Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Geschichte des 1. Mai in Berlin
Zwischen Bürgerkrieg und Politkarneval

Linksextreme Demos, umgestürzte Autos, Gewalt gegen Polizei: Der 1. Mai ist seit 1987 in Berlin ein Tag des Widerstands. Der Protest richtet sich heutzutage vor allem gegen steigende Mieten und die Verdrängung von Menschen aus ihrem langjährigen Lebensraum - ein Thema, das viele Menschen in der Hauptstadt zusammenschweißt.

Von Thomas Weinert | 01.05.2017
    Linke Demonstranten gehen am 30.04.2017 durch den Stadtteil Wedding in Berlin um am Vorabend des 1. Mai gegen steigende Mieten und den Stadtumbau zu protestieren.
    Demonstration linker Gruppen am Vorabend des 1. Mai (dpa/picture alliance/ Britta Pedersen)
    Fee sieht so aus, wie sie heißt: sehr freundlich. Bunte Haare, ein Lächeln im Gesicht. Wieder einmal ist Straßenfest vor ihrem Haus, Friedel 54, Neukölln. Ein Kiezladen für den sozialen Zusammenhalt seit einem Jahrzehnt, es droht die Räumungsklage durch einen Investor aus Luxemburg:
    "Heute machen wir eine Kundgebung hier, weil wir wollen nicht raus. Wir wollen hier bleiben, wir sind ein soziales Zentrum, ein Kiezladen für die Nachbarschaft, wir wollen, dass das weiterhin bestehen bleibt, weil das ein Anlaufpunkt ist."
    Hier will man sich so lange treffen, bis die Investoren wieder abziehen. Fee macht auch akustisch was her, sie hat Mieter aus der Nachbarschaft aufgenommen. Und spielt die Statements ab, die heute so aktuell sind wie vor 30 Jahren, als in Berlin noch keiner wusste, was Gentrifizierung eigentlich heißt. Die Geschichte des 1. Mai beginnt in Berlin 1987 in Kreuzberg, Zeitzeugen treffen sich vor wenigen Tagen am Kottbusser Tor.
    Jonas Schiesser – im nichtrevolutionären Leben heißt er anders, lädt zur sogenannten "Block-Party" ein, er will auf quasi historischem Gelände "ein politisches Festival auf dem Oranienplatz organisieren, mit kreuzbergspezifischen Themen."
    Verdrängung aus angestammten Wohnquartieren, Flüchtlingspolitik, menschengerechte und bezahlbare Wohnungen für alle. Heute wie damals, 1987:
    "Außen WCs. Ich komm aus einer Familie mit sieben Kindern. Verstehst du. Und jetzt stell dir mal das Szenario vor, wenn wir mal alle baden möchten. Und wir hatten kein Warmwasser, nichts. Und die Wohnungen waren echt runtergekommen. Das war schon ne Prozedur, so. Für uns war das normal, wir waren da reingeboren worden, aber in dem Moment, wo wir entdeckt haben, dass es auch ganz andere Standards gibt in Deutschland, da war das schon ein bisschen komisch."
    Politk für die Reichen
    Senol gehörte zur Kreuzberger Gang 36 Boys und er erzählt nicht von Neid, er will Chancengleichheit. Bis heute. Als am 1. Mai 1987 die Gewalt in Berlin zum ersten Mal eskaliert, ist er klein. Michael Prütz sitzt jetzt neben ihm, 64, er hat damals die Kundgebungen organisiert und ist bis heute dabei. Ganz normale Leute hätten damals auch die Barrikaden mit gebaut, das waren nicht nur die Autonomen. Der Senat wollte durch Kreuzberg eine Autobahn bauen, es sei eine unglaubliche Politik gewesen, nur für die Reichen, wie heute.
    Legendär: die Plünderung des Bolle Supermarktes, es waren seine Nachbarn "die aus den Häusern kamen mit Einkaufswagen. Zum Schluss war nur noch ein Sack Blumenerde da. Wir hatten Süßigkeiten für zwei oder drei Wochen. Tatsache wirklich.
    Die Polizei, so Prütz, zeigte sich bis zum Morgen nicht mehr, zog sich zum Halleschen Tor zurück, es war wie ein Volksaufstand, mit dem man nicht mehr umgehen konnte.
    "Die Leute waren extrem wütend darüber. Kein Senat würde das heute mehr so machen. Die würden Bürgerfeste organisieren oder ähnliche Dinge."
    Der 1. Mai in Berlin, er rangiert seither zwischen Bürgerkrieg und Politkarneval. Rapper PTK changiert auch irgendwo dazwischen, ein sympathischer Typ, aber mit Wut im Bauch. Und in Neukölln rappt unsere Fee, anderer Ort, gleiche Probleme:
    "Wann, wenn nicht jetzt, trete ich auf dem 1. Mai auf? Wo diese beiden Themen fast auf dem Höhepunkt der letzten Jahre sind. So hab ich das jedenfalls gefühlt, also ich hab noch nie so viele Leute gekannt, die umziehen mussten oder ihre Wohnung verloren haben oder zwangsgeräumt wurden und ich hab noch nie so viele Leute gekannt, die abgeschoben wurden, im Gefängnis sind oder das Land verlassen mussten wegen anderer Gründe und deswegen bin ich hier und halte die Fahnen hoch für Kreuzberg und alle, die dagegen sind."
    "Wieviel soll ich denn verdienen, dass ich das bezahlen kann, das ist doch übertrieben, damit fang ich gar nicht an. Immer immer mehr wollen Vermieter sanieren. Da ist es klar, dass Menschen ohne Kohle verliern. Immer immer mehr, Allen geht es nur ums Geld. Bah!"
    Michael Prütz, der Aktivist der ersten Stunde, will hier nicht in Revolutionsromantik schwelgen, blickt aber zurück auf 30 Jahre Kampf gegen – wie er sagt neudeutsch Gentrifizierung.
    "Und von daher würde ich diese ganze Angelegenheit am 1. Mai 1987, auch wenn sie nicht für alle Beteiligten schön war, durchaus als eine produktive Geschichte bewerten."