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Gescheitertes Flüchtlingsreferendum in Ungarn
"Für Erleichterung gibt es gar keinen Grund"

Der ungarische Schriftsteller Rudolf Ungváry wertet das Ergebnis des Flüchtlingsreferendums in Ungarn als trügerisch. Dass es aus formalen Gründen für ungültig erklärt wurde, sei kein Grund zum Feiern, sagte er im DLF. Ein Drittel der Bevölkerung sei an die Urne gegangen und habe gegen die EU-Pläne zur Umverteilung gestimmt.

Rudolf Ungváry im Gespräch mit Sandra Schulz | 04.10.2016
    Ungarns Regierungschef Viktor Orban und seine Frau bei der Stimmabgabe zum Referendum über die EU-Flüchtlingspolitik.
    Ungarns Regierungschef Viktor Orban und seine Frau bei der Stimmabgabe zum Referendum über die EU-Flüchtlingspolitik. (Sputnik)
    "Für eine Erleichterung gibt es in Wirklichkeit gar keinen Grund", sagte Ungváry. Die Abstimmung werfe ihre Schatten auf die Wahlen 2018 heraus. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán habe es verstanden, das Ergebnis des Referendums zu "missbrauchen und auszuschöpfen". Er habe sofort mitteilen lassen, dass das Referendum politische Gültigkeit habe und eine Verfassungsänderung hinsichtlich der Einwanderung angemeldet.
    Bei dem umstrittenen Referendum waren 8,3 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, über den EU-Beschluss abstimmen, 160.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland gemäß einer verbindlichen Quote auf die anderen EU-Staaten zu verteilen. Zwar sprachen sich 98,32 Prozent der Teilnehmer gegen die Umverteilung aus, doch war das Referendum wegen zu geringer Wahlbeteiligung ungültig.

    Das Interview in voller Länge:
    Sandra Schulz: Der ungarische Ministerpräsident Orbán gibt sich unbeirrt. Er sieht sich bestätigt vom Ergebnis des Referendums vom Wochenende, das Referendum gegen die EU-Flüchtlingspolitik. Rund 3,3 Millionen Ungarn hatten sich dagegen ausgesprochen, dass die Europäische Union Flüchtlingsquoten festlegen darf gegen den Willen des ungarischen Parlaments. Die, die mitgestimmt haben, die haben die EU-Linie fast einhellig abgelehnt, und deren Willen will Orbán jetzt in der Verfassung verankern. Wie, das ließ er allerdings zunächst offen. Worauf er mit keinem Wort eingegangen ist: Das Referendum ist formal gescheitert, ungültig, weil das nötige Quorum verfehlt wurde. Für eine gültige Abstimmung hätte mindestens jeder zweite der Wahlberechtigten mitstimmen müssen. Die Beteiligung lag aber nur bei gut 40 Prozent. Die Europäische Union reagiert erleichtert. Klar ist aber auch: An die Durchsetzbarkeit von verpflichtenden Quoten glauben nicht mehr viele.
    Wir wollen das Referendum und die Folgen in den kommenden Minuten weiter einordnen. Am Telefon begrüße ich den ungarischen Schriftsteller und Publizisten und Orbán-Kritiker Rudolf Ungváry. Guten Morgen.
    Rudolf Ungváry: Guten Morgen!
    "Im Grunde sollte man nichts daran feiern."
    Schulz: Ich würde mit Ihnen gerne jetzt noch mal den Schritt zurück machen. Die Interpretationen, die gehen ja wirklich weit auseinander. Die sagen, das sei eine Bauchlandung für Orbán, eben wegen des gescheiterten Referendums, wegen des verfehlten Quorums. Er selbst sieht sich aber gestärkt. Wie schätzen Sie das Ergebnis ein?
    Ungváry: Für eine Erleichterung gibt es in Wirklichkeit gar keinen Grund. Was nämlich passierte, das wirft den alarmierenden Schatten auf die kommenden Wahlen im Jahre 2018. Nämlich dieses Ergebnis ist trügerisch, was das Referendum anbelangt. Im Grunde sollte man nichts daran feiern, dass es formell nicht gültig ist. Am Sonntag ging nämlich ein Drittel der Gesamtbevölkerung, also wohl bemerkt nicht bloß ein Drittel der Wähler, an die Urnen für eine völlig sinnlose Abstimmung, die ohne wirklichen Spieleinsatz war, und stimmte im Sinne einer niederträchtigen Regierungspropaganda für Orbán. Das ist die im Grunde genommen einzig wichtige Zahl und keine Kleinigkeit.
    Der ungarische Führer verstand es, diese Tatsache zu missbrauchen und auszuschöpfen. Durch seinen Wortführer ließ er die Öffentlichkeit sofort wissen, dass das Referendum eine politische Gültigkeit habe, und meldete eine Verfassungsänderung hinsichtlich Einwanderung an. Und mit diesem Kommunikationstrick vergewaltigte Orbán die Institution des Referendums, alles im Sinne seiner postpraktischen Politik und zum Ruhme der Europäischen Union, in der so was überhaupt möglich war.
    Schulz: Herr Ungváry, lassen Sie mich da kurz einhaken mit einer Nachfrage. Ist es nicht aber trotzdem überraschend, dass es Orbán nicht gelungen ist, ausreichend Wähler zu mobilisieren für dieses Quorum, das er ja, wenn ich es richtig verstanden habe, selbst hochgesetzt hat?
    Ungváry: Ja. Das hat aber keine große Bedeutung, weil er eine einerseits sehr große Unterstützung von einem Teil der Bevölkerung besitzt, und das ändert nichts an der Tatsache. Das Alarmierende an allem ist nämlich, dass er die zukünftigen Wahlen von 2018, falls die für ihn ebenfalls ungut ausfallen, genauso vergewaltigen werden kann. Und das ist eigentlich drin im Spiele.
    Schulz: Herr Ungváry, jetzt frage ich mal defätistisch. Ist es nicht besser, wenn Orbán stark abschneidet als wenn die rechtsextreme Jobbik noch stärker würde?
    Ungváry: Die rechtsextreme Jobbik hat so keine besonderen Chancen. Im Grunde kann sein Parteiführer mit Orbán nicht wirklich ringen und die Bevölkerung teilt nicht offen rechtsextreme Auffassungen. Das größere Problem ist einfach nur, dass die demokratische Opposition viel zu schwach ist dazu und politisch innovationsschwach ist, um Orbán etwas entgegenzusetzen.
    Ungváry: Auch Orbán-Gegner stimmten für das Referendum
    Schulz: Jetzt würde ich doch gerne noch nachfragen. Es gibt ja Umfragen, die zeigen - ich glaube, die letzte aus dem August -, da sind es knapp 80 Prozent der Menschen in Ungarn, die sagen, für uns wäre es eigentlich am besten, wenn überhaupt keine Flüchtlinge zu uns kommen würden. Sie sagen, es gibt nicht diese offene rechtsextreme Haltung. Aber es gibt natürlich diese offene flüchtlingsfeindliche Haltung immerhin. Wie passt das zusammen?
    Ungváry: Das ist ganz typisch. Das Bemerkenswerteste ist nämlich, dass bei diesem Referendum trotz der einmalig intensiven Medien- und Fremdenhass-Kampagne die Popularität der Regierungspartei in der Zwischenzeit nicht mit einer Jota höher wurde. Und das deutet daraufhin, dass gegen Migranten und für Orbáns diesbezügliche Politik viele, die sich Orbáns System gegenüber oppositionell verhalten, bei dieser Quotenwahl für Orbán gestimmt hatten. Somit rächt sich eigentlich das Fehlen einer glaubwürdigen Antwort auf die Migration seitens der Demokraten, die dem Sicherheitsbedürfnis vieler sonst demokratisch eingestellten Wähler entspricht. Sie sind nicht rassistisch eingestellt; sie bangen einfach, weil sie nicht genügend richtige Informationen besitzen. Und ganz eindeutig zeigt dies, dass der bloße Bezug auf Humanismus und man kann das schaffen völlig ungenügend ist als politisches Wirkungsmittel.
