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Geschichte des Kalifats
Islamische Herrschaftsform mit vielen Facetten

Das Kalifat war früher eine islamische Herrschaftsform, mit einem Kalifen an der Spitze, der religiöser und weltlicher Führer war. Der britische Historiker Hugh Kennedy beleuchtet die 1400jährige Geschichte dieser islamischen Regierungsform, vom Tod Mohammeds bis zum sogenannten "Islamischen Staat".

Von Jan Kuhlmann | 22.01.2018
    Koran und Gebetskette
    Im 9. Jahrhundert versuchte Kalif Mamun die Doktrin durchzusetzen, dass der Koran nicht ewig existiert - sondern erst bei der Offenbarung erschaffen wurde. (dpa / picture alliance / Roos Koole)
    Das islamische Kalifat, es ist zum Inbegriff einer Schreckensherrschaft geworden - seitdem die Terrormiliz Islamischer Staat die Institution gekapert hat. Das Kalifat des IS - mittlerweile untergegangen - zeichnete sich aus durch Krieg, Gewalt und Terror. Um sich Legitimation zu verschaffen, griffen die Extremisten auf die lange Geschichte dieser Institution zurück.
    Doch wie so oft bei totalitären Bewegungen, pickten sie sich aus der Vergangenheit das heraus, was in ihr eigenes radikales Weltbild passt. Denn ein einheitliches Konzept eines Kalifats gab es in der fast 1400-jährigen Geschichte des Islams nie, wie der Historiker Hugh Kennedy schreibt:
    "Die Geschichte zeigt, dass es viele verschiedene Arten von Kalifen gab, kriegerische, fromme, intellektuelle, vergnügungssüchtige, inkompetente, grausame und tyrannische. Wer ein aggressives Kalifat sucht, in dem die muslimische Bevölkerung strikt kontrolliert wird, kann in den umfangreichen historischen Dokumenten Vorläufer dafür finden. Wer ein Kalifat sucht, das großzügig und offen für Ideen und Sitten ist, dabei aber selbstverständlich seiner Sicht des Willens und der Absichten Gottes treu bleibt, wird ebenfalls in der historischen Überlieferung fündig."
    Höhepunkt des Kalifats
    Manche sahen den Kalifen als Vertreter Gottes auf Erden. Zu anderen Zeiten war er mehr Vorstandsvorsitzender der muslimischen Gemeinde, ein gewöhnlicher Mensch mit weltlicher Macht. Das Amt kristallisierte sich nach dem Tod des Propheten Mohammed im siebten Jahrhundert heraus. Damals übernahmen zunächst enge Gefährten Mohammeds die Position des Anführers. Kennedy zeichnet die Geschichte in seinem Buch auf mehr als 300 Seiten nach, kundig und eloquent. Der Londoner Professor fragt etwa, wie ein Kalif ernannt wurde. Auch hier gibt es unterschiedliche Antworten. Mal wurde der Kalif von einem Beratergremium gewählt, mal vom Vorgänger ernannt, mal war die militärische Stärke ausschlaggebend.
    Auch hatte ein Kalif nicht immer gleich viel Macht und Entscheidungsgewalt. Einen Höhepunkt erreichte das Amt des Kalifen recht früh, keine 100 Jahre nach Mohammeds Tod. Der Kalif Walid machte in einem Brief seine Vorstellungen von dem Amt sehr deutlich, wie Kennedy schreibt:
    "Der Kalif war zugleich Richter und Interpret der göttlichen Gebote, und dieses Amt hatte ihm Gott und nicht etwa eine Versammlung oder ein Konsens von Menschen übertragen. Die Aufgabe und Pflicht seiner Untertanen besteht in absolutem Gehorsam, und wenn sie von diesem Weg abkämen, hätte es für sie schlimme, sehr schlimme Folgen im Diesseits und im Jenseits."
    Religiöse Rolle des Kalifen
    Trotz dieses Selbstbildnisses Walids war der Kalif kein Herrscher, der allein nach seinem eigenen Willen regieren und entscheiden konnte. Über die Jahrzehnte und Jahrhunderte verlor das Amt zudem seine Macht. Auch Einfluss auf die Religion hatte der Kalif bald nicht mehr. Im 9. Jahrhundert versuchte Kalif Mamun noch, seine Glaubenslehre festzulegen. Er wollte die Doktrin durchsetzen, dass der Koran, das heilige Buch der Muslime, nicht ewig existiert - sondern erst bei der Offenbarung erschaffen wurde. Das einzige Mal in der Geschichte habe sich ein Kalif angemaßt, eine wichtige theologische Frage zu entscheiden, schreibt Kennedy. Doch das Vorhaben scheiterte, nicht zuletzt am Widerstand der Gelehrten.
    "Dieser Vorfall prägte von da an die politische und vor allem die religiöse Rolle des Kalifen. Er verlor die richterlichen Kompetenzen [...] an die professionellen Rechtsgelehrten. Sie bezogen ihre Autorität und Macht nicht vom Kalifen oder einem Staatsbeamten, sondern aus dem Respekt ihrer Kollegen und der Bestätigung durch die Öffentlichkeit, die ihre juristischen Meinungen nachfragte und wertschätzte. Der Kalif war in vielen Angelegenheiten [...] zu einem Herrscher ohne Gesetzgebungsbefugnisse geworden."
    Für Kennedy war der Zerfall ein langwieriger, komplexer Prozess. Dem Kalifat gelang es nicht, die riesige multikulturelle muslimische Welt zusammenzuhalten. Es gab etwa immer mehr nicht-arabische Konvertiten, die weit vom Palast in Bagdad entfernt lebten.
    Sultan und Kalif
    Das Kalifat sei für sie belanglos gewesen, schreibt Kennedy. Das einfache Volk entfremdete sich vom Herrscher, der sich hinter Palastmauern verschanzte. Auch wirtschaftlich brach das Reich zusammen. 1258 stürzten die Mongolen den letzten Bagdader Kalifen. Ein tiefer Einschnitt, meint Kennedy:
    "Nie wieder sollte das Kalifat zu einer politisch unabhängigen Einheit werden, sondern [...] immer den Herrschern [...] und ihrem Vorrang untergeordnet bleiben. Während das Papsttum sich seine zuweilen prekäre politische Unabhängigkeit bis heute bewahrt hat, verlor das Kalifat sie 1258 und gewann sie nie wieder zurück. Mit seiner politischen Unabhängigkeit schwanden auch alle echten Ambitionen auf eine Führungsrolle, die über dynastische Eigeninteressen hinausreichte."
    Auch als die Osmanen das Amt nach ihren Eroberungsfeldzügen übernahmen, sollte es nie wieder seine frühere Bedeutung und Pracht erhalten. Der Titel des Sultans war für die Osmanen wichtiger als der des Kalifen.
    "In osmanischer Zeit war es anscheinend allgemein akzeptiert, dass Macht und Autorität des osmanischen Sultans seinen Anspruch auf den Kalifentitel rechtfertigten; damit verlor dieser Titel jedoch weitgehend seine Wirkmacht. [...] Der Sultan gewann als Kalif keine Autorität, die er als Sultan nicht bereits besessen hätte, und daher trug das Amt kaum etwas zu seiner Stellung bei."
    IS-Kalifat ohne historische Vorbilder
    Die Osmanen entwickelten die Idee des Kalifats so weiter, dass sie die spirituelle Führung der Muslime über die Grenzen ihres Reiches hinaus beanspruchen konnten. Den Untergang der Institution konnte das nicht verhindern. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Kalifat abgeschafft.
    "Das osmanische Kalifat verschwand 1924 eher mit einem Wimmern als mit einem Paukenschlag. Doch trotz dieses demütigenden Endes löste die Abschaffung des Kalifats in muslimischen Ländern weit über die Grenzen der osmanischen Welt hinaus Bestürzung aus [...] Viele Muslime fühlten sich durch diese Regelungen gedemütigt, und manche sahen in einer Wiederbelebung des Kalifats einen Hoffnungsschimmer in dieser ansonsten tristen und deprimierenden politischen Landschaft."
    Daran hat auch der IS versucht anzuknüpfen. Seine Form des Kalifats hat jedoch wenig mit historischen Vorbildern zu tun, das wird aus Kennedys Buch klar. Es ist ein mit leichter Hand und charmantem Ton geschriebenes Werk, auch für Laien gut geeignet. Kennedy erspart dem Leser ein Wirrwarr aus unzähligen Herrschernamen und konzentriert sich auf das Wesentliche. Das Kalifat, das der IS gekapert hat, entmystifiziert er.
    Hugh Kennedy: "Das Kalifat. Von Mohammeds Tod bis zum 'Islamischen Staat'".
    C.H.Beck Verlag, 367 Seiten, 28 Euro.