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Geschichte der Moralphilosophie: Hume - Leibniz - Kant - Hegel

Einen "fast mythischen Ruf” - so der Werbetext des Covers - soll die in Harvard unter der Hand zirkulierende Mitschrift der Vorlesung von John Rawls über die Geschichte der Moralphilosophie gehabt haben. "Ganze Generationen amerikanischer wie kontinentaler Philosophen” sollen durch deren Schule gegangen sein.

Hans-Martin Schönherr-Mann | 27.11.2002
    Ich will den Gehalt dieser Selbstbeweihräucherung, der sich der Suhrkamp-Verlag hingibt, gar nicht in Frage stellen. Indes der erste Blick in das Inhaltsverzeichnis lässt ein erschreckendes Ungleichgewicht erkennen: Kant wird auf etwa 220 Seiten, Hume auf 100, Hegel auf 55 und Leibniz auf 45 abgehandelt.

    Verständlich erscheint das indes vor dem Hintergrund, dass sich John Rawls in seinem Buch Eine Theorie der Gerechtigkeit aus dem Jahr 1971, das vielleicht bedeutendste Buch der politischen Philosophie im 20. Jahrhundert, vornehmlich auf Kant stützt. Überhaupt sollte seine damalige Neubegründung des politischen Liberalismus Kants Moralgesetz des kategorischen Imperativs in die soziale und politische Welt des 20. Jahrhunderts übersetzen. Der Liberalismus begreift den Menschen als Individuum, das sich primär um sein privates Glück kümmert. Rawls ergänzte damals, dass dieses Individuum aber in Politik und Gesellschaft zugleich nach fairer partnerschaftlicher Kooperation strebt, die auch die Benachteiligten mit einschließt und fördert - eine Art sozialdemokratische Begrenzung des US-Kapitalismus. Insofern präsentiert sich Rawls Geschichte der Moralphilosophie in weiten Strecken als historischer Hintergrund seiner politischen Philosophie insgesamt.

    Das liegt zwar nahe, bleibt trotzdem unbefriedigend. Von vielen Seiten nämlich wurde Rawls seit Eine Theorie der Gerechtigkeit vorgeworfen, er vernachlässige die Einbindung des Individuums in die sozialen und politischen Institutionen und Traditionen. Dem tritt Rawls in seiner Geschichte der Moralphilosophie vor allem bei seiner Hegel-Interpretation entgegen, schließlich berufen sich seine Kritiker vornehmlich auf Hegel. Doch seine Antworten geraten nicht nur wie in den Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrzehnte zu formalistisch. Sie hätten durchaus auch ausführlicher ausfallen dürfen.

    Seit Beginn der frühen Neuzeit tobt der Streit, ob sich das Individuum dem Staat und der Gesellschaft unterordnen muss oder ob Staat und Gesellschaft letztlich den Zweck haben, der Selbstverwirklichung der Individuen zu dienen. Hegel hat darauf eine klare Antwort gegeben: Der Staat schafft und erhält erst den Rahmen, der den Individuen Freiheit und Privatheit ermöglicht. Selbst wer die Entfaltung der Individuen fördern will, muss primär dem Staat dienen. Das entspricht in etwa der nationalliberalen Tradition in Deutschland.

    Wenn für Rawls die Individuen auch das Ziel verfolgen, in Politik und Gesellschaft grundsätzlich fair miteinander umzugehen, dann mag das Hegels Konzeption nicht grundsätzlich widersprechen. In der Tat folgt Rawls nicht mehr jenem liberalen Menschenbild, das den Menschen primär als Egoisten sieht, der dem Mitmenschen als Wolf erscheint. Dass die Menschen historisch durch die Gesellschaft geprägt werden, darauf geht er damit aber nicht ein.

    Rawls insistiert statt dessen einfach darauf, dass er die soziale Einbindung des Individuums automatisch berücksichtigt habe, wenn sich seine Theorie der Gerechtigkeit vornehmlich um die Grundstruktur der Gesellschaft kümmert. Individuum und Gesellschaft - so Rawls - bedingen sich gegenseitig bzw. gehören zusammen. Doch damit zielt Rawls am eigentlichen Einwand vorbei. Denn so banal lässt sich Hegel nicht verstehen. Vielmehr prallen trotz der gegenseitigen Abhängigkeit von Staat und Individuum gerade bei der Frage, wer von beiden dem anderen zu dienen habe, auch aktuell noch die politischen Gegensätze aufeinander.

    Wer sich also neue Argumente für Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption in seiner Geschichte der Moralphilosophie erhofft, der sieht sich weitgehend enttäuscht. Wahrscheinlich wäre das auch zuviel erwartet, hat Rawls doch über 40 Jahre unentwegt und weitgehend aus derselben Perspektive an seinem Modell der liberalen Gerechtigkeit gearbeitet. In der Geschichte der Moralphilosophie verlängert sich vielmehr Rawls’ Plädoyer für Gerechtigkeit als Fairneß historisch. Umgekehrt - und das macht das Buch denn doch einigermaßen spannend - werden die Theorien von Hume, Leibniz, Kant und Hegel durch die Brille von Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption durchaus mit aktuellen Problemen konfrontiert - was normale Kant- und Hegel-Exegeten eher beiseite lassen.