    Schulz: Jetzt ist die Ausgangslage aber ja so in Ungarn, wie wir sie gerade skizziert haben. Was ist denn da jetzt der Ausweg aus dieser Fremdenfeindlichkeitsspirale?
    Ungváry: Vorläufig sehe ich nicht viel Ausweg, nämlich was jetzt das Referendum anbelangt feiert eigentlich die Opposition, obwohl es nicht dieser demokratischen Opposition zu verdanken ist, dass die Wahl formell nicht gültig war. Und dadurch eigentlich blendet sich diese demokratische Opposition, nämlich dass es formell nicht gültig gewesen ist, das ist einzig und allein der übertriebenen Hetzkampagne zu verdanken und nicht dem, dass die Opposition eine wirklich innovative Politik zum Beispiel auch hinsichtlich Migration und auch gegenüber Orbán vertreten hätte können.
    Schulz: Aber warum ist das in Ungarn so? Warum ist Ihre Opposition so wenig schlagkräftig?
    Ungváry: Diese Frage ist zu schwer, dass man das wirklich beantworten könnte. Ich könnte nur mich auf Thomas Mann berufen: Tief ist der Brunnen der Geschichte. Und die ungarische Geschichte bestimmt eigentlich das, was heute passiert: diesen schrecklichen Rückfall in einen Zustand, der total zwischen beiden Weltkriegen liegt oder noch weiter weg. Und das kann Ungarn nur durch eine sehr lange Zeit überwinden.
    Ungváry: EU muss eine glaubwürdige Migrationspolitik aufzeigen
    Schulz: Und wie geht es in der europäischen Flüchtlingsdiskussion jetzt weiter? Wir haben jetzt ja schon seit langer Zeit diesen Konflikt, dass die Länder, dass Deutschland, ein Land, das viele Flüchtlinge aufgenommen hat, sagt, wir brauchen Solidarität in Europa und das übersetzt in alle müssen Flüchtlinge nehmen. Und die ungarische Regierung und auch die Visegrád-Staaten, die übersetzen das Wort Solidarität ja ganz anders. Ungarn sagt, wir sind insoweit solidarisch, dass wir die Außengrenzen schützen. Wie wird dieser Widerspruch zu überbrücken sein?
    Ungváry: Auf keinen Fall dadurch, was Orbán will. Ihm ist nämlich die Migration bloß gefundenes politisches Futter. Da geht es ihm um seine eigene Alleinherrschaft und er versucht, das mit allen Mitteln noch weiter zu verstärken. Die Visegrád-Staaten benehmen sich natürlich wesentlich behutsamer wie Orbán. Aber man muss sagen, dass das, was Orbán vertritt, auch anderswo in Europa Widerhall finden kann. Diesbezüglich geht es im Grunde darum, ob die Europäische Union eine wirklich glaubwürdige Migrationspolitik aufzeigen kann. Das bedeutet, Integration durch Leistung betont und bestimmte Bedingungen stellt, und das bahnt sich auf alle Fälle in Deutschland schon an. Und dadurch kann man die Bevölkerung eigentlich dazu gewinnen, besonders die osteuropäische Bevölkerung, dass sie nicht von vornherein feindlich gegenüber Migration eingestellt sein soll.
    Schulz: Der ungarische Schriftsteller Rudolf Ungváry heute hier im Deutschlandfunk in den "Informationen am Morgen". Herzlichen Dank Ihnen.
    Ungváry: Dankeschön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.