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Geschärfter Blick auf Indien

Seine Nominierung als einer von sechs Kandidaten für den Man-Booker-Preis war die erste Überraschung. Die zweite, dass er ihn tatsächlich gewann. Mit dem 1974 im indischen Madras geborenen Romandebütanten Aravind Adiga hatte niemand gerechnet. In der Welt der Literatur war er bis zur Preisverleihung eigentlich ein Unbekannter, denn seine früher geschriebenen Kurzgeschichten sind erst jetzt nach dem Romanerfolg publiziert worden.

Von Johannes Kaiser | 11.12.2008
    Die Zeitungswelt allerdings kennt ihn schon eine Weile, denn nach Abitur in Sydney, wohin seine Eltern ausgewandert waren, nach Studium in New York und Oxford hat er jahrelang als Indien-Korrespondent von Bombay aus erst für die Financial Times, dann die Times gearbeitet. Anfangs war er fest angestellt, später wurde er freier Mitarbeiter nicht zuletzt um Zeit zum Schreiben von Kurzgeschichten und eben dem Debütroman zu haben.

    Aravind Adiga gehört zu jener Schar indischer Schriftsteller, die lange Zeit im Ausland, in der indischen Diaspora gelebt haben, bevor sie nach Indien zurückkehrten. Das hat den meisten unter ihnen den Blick auf die indischen Verhältnisse geschärft. Sie können vergleichen, bewerten, einordnen und erliegen keinen falschen Loyalitäten. Für den jungen Preisträger gilt das allemal, denn sein Roman ist eine heftige Abrechnung mit der modernen indischen Gesellschaft und das hat ihm zuhause eine Menge Ärger eingebracht. So ärgerte sich zum Beispiel der indische Volkskunstexperte Ritu Sethi:

    "Das Buch wirft uns drei Jahrzehnte zurück. Es enthält sämtliche Stereotypen. Der BBC pflegte nichts anderes als Kühe auf den Strassen zu zeigen. Das Buch geht genau dahin zurück."

    Auch die Autorin Manjula Padmanabhan verdammte den Roman.

    "Ich habe das Buch als langweilig und geschmacklos empfunden ... Der Tonfall ist absurd-frech ... Alles ist möglich, nichts wirklich ... Man hört ständig zwischen den Zeilen die Echos des Indo-Internationalistischen Literaturclubs ... Ist dieser Schuljungenspott das Beste, was wir machen können?."

    Harte Worte, die jedoch deutlich zeigen, dass Aravind Adiga ins Schwarze getroffen hat. In der Tat ist "Der weiße Tiger" ein heftiger Angriff auf das indische Selbstverständnis als größte Demokratie weltweit und als boomendes Schwellenland. Nichts davon ist wahr. Zumindest legt das die Romangeschichte nahe.

    In ihrem Mittelpunkt steht Balram Halwai, derzeit ein Unternehmer, der in der indischen Internet-Metropole Bangalore ein florierendes Taxiunternehmen für die großen Call-Center betreibt. Eines Nachts setzt er sich hin und schreibt an den chinesischen Ministerpräsidenten, erzählt ihm mehrere Nächte hintereinander seine Erfolgstory, die allerdings ganz anders verlaufen ist als der berühmte Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär. Der ungewöhnliche Adressat erklärt sich indirekt aus Aravind Adigas Überzeugung:

    "Wenn sie arm sind, dann würden sie jeden Tag China Indien vorziehen, weil ihre Kinder dann eine bessere Chance hätten, ausreichend ernährt zu werden. Ihre Frau würde wahrscheinlich die Geburt eher überleben. Sie selbst würden wohl länger leben."

    Balram gehört zu diesen Armen, die eigentlich nie eine Chance bekommen, sich aus ihrem Elend zu befreien. Er wächst auf dem Land in einem kleinen Dorf auf. Zwar ist er klug genug, um auf die höhere Schule zu gehen, aber dafür hat seine Familie kein Geld. So sucht er wie Hunderttausende Inder sein Glück in der Stadt. Das besteht aus einem Job als Fahrer einer reichen Industriellenfamilie, der das halbe Dorf gehört, aus dem er stammt. Sie geht mit den Bauern und mit ihren Bediensteten so um, als wären es Leibeigene, schikaniert sie, zahlt Hungerlöhne.

    Balram wird zum Chauffeur des Sohnes Ashok. Auf den Fahrten bekommt er mit, wie die Familie Wahlen in jener Gegend, aus der er stammt, durch Betrug und brutale Gewalt gewinnt, in Neu-Delhi Regierungsmitarbeiter, Politiker, Polizisten besticht, um sich Aufträge zu sichern. Dann setzt sich eines Nachts die betrunkene amerikanische Ehefrau seines Herrn ans Steuer des Autos. Das endet in einer Katastrophe, denn sie fährt ein Kind tot. Ihr Mann verlangt von Balram, die Schuld auf sich zu nehmen. Kein Einzelfall, wie er in seinem Brief an den chinesischen Ministerpräsidenten klagt:

    "Die Gefängnisse Delhis sind voll von Fahrern, die hinter Gittern sitzen, weil sie für ihre anständigen, grundsoliden Herren aus der Mittelschicht die Schuld auf sich genommen haben. Wir sind den Dörfern entronnen, aber wir gehören immer noch unseren Herren - unser Körper, unsere Seele, unser Arsch.

    Wir leben hier in der großartigsten Demokratie.

    What a fucking joke."

    Der Chauffeur kommt noch einmal davon. Die bestochene Polizei schlägt das Verfahren nieder. Die Amerikanerin verlässt ihren Mann, kehrt in die USA zurück. Der vergnügt sich fortan mit Prostituierten. Als sich der Unternehmersohn dann mehr oder weniger offen nach einem neuen Fahrer umsieht, weiß Balram, dass ihm nur noch wenig Zeit zum Handeln bleibt. Die Chance bietet sich bei einer nächtlichen Panne auf dem Weg zur Übergabe einer großen Bestechungssumme. Der Fahrer erschlägt seinen Herrn und verschwindet mit dem Geld, baut sich mit ihm sein Beförderungsunternehmen auf. Die Polizei sucht ihn, aber die Steckbriefe sind miserabel, niemand erkennt ihn. Allerdings löscht die Familie seines Herrn als Racheakt seine gesamte Verwandtschaft auf dem Dorf aus.

    Quintessenz der Geschichte: Für jemanden wie Balram gibt es keine Chance auf sozialen Aufstieg, es sei denn, er begeht ein Verbrechen, so Aravind Adiga in einem Interview:

    "Wenn Sie kein Englisch können, keine Ausbildung haben, keine Krankenversicherung, wie wollen Sie dann ihr Leben verändern? Ein armer Mann verdient in Indien 4000 Rupien im Monat. Damit kann er niemals irgendetwas erreichen. Die einzige Möglichkeit, sich zu verändern, besteht für jemanden wie Balram darin, kriminell zu werden. Sonst kann er sich nur in Phantasien und Träume flüchten und wird es nie schaffen. Oftmals ist das Leben so hart, dass man einfach brutal sein muss."

    Die indische Gesellschaft wird in dem Roman als asozial, korrupt und menschenverachtend vorgeführt. Kein Wunder, dass manche Inder Aravind Adiga als Nestbeschmutzer beschimpfen, obwohl er selbst ausdrücklich immer wieder darauf hingewiesen hat, dass er die Einstellung seines Helden nicht teilt, aber als Schriftsteller schon die Verpflichtung fühlt, Indiens Mittelschicht an ihre Verantwortung für die Armen zu erinnern:

    "In einer Zeit, in der Indien große Veränderungen durchläuft und wahrscheinlich zusammen mit China die Welt vom Westen erbt, ist es wichtig, dass Schriftsteller wie ich die brutale Ungerechtigkeit der Gesellschaft beleuchten. Und genau das versuche ich zu machen. Dabei geht es mir nicht darum, das Land zu attackieren, sondern um die viel größere Aufgabe der Selbsterkundung."

    In großem Vertrauen auf die Macht der Literatur glaubt Aravind Adiga, dass sein schonungsloser, temporeicher und witzig-ironischer Roman dabei helfen kann, die Verhältnisse zu ändern. Einer der großen alten Herrn der indischen Literatur Khushant Singh lobte das Buch als sehr gut lesbar, aber genauso deprimierend. Nie zuvor habe er ein so dunkles und einseitiges Bild Indiens gesehen. Er endet seine Kritik allerdings mit der Bemerkung, dass Adigas schwarzer Humor und seine beißende Satire den Leser überzeugen, ihm seine Halbwahrheiten zu vergeben. In der Tat kann man den Roman auch als böse Satire verstehen, bei der aber offenkundig den meisten Indern das Lachen im Halse stecken bleibt. Ein Debüt, das es in sich hat. Ein Preisträger, der die Auszeichnung allemal verdient.

    Aravind Adiga: Der weiße Tiger
    Übersetzt von Ingo Herzke, C.H.Beck Verlag, 319 Seiten, 19,90 Euro