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Geschichte der Musikpolitik

Das breite Publikum hört Bach, Beethoven, Brahms gern; Berg und Bartok schon sehr viel weniger gern, und noch modernere E-Musik ist dann eine Sache für Spezialisten. So die landläufige Ansicht. Die sogenannte ernste Musik lebt nur, insofern sie schon tot ist. Alex Ross hält dagegen: Das muss nicht so sein, und es ist auch nicht so.

Von Martin Ebel | 03.01.2010
    Die Musik des 20. Jahrhunderts ist nämlich viel reicher, als man denkt – und auch viel weiter verbreitet. Man muss nur die ideologische Brille absetzen. Diese Brille, meint der amerikanische Musikjournalist, ist vor allem eine deutsche Brille. Sie hat ihren Ursprung in der Überzeugung, Musik sei etwas ganz Tiefes, ganz Reines, etwas der Philosophie Benachbartes, und dürfe nicht beschmutzt werden durch Kontakt zur Realität oder gar zu einem ungebildeten Publikum. Zur Untermauerung dieser These zitiert Ross Schopenhauer und Nietzsche, Letzteren mit der spöttischen Bemerkung, Musik diene gewissen Leuten als "Telefon ins Jenseits".

    Die Folgen dieser Ideologie: Die Abwendung einer ganzen Abteilung der Musikgeschichte von ihrem Publikum und die begleitende musikphilosophische Begründung, dies müsse genau so und nicht anders sein. Für Ersteres steht Arnold Schönberg, der Erfinder der Zwölftonmusik, für Letzteres Theodor W. Adorno, Verfasser der "Philosophie der neuen Musik".

    Durch die Brille der "deutschen Ideologie" betrachtet, verläuft die Entwicklung der Musik vom Ende des 19. Jahrhunderts an mit eiserner Konsequenz: Von der Spätromantik, die sich immer chromatischerer Wendungen bedient, über die "Emanzipation der Dissonanz" zur Auflösung der Tonalität, zur Atonalität also, dann zur Zwölftontechnik, die das freie Material neuen Gesetzen unterwirft, und schliesslich zur seriellen Komposition, bei der sämtliche Parameter – also nicht nur Tonhöhe, sondern auch Dynamik, Klangfarbe, Artikulation, einer vorher festgelegten Abfolge gehorchen. Solche Musik geht nicht vom Schönklang aus, und schon gar nicht nimmt sie Rücksicht auf ein Harmonie-Bedürfnis des Publikums. Im Gegenteil: Komponisten solcher Musik wenden ihm entschlossen den Rücken zu.

    "Wenn es Kunst ist, ist es nicht für alle; und wenn es für alle ist, ist es keine Kunst"

    ... lautet ein programmatischer Satz von Arnold Schönberg. Die Gegenposition und das heimliche Motto von Alex Ross' Musikgeschichte stammt ausgerechnet von Alban Berg, einem Schönberg-Schüler, der ebenfalls die Zwölftontechnik pflegte. Berg erhielt 1928 in Wien Besuch von George Gershwin. Berg ließ dem amerikanischen Gast von einem Streichquartett seine "Lyrische Suite" vorspielen. Danach hatte Gershwin Bedenken, ein paar seiner populären Lieder zum Besten zu geben. Berg bemerkte sein Zögern, schaute ihn streng an und sagte:

    "Mr. Gershwin, Musik ist Musik."

