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Geschichte des Prager Frühlings 1968

1968, das war nicht nur das Jahr der Studentenbewegung, sondern das war auch das Jahr des Prager Frühlings. Die Versuche, die Geschehnisse von damals aufzuarbeiten, sowohl in politischer, wissenschaftlicher wie auch in kultureller Hinsicht, sind noch lange nicht abgeschlossen. Bei einer internationalen wissenschaftlichen Konferenz über den Prager Frühling trafen sich Experten, die sich seit Jahren mit diesem Thema beschäftigen.

Von Kilian Kirchgessner | 19.06.2008
    Der Prager Frühling ist ein Dauerbrenner für Politologen, Historiker und Gesellschaftswissenschaftler - und das nicht nur aus Anlass des 40. Jahrestages. In Prag trafen jetzt all die zusammen, die sich schon seit Jahren mit dem Thema beschäftigen. Die Teilnehmer trugen ein breitgefächertes Panorama zum Jahr 1968 und zum aktuellen Forschungsstand zusammen. Für den Mit-Organisator Jürgen Danyel vom Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung ist es besonders der vergleichende Blick auf die Geschehnisse in Deutschland und in Tschechien, der im Mittelpunkt steht.
    "Es gibt eine gewisse Fremdheit zwischen den tudentenbewegungen im Westen und den Entwicklungen in der Tschechoslowakei. Das hängt mit unterschiedlichen Vorstellungen zusammen. Interessanterweise gab es dann Begegnungen zwischen den Akteuren in Ost und West. Rudi Dutschke selbst und seine Freunde sind Ende März 1968 nach Prag gereist. Es gab Missverständnisse in dieser Diskussion. Die marxistisch argumentierenden deutschen Studenten stießen auf einige Skepsis bei den tschechischen Studenten, die sich gerade vom offiziellen Marxismus lösen wollen."

    Das Jahr 1968 und die Frage nach der jeweiligen Perspektive - auch das stand im Mittelpunkt der Tagung. Denn nicht nur bei den Geschehnissen rund um den Prager Frühling gab es deutsch-tschechische Unterschiede; es gibt sie auch heute noch bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Pavel Kolar ist einer der wenigen Teilnehmer, die beide Perspektiven kennen: Er ist Tscheche, arbeitet aber am Potsdamer Zeitgeschