu wenige gesagt; Gwerder scheint in einem langsam wachsenden Umkreis zu schnell Anerkennung gefunden zu haben. Das führte dann, um es ein wenig verkürzend zu sagen, aufs Stereotyp des verkannten Dichters, denn die Verlage zogen nicht recht mit. In der Prosa, etwa in der frühen Skizze "Stadtgesicht", wird das ausdrücklich zum Thema: "Es ist schon so: Die Menschen wiegen weniger und fürchten deshalb das schwerer Wiegende, trotzdem sie viel Oberflächliches gewichtiger finden als die Wahrheit." Tja, so geht es immer wieder in den Zeugnissen von Autoren, die nicht durchkommen. Und das muß wohl auch so sein, denn wenn man auch noch seine Selbstachtung verliert, bleibt gar nichts mehr übrig.

    Die Ausgabe ist in drei Bände gegliedert. Die ersten beiden bringen die Gedichte und Prosa, wobei die unveröffentlichten Texte den Löwenanteil ausmachen. Der dritte Band enthält die Dokumente zu Leben und Werk und den Kommentar zur Ausgabe von Roger Perret. Der hat sich immer wieder mit Autoren im sogenannten 'Abseits' beschäftigt, mit Hans Morgenthaler, mit Annemarie Schwarzenbach, Sonja Sekula und eben auch Gwerder, der so gut wie verschollen war. Das hat er ganz gewiß nicht verdient; und die gründliche Ausgabe (die sich immerhin auch eine Auswahl leistet) erlaubt, Gwerder auch als Kasus zu studieren, als Beispiel des Versuchs einer dichterischen Existenz unter untauglichen Bedingungen. Zu denen gehörte für ihn auch die Schweizer Rekrutenschule, verallgemeinert: der Militarismus und die Bürokratie in der Schweiz. Koreakrieg und Kalter Krieg treffen mit persönlichen Existenzängsten zusammen, und die unverständlich hämisch-kritischen Äußerungen auf seine ersten Publikationen hin verstärken sein Krisengefühl.

    Das äußert sich in einem regelrechten Nervenzusammenbruch des noch nicht dreißigjährigen Dichters. Für seinen Freitod wählt er das Kleistsche Beispiel: Mit einer jungen Freundin zusammen nimmt er eine Überdosis Morphium; die reicht nicht; am nächsten Tag schneiden sie sich gegenseitig die Pulsadern auf. Das Mädchen überlebt, Gwerder stirbt im Armenkrankenhaus "Hôtel Dieu" in Arles, wo auch van Gogh, den er sehr bewunderte, gelegen hat.

    Daß Roger Perret uns so ausführlich über Leben, Werk und Tod Gwerders unterrichtet, macht uns diese Ausgabe wert und bedeutend. In einem "Gespräch am Caféhaustisch", das Gwerder "Maschenriss" genannt hat, läßt er einen Sprecher die "Erlösungssucht" der Literatur kritisieren, also "dass die Phantasie in der Ausdeutung unserer Erlebnisse meist zur Verdammung des Erlebten führt". Er fährt fort: "Nennen Sie Orest, dann kommen die Erinnyen, und beim Götterraub trifft man die Schwester. Wozu sich also mit Zukunft vergiften, wo man ohne Schwärmerei an der Gegenwart zugrunde gehen kann?" Daß hierfür genug Gelegenheit gegeben ist, zeigen die Prosatexte immer wieder, die auch vom steilen Pathos des Existentialismus mit geprägt sind: "[Indessen denkt man sich manchmal, ob man nicht etwa dazu angehalten sei, nur so weit zu denken, als es seiner Erhaltung zugute kommt;] die Perspektive des einzelnen ist ja immer gegen die andern und der Rest fixierte Propaganda."

    Die Briefe sind in kompetenter Auswahl abgedruckt; sie sind an Karl Krolow, Oda Schaefer, an Benn und Jünger, an Redakteure und Freunde gerichtet. Sie bezeugen den kritischen Geist Gwerders, der ihn in der Schweiz, auch bei wohlgesinnten Literaten, nicht ankommen ließ. Ihm wird seine Schweiz-Kritik vorgeworfen, und er verteidigt sich mit Sätzen, für die wir heute ein besser geschärftes Ohr haben: "Die Militaristen und 'Großkaufleute’ [sagt er] haben gerade während des Krieges ihre Chance wahrgenommen - und was bis heute erreicht wurde, hat nicht das Geringste mit Heimat zu tun." Gwerder kann sich vorstellen, "dass die Bewertung von Lyrik abhängig sein könnte von der Gesinnung"; und dazu hat er manchen Grund. Daß seine Lyrik zu wenig selbständig, daß der eigene Ton nur als Anklang vernehmbar war, wollte er nicht wahrhaben. Wer denkt nicht an Lasker-Schüler, wenn ein Gedicht so beginnt:

    Über kreischende Keile der Überzahl schwingt der blendende Teppich welttätigen Tibets. Das schweigende Schaffen einsamer Klöster endlos an den Säumen der Renaissance...

    Das ist gekonnter Expressionismus, auch an Trakl erinnern manche Verse, und damit geht Gwerder immerhin über den Traditionalismus hinaus, der seine Anfänge bestimmte: das Sonett war zeitweise seine Lieblingsgattung. Baudelaire, Rimbaud, Verlaine, Rilke, dann immer wieder Benn, auch Krolow - es ist keine schlechte Schule, die Gwerder sich verordnet hat. Nur daß er sie zu wenig als Schule begriff, die Gelassenheit und Distanz, die zu jedem Lernen und Studieren gehören, nicht aufbrachte. So macht er sich ernsthaft über Hofmannsthal lustig:

    Der unsre Weidegründe segnet - "Adler, Lamm und Pfau": Mit muffen Büffeln dem begegnet ohne Salbölfrau...

    Immerhin ist das Gedicht (dies war die erste Strophe) Gottfried Benn gewidmet, die adoleszente These "Hirne scheitern auf der Urmeerzeit" dem Verehrten zugesprochen. Also bennt Gwerder vor sich hin:

    Schon Absturz, eh die Schatten sinken, schon zu Tal der Aar -? Noch Regenbogenräume trinken eh das Letzte war! Auch Archipelen, Andromeden Drachendämonie - schon schwellen Lippen, Wortreseden, Wurzeln rollen sie...

    Das klingt wie eine gekonnte Parodie, ist aber verehrungsvoll gemeint. Kam Gwerder zu eigenen Tönen? Immerhin doch in einigen Gedichten. Grausame Bilder verweigern Reim, Metrum, Klang: "Ich sah, wie man einer Frau / mit scharfem Messer den / Kopf abschnitt." Diesen Weg in die Grausamkeit des Alltags und der Phantasien ist Gwerder nur zögerlich weitergegangen, etwa in seinen "Roten Strophen". Er zog, wie der Nachlaß zeigt, das Melos der Reimstrophen vor. Aber auch diese Wahl hat ihre Dialektik, bezeugt einen poetischen Takt: Der Poet möchte die bitteren und bösen Erfahrungen in die Schönheit der Verse hinein aufheben, ein Programm des 19. Jahrhunderts. Er weiß, daß das nicht glücken kann: die Mitgift der Realität bleibt als Gift in den Bildern erhalten, und - nicht ohne Hinblick wohl auf Celan - steht die Bittermandel für dieses nicht trostreicher ja in mehrfacher Hinsicht aussichtslose Lyrikprogramm:

    Schmerzen, die sich verwandeln: Glanz um Bilder voll Gift - Bittere Kerne der Mandeln: Verlierer, wer sie trifft!

    Erloschenes Spätherz, so hat Gwerder seinen lyrischen Zustand gekennzeichnet. Das ist ein pathetisches Wort. Doch auch wenn wir viel Schutt in diesen Gedichten treffen, so gibt es doch einige, die einen hohen Anspruch rechtfertigen. Und die Ausgabe vergegenwärtigt darüber hinaus die Lebensfigur Gwerders. Das ist immer undisputierbar.