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Gesamtluftwerk aus Gummi

Thomas Kapielski ist Musiker, Schriftsteller, bildender Künstler, Geograf und Brülltherapeut. Jetzt hat er die verstreut publizierten Werke seines Schriftstellerlebens zusammengestellt und in Gummi zum Aufblasen herstellen lassen. Die Gesamtausgabe heißt "Anblasen".

Von Marius Meller | 01.09.2006
    Welcher Schreibende hätte nicht so oder ähnlich folgenden Traum gehabt, von dem Thomas Kapielski in seinem neuen Buch "Anblasen" erzählt: Der Autor befindet sich in seinem Lebensherbst in seiner profunden Bibliothek und befühlt, bekleidet nur mit einem Seidenrock mit Goldtroddeln, die schweinsledern gebundene Ausgabe seines Gesamtwerks.

    Pustekuchen, denkt Thomas Kapielski, Jahrgang 1951, seines Zeichens Musiker, Schriftsteller, bildender Künstler, Geograph und Brülltherapeut was ist eine schweinslederne, aber nur geträumte Gesamtwerkausgabe gegen eine aus Gummi, die es tatsächlich gibt? Auf die Idee kam Kapielski beim Nachsinnen über eine übermannshohe, aufblasbare Gummibierflasche in seiner Eckkneipe:

    "Und da sitze ich so eines Tages füglich in meiner an sich sehr gemütskranken, wenig beseelenden Eckkneipe, ich geh nur hin, weil sie gleich unten liegt, und lasse da so somnambul den Blick, den Randblick, die luzide, weil blinde Fleckstelle schweifen.

    Oben, auf einem Geldspielautomaten steht dort seit jeher eine große, aufgeblasene Flasche Bier, sehr realistisch und detailgenau gearbeitet, sogar oben dieser Plopp-Bügel getreu nachgebildet, und diese ansehnliche Luftbouteille lässt dann aber mit der Zeit immer mehr den Kopf hängen, macht schlapp, kippt fast nach vorn um, und dann kommt der Wirt alle halbe Jahre mit der Luftpumpe herbeigeeilt und bringt das geräumige Stück coram publico wieder in Facon. Immer ein großer Auftritt, wie er unten pumpt und oben hebt die mannshohe Skulptur langsam und frisch beseelt ihr Haupt."

    Sah es, und sogleich überkam ihn ein wahrlich tiefer Einfall. Warum nicht die verstreut publizierten Werke seines Schriftstellerlebens zusammenstellen und in Gummi zum Aufblasen herstellen lassen. Sieht wirklich gut aus, das sogleich "Gesamtluftwerk" getaufte Objekt, und entspricht auch recht eigentlich dem Ursprung des Kunstwerks: Das Werk als Geistgefäß, als pneumatische Konserve.

    Gesagt getan: Das pneumatische Brevier "Anblasen" als Echtbuchbeigabe zum Gesamtluftwerk, Auflage 30, das zu erwerben ist bei der Galerie Marlene Frei, Zürich, Preis: zirka 2500 Euro. "Anblasen" kann man natürlich auch einzeln erwerben, zum gewohnt moderaten Preis des Merve-Verlags, denn wie die Vorgängerbücher von Thomas Kapielski erscheint "Anblasen" im kleinen, erlesenen Merve Verlag. Kapielski ist überhaupt der ideale Merve-Autor: Im Grenzbereich von Theorie, Blödelei, Konzeptkunst scheint er auf einem literarischen Terrain zu siedeln, das nur in Deutschland vor sich herdümpelt, in Frankreich, um dessen Essayistik sich der Merve-Verlag besonders engagiert, aber weidlich gedeiht.

    Aber derartige Kulturvergleiche genügen nur dem groben Raster. Genau besehen hat Kapielski einen eigenen, ja, man muss es sagen, authentischen Kapielski-Ton geschaffen. Der Konzeptkünstler Kapielski, der einst mit den verstorbenen Dieter Roth und Martin Kippenberger am Stammtisch saß und gemeinsam mit ihnen eine Zeitschrift herausgab, ist, was die Kapriolen seiner Gedankengänge- und -sprünge angeht, von der barocken Predigt, von der düsteren und gleißenden Metaphysik der Barockdichtung auf der einen und Nietzsche auf der anderen Seite mehr beeinflusst als durch irgend ein französisches, übersubtiles Theroriedesign.

    In "Anblasen" befinden sich laut Untertitel "Texte zur Kunst". Die meisten Kurztexte, Aphorismen, Bildkommentare erzählen Vorgeschichten zu seinen Kunstwerken und sie destruieren den Kunstbetrieb. Dass Kunst ihren Betrieb mitreflektiere - dieses Klischee der Postmoderne ist bei Kapielski so selbstverständlich wie das Aufräumen des Küchentischs zum Arbeiten. Ist das System durch Analyse und Humor entlarvt, bildnert sich’s gleich besser:

    "Die einst schockierenden Nacht- und Kacknummern aber werden nur noch müde belächelt, da man die Absichten durchschaut. Und wer einst mit Vorschlaghämmern gegen Museumswände schlug, konnte dann durchaus noch Direktor eines solchen Instituts werden."

    Die prekären Seiten der meist brotlosen Künstlerexistenz werden stoisch konstatiert. Nach dem meist bierförmigen Alkohol steht an Platz zwei in der Liste der Hauptinspirationsquellen gleich die Langweile, das Erkennungszeichen der barock geprägten Melancholiker. So erregt der Wunsch von Kapielskis Sprössling, Kunst studieren zu wollen, ein Stoßgebet:

    "Wenn ich groß bin, will ich Kunststudent werden!", gab mein Sohn (7) unvermittelt bekannt, wohl um mir meine tägliche Freude zu bereiten. "Herr im Himmel!" rang ich, stumm hinter ihm stehend, um Fassung: "Lass diese Palette an mir vorüberziehen!"

    Aber das Multitalent, das man zusammen mit Frieder Butzmann als Ahnherren der elektronischen Tanzmusik feiert, geniert sich bei jedem kunstbetrieblichen Schritt, aber nicht verdrossen, dauerdepressiv, sondern mit einer barocken Heiterkeit, die das Leben als Rennebahn und den Leib als Madensack durchschaut, aber den Freuden des irdischen Paradieses und den skurrilen Chiffren Gottes im Hiesigen nicht abgeneigt ist. Wie soll er sich eigentlich nennen, Kapielski, der so viele Berufe gleichzeitig ausübt?

    "Es ist mir bis heute peinlich, als Beruf "Künstler" anzugeben. (Igitt! – Alle Künstler wollen vom lieben Gott eine Einzelausstellung, hübsche Sammlerinnen mit dicken Sparbüchsen unten dran. Obwohl …) "Musiker" klingt solider, respektabler; da denken alle: Mensch, die arme Sau hat vierzig Jahren Klavier üben müssen, aber nun hat er wenigstens Chancen bei den Frauen! "Schriftsteller" ist wieder hochgenierlich; in der Kneipe schämt man sich all den hochtalentierten, sympathischen Hauptschulabgängern gegenüber, da sie über eine Eloquenz aus dem Stehgreif verfügen, dass einem die Ohren schlackern!"

    Thomas Kapielski schreibt - ein Kritiker prägte den Begriff - Bücher ohne Familiennamen, eine Gattung jenseits der Gattungen für die Autoren wie Gerhard Henschel, Stephan Wackwitz und andere stehen. Aber Kapielski leistet sich das Platte, den Kalauer als Nullpunkt und Meditationspunkt der Wirklichkeit, er leistet sich Manierismus wie Lachmuskelschock. Nie hat Thomas Kapielski das Robert-Gernhard-hafte Ich-bin-hier-mal-der-Witzbold. Mit seinen beiden Bestsellern "Davor kommt noch" / "Danach war schon" - den dreizehn "Gottesbeweisen" hat er Ende der Neunzigerjahre dem Merve Verlag zur Rundumsanierung verholfen.

    Ein paar Jahre nach Erscheinen bringt der Verlag 2001 die Kapielski-Bücher jeweils in gebundener Schmuckausgabe heraus. 1999 wurde Kapielski nach Klagenfurt eingeladen, wo sein klamaukiger, aber sehr gelungener Literaturbetriebstext durch die Maschen der Jury fiel. Der Text wurde in der FAZ abgedruckt und erschien 2002 in dem Vierhundertseiter "Sozialmanierismus - Je dickens destojewski". Kapielski ist also bereits seit langem der "bekannteste unbekannte Künstler und Autor Berlins", der "berühmteste Geheimtipp" der bundesdeutschen Kulturszene. Aber Fortuna schüttet nicht immer da ihre Füllhörner aus, wo es die Gerechtigkeit wollen würde. Keiner weiß das besser und keiner inszeniert es besser als Thomas Kapielski.

    "Wenn Sport der Bruder der Arbeit ist, dann ist Kunst die Cousine der Arbeitslosigkeit."

    Der beste Weg zur Harmonie von Möglichem und Wirklichen sieht so aus: Man unterstütze den Künstler in seiner Spitzwegschen wie spezifisch kapielskischen Welt, an der wir mittels seines Gesamtluftwerks teilhaben dürfen, durch den Kauf desselben. Oder begnüge sich einstweilen mit absolut für sich stehenden Echtbuchbeigabe "Anblasen".