    Alex Ross benutzt Bergs Satz als Kriegserklärung an Ideologen und "Geschmackspolitiker", wie er sie nennt, die Musikgeschichte als Fortschrittsgeschichte begreifen und sich selbst dabei als Avantgarde betrachten, aber alles aus dem Paradies der wahren Musik vertreiben wollen, was ihren Massstäben nicht gehorcht – oder gar Kompromisse mit dem Publikumsgeschmack eingeht. Ein Lieblingsfeind dieser "Fortschrittler" war der finnische Komponist Jean Sibelius, Schöpfer von Sinfonien und sinfonischen Dichtungen. Adorno verfasste einen vernichtenden Aufsatz über ihn, und der einflussreiche Theoretiker René Leibovitz bezeichnete ihn in einem Pamphlet gar als "schlechtesten Komponisten der Welt". Alex Ross aber widmet Sibelius ein ganzes Kapitel, eines von nur zwei monografischen in seinem Buch (das andere gilt Benjamin Britten). Darin schildert er sein verzweifeltes Ringen mit den eigenen Ansprüchen, die Integration volksmusikalischen Erbes und seine Versuche, die Natur in Töne zu fassen – vor Studenten hielt er einmal einen Vortrag über die Obertöne einer Wiese! Sibelius gehört, wie auch Janacek und Bartok, zu dem, was Milan Kundera die "antimoderne Moderne" genannt hat, und sich vor allem in sogenannten kleinen Nationen findet. Für Ross bilden sie einen "integralen Bestandteil des musikalischen Jahrhunderts", was sich auch darin zeigt, dass sie das Fegefeuer der Ablehnung überstanden haben und heute nicht nur ein Publikum finden, sondern auch die Anerkennung jüngerer Kollegen. So wird ausgerechnet Sibelius heute von Komponisten wie Wolfgang Rihm, Gerard Grisey oder Thomas Adès als Vorbild genannt. Und als der große Avantgardist Morton Feldman 1984 bei den gnadenlos progressiven Darmstädter Ferienkursen sprach, sagte er:

    "Die Leute, die Sie für Radikale halten, könnten in Wirklichkeit Konservative sein. Und die Leute, die Sie für Konservative halten, in Wirklichkeit Radikale."

    Und dann fing er an, Sibelius' fünfte Sinfonie zu summen.
    Solche Begegnungen, reale wie die von Berg und Gershwin oder künstlerische wie die von Sibelius und Feldman, machen einen großen Reiz von Alex Ross' Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts aus. Sie sind Prinzip und Programm: Für Ross ist Musikgeschichte keine sterile immanente Angelegenheit, sondern etwas, das sich in Kontakten und Konflikten vollzieht, und vor allem nicht unberührt von der Aussenwelt.
    So gelten zwei große Kapitel etwa der politischen Vereinnahmung von Musik durch diktatorische Regimes, im "Dritten Reich" und in der Sowjetunion. Genau, einfühlsam und gerecht zeichnet Ross dabei die ambivalente Haltung von Richard Strauss nach, der nach anfänglicher Sympathie auf Distanz zu den Machthabern ging, in Ungnade fiel und mit seinem Spätwerk versuchte, "in der Musik zu verschwinden". Dmitri Schostakowitschs Sinfonien kann man schon gar nicht ohne Kenntnis der wechselnden politischen Direktiven verstehen – und ob man sie mit ihrer Kenntnis ganz versteht, ist auch noch die Frage.
    Alex Ross ist davon überzeugt – und der großen Menge an Belegen und Beispielen kann man sich eigentlich nicht entziehen - dass, bis auf wenige verbohrte Ideologen, die Komponisten der Moderne durchaus ein Publikum ansprechen wollten, ein so großes Publikum wie möglich, und sich dafür auch gern der Massenmedien bedienten. Zum Beispiel des Films. Dass Schostakowitsch für den Film komponierte, ist bekannt. Aber auch
    Igor Strawinsky verhandelte mit verschiedenen Hollywood-Studios und fertigte Skizzen zu Filmmusik an; es gab sogar den Plan eines kompletten Disney-Films, der von Strawinsky vertont werden sollte. Sogar Schönberg, Hohepriester der Zwölftonmusik, wollte sich als Filmkomponist versuchen. Die Drehbuchautorin Salka Viertel erinnert sich an ein Zusammentreffen mit Irving Thalberg, dem Produktionschef von Metro-Goldwyn-Mayer:

    Ich sehe Schönberg immer noch vor mir, vorgebeugt auf dem Stuhl, die Hände über dem Griff eines Regenschirms gefaltet, die brennenden Augen eines Genies auf Thalberg gerichtet, der hinter seinem Schreibtisch stand und erklärte, warum er einen großen Komponisten für die Filmmusik von "Good Earth" verpflichten wollte. Bei den Worten "Als ich letzten Sonntag diese wunderschöne Musik hörte, die Sie geschrieben haben..." unterbrach Schönberg ihn streng: "Ich schreibe keine wunderschöne Musik." Er hatte "Good Earth" gelesen und wollte den Auftrag nur annehmen, wenn er völlige Kontrolle über den Ton bekam, gesprochene Dialoge inbegriffen. "Was meinen Sie mit völliger Kontrolle?" fragte Thalberg ungläubig. "Ich meine, dass ich mit den Schauspielern arbeiten muss", antwortete Schönberg. "Sie müssen in der gleichen Tonlage und Tonart sprechen, in der ich komponiere. Es wäre so ähnlich wie bei Pierrot lunaire, aber natürlich nicht so schwierig.

    Kein Wunder, dass aus der Sache dann nichts wurde. Das Beispiel zeigt aber, dass sich auch der kühnste Avantgardist von der Aussicht auf ein großes Publikum locken ließ. In den USA war die Vorstellung einer hermetischen Kunst sowieso völlig abwegig. Hier gab es vielmehr hartnäckige Bestrebungen, einen dritten Weg zu finden zwischen Ernster und Unterhaltungsmusik. "Musik für alle" ist dann auch ein Kapitel von Alex Ross' Buch überschrieben. Dass Ross Amerikaner ist, erweist sich aus mehreren Gründen als Glücksfall. Zum einen behandelt er seinen Stoff pragmatisch, nicht ideologisch, zum zweiten interessiert er sich für die Berührungen und den wechselseitigen Einfluss von U- und E-Musik, und zum dritten macht er Schluss mit dem Eurozentrismus der herkömmlichen Musikgeschichtsschreibung. Nun sind die USA nicht der Nabel der musikalischen Welt, aber zwischen New York und San Francisco ist viel Interessantes in den vergangenen hundert Jahren entstanden, von dem man hierzulande nichts weiß, und Ross weiß auf faszinierende Weise davon zu erzählen.
    Einer der Propheten einer eigenständigen amerikanischen Musik war ein
    Europäer: Antonin Dvorak. In einem Zeitungsartikel schrieb er 1893:

    Ich bin inzwischen überzeugt, dass die zukünftige Musik dieses Landes auf den sogenannten Negermelodien gründen muss. Hier muss das wahre Fundament jeder ernsthaften und eigenständigen Kompositionsschule liegen. In den Negermelodien Amerikas entdecke ich alles, was für eine große und edle Schule der Musik vonnöten ist. Sie sind pathetisch, zart, leidenschaftlich, melancholisch, ernst, religiös, kühn, heiter, fröhlich, was immer man will. Es handelt sich um eine Musik, die sich jeder Stimmung, jedem Zwecke anpassen kann. Im gesamten Bereich der Komposition gibt es nichts, was sich nicht aus den Themen dieser Quelle schöpfen ließe.

    Viele Schwarze versuchten, im musikalischen Establishment aufzusteigen, wurden aber von diesem abgewiesen. Alex Ross erzählt dazu eine Reihe von tragischen Geschichten. So versuchte Scott Joplin, der Schöpfer unvergänglicher Ragtimes, vergeblich, seine Oper "Treemonisha" auf die Bühne zu bringen. Harry Lawrence Freeman schrieb zwei Wagner'sche Tetralogien mit schwarzem Personal, von denen nur ein einziger Teil je aufgeführt wurde. Will Marion Cook, der sogar bei Joseph Joachim an der Berliner Hochschule Geige studierte, bekam im klassischen Establishment der USA keinen Fuß in die Tür und verlegte sich auf populäre Musik. Er schrieb Revuen und Musicals und gründete das New York Syncopated Orchestra, für das er den jungen Klarinettisten Sidney Bechet verpflichtete. Und Cook war nicht der Einzige. Die Komponisten moderner E-Musik, die man im Establishment nicht haben wollte, wurden zu einer Kraftquelle des Jazz. Die Beziehungen von E- und U-Musik, die Suche nach einem "Dritten Weg", nach einer "populären Moderne", die modern sein will und sich dem Publikum dennoch nicht verweigert: Das sind gewissermaßen die roten Fäden, die Alex Ross' Musikgeschichte "The Rest is Noise" durchziehen.
    Charles Ives ist eine der interessantesten Persönlichkeiten der amerikanischen Musikgeschichte. Ross zitiert von ihm den Satz:

    Warum die Tonalität als solche verworfen werden sollte, will mir nicht einleuchten. Warum sie immer herrschen sollte, auch nicht.

    ... und brach somit einer der erbittertsten ästhetischen Kontroversen des 20. Jahrhunderts die Spitze ab. Ein anderer Fall ist der schon genannte George Gershwin, dessen Musik von hartgesottenen Avantgardisten genauso geschätzt wird wie vom berühmten Mann auf der Straße. Auch Aron Copland fand seine Variante des "Dritten Weges", desgleichen Leonard Bernstein, dessen "West Side Story" beides ist: Musik unserer Zeit und ungeheuer populär.

    Dass der "Dritte Weg" kein Privileg der Amerikaner war, zeigt Ross mit dem Fall des Deutschen Kurt Weill, dessen "Dreigroschenoper" von Anfang an ein Renner war und bis heute ist. Die Zwanziger Jahre waren überhaupt eine ungeheuer fruchtbare Zeit; nach dem Schock des Ersten Weltkrieges wurde wild experimentiert; man öffnete sich gegenüber dem Jazz, der Volksmusik, der Politik, der Technik und ihren Geräuschen, und was immer herauskam, war interessant, hörens- und bedenkenswert. Oder auch bloß kurios.

    Die Musik schien sich in einer Art ökonomischer Blase zu
    befinden: Ein Komponist konnte sich mit ein oder zwei Aufmerksamkeit heischenden Gesten einen Namen machen, doch eine stabile Laufbahn zu begründen war weitaus schwieriger. Jedem Werk, das klassische Mittel mit modernen Themen verband, war öffentliche Wahrnehmung garantiert. Arthur Honegger zeigte sich sehr geschickt darin und komponierte Stücke namens "Rugby", "Skating rink" oder das viel gespielte "Pacific 231" (über eine Dampflokomotive mit zwei Vorderachsen, drei Hauptachsen und einer hinteren Achse). Der junge tschechische Komponist Bohuslav Martinu schrieb Werke, die ein Fussballspiel darstellten ("Rondo Half-time") oder die jubelnde Menge nach Lindberghs Atlantikflug ("La Bagarre"), Küchengeräte beim Jazztanz ("La Revue de cuisine") oder den Teufel als schwarzen Radfahrer ("The Tears of the Knife"), und schliesslich ein Ballett über Musik selbst ("Revolt"), in dem klassische Musik mit Tanzschlagern kämpft, Grammophone gegen ihre Besitzer rebellieren, Kritiker Selbstmorde begehen, Strawinsky auf eine einsame Insel flüchtet und ein mährisches Volkslied das Happy End rettet.


    Wenig bekannt diesseits des Ozeans ist auch, wie amerikanische Regierungsstellen aktiv in das künstlerische Geschehen eingriffen.
    Insofern ist Alex Ross' Buch auch eine Geschichte der Musikpolitik, nicht nur in so naheliegenden Fällen wie Hitlers "Drittem Reich" und Stalins Sowjetunion.
    Die Darmstädter Ferienkurse, in denen ab 1946 sich die jeweils angesagtesten Vertreter der Avantgarde trafen, eine Hochburg progressiver "Geschmackspolitik", waren eine Gründung der US-Militärregierung, eine Reeducation-Maßnahme. Es war die CIA, die 1952 ein großes Avantgarde-Festival in Paris finanzierte: als Teil des Kalten Kriegs. Auf diesem Festival wurde auch Strawinskys "Oedipus Rex" aufgeführt – und ausgebuht, weil es dem Publikum nicht radikal genug erschien.

    Vor allem aber förderten die Amerikaner die Kunst im eigenen Land. Als Teil des "New Deal" entstand 1935 das "Federal Music Project", das in seinen besten Zeiten 16000 Musiker unterstützte, 125 Orchester betrieb, 135 Kapellen, 32 Chor- und Opernensembles. Es gab Bildungsprogramme für die Massen und billige Operntickets. Die Herrlichkeit dauerte allerdings nicht lange, 1939 wurde das Projekt beendet, durch den Widerstand der Republikaner und aus Angst, kommunistische Strömungen zu unterstützen.

    Ganz abwegig war diese Angst nicht; Moskau förderte gezielt linksorientierte Künstler und die Bildung einer "Popular Front", auch in den USA. Und es gab sympathisierende Komponisten; darunter Charles Seeger und seine Schülerin Ruth Crawford, die ihn später heiratete und die Ross eine der bedeutendsten Komponistinnen der ersten Jahrhunderthälfte nennt. Noch einmal ein tragischer Fall, denn unter der Fuchtel ihres Mannes verkümmerte die Begabung Ruth Crawfords; sie beschränkte sich schließlich auf das Sammeln und Transkribieren von Volksliedern, die später unter anderem von ihrem Stiefsohn Pete Seeger interpretiert wurden.

    Diese ernste, zutiefst bescheidene Frau schrieb einige der komplexesten und großartigsten Musikstücke ihrer Zeit. In ihrem "Streichquartett 1931" nehmen die Anordnungen der Tonhöhe, des Rhythmus, der Notenlängen und Dynamik viel von der Musik der Nachkriegsavantgarde vorweg; in "Cantus 3" wird ein Frauenchor in zwölf Gruppen aufgeteilt und jeder Gruppe ein einzelner Ton der chromatischen Leiter zugeteilt, die dann alle unterschiedlichsten polyrhythmischen Verschiebungen unterworfen werden. Selbst diesen höchst experimentellen Versuchen gab Crawford jedoch eine deutlich erkennbare narrative Gestalt. Der langsame Satz des "Streichquartetts" entfaltet sich als kontinuierliche Klangwelle, und seine Komplexität verbirgt sich unter einer sanft schimmernden Oberfläche.

    Diese Passage zeigt, wie anschaulich und präzise Alex Ross über Musik schreiben kann, sie zeigt aber auch, dass solches Beschreiben von Klangereignissen Grenzen hat. Und hier kommt ein weiterer Trumpf des Buches ins Spiel: Seine Website www.therestisnoise.com . Wer sie anwählt, kann parallel zur Lektüre Klangbeispiele anklicken, kann also hören, was er gerade liest. Auch Ruth Crawfords Streichquartett. Manchmal, etwa bei Karl-Heinz Stockhausens Hubschraubern, in denen gegeigt wird, gibt es auch kleine Filmchen zu sehen. So wird diese großartige Musikgeschichte zum multimedialen Ereignis.
    Kein Einwand? Wie steht es etwa mit der Pop-Musik, mit Jazz, Rock, Schlagern und HipHop? Kann man eine Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts schreiben, ohne ihren populären Stilrichtungen Rechnung zu tragen? Man kann, und man darf. Alex Ross konzentriert sich auf die Musik, die mehr sein will als Unterhaltung. Andernfalls wäre sein jetzt schon umfangreiches Werk völlig aus dem Leim gegangen. Außerdem ist populäre Musik durchaus präsent – als ständige Versuchung, als nagender Vorwurf, aber auch als Einflussgeber- und –nehmer. Viele Jazz- und Popmusiker haben eine klassische Ausbildung, manche haben sogar die Zwölftontechnik studiert. Ein Morton Feldman ließ sich von John Coltranes Jazz anregen, die Popgruppe Velvet Underground übernahm Verfahren der Minimal Music, und auch Brian Eno und David Bowie gehörten zu den Fans von John Cage, La Monte Young oder Philip Glass.

    "Wiederholung ist eine Form der Veränderung"

    … hat Brian Eno einmal gesagt und damit die Grundidee des Minimalismus zusammengefasst. Die Beatles nutzten im Song "Tomorrow never knows" einen Effekt, den sie sich von Stockhausen abgeschaut hatten, und in ihrer Tonbandcollage "Revolution 9" ist ein Akkord aus Sibelius' Neunter Sinfonie zu hören. Aron Coplands "Fanfare for the Common Man" schließlich erscheint in der Stadionhymne "We will rock you" von Queen. So werden die Übergänge von U und E fließend.
    Das musikalische 20. Jahrhundert, so das Fazit nach einer faszinierenden Lektüre, war kein steriles Labor von publikumsfeindlichen Tüftlern. Alex Ross zeichnet es vielmehr als eine gigantische Werkstatt mit vielen Räumen, in denen gesungen und gefiedelt, mit Tonbandschlaufen oder Sinustönen gearbeitet wird, in denen man sich aber auch gegenseitig besucht, zitiert, bekämpft und bestiehlt. Die meisten der Handwerker wollen durchaus, dass man ihnen zuhört – und oft lohnt es sich auch. Manchmal klingt das, was da gespielt wird, sogar richtig schön. Davon kann sich jeder Leser beim Besuch der Website überzeugen.

    Alex Ross: "The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören."
    Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Piper Verlag, München 2009. 702 Seiten, 29,95 Euro. www.therestisnoise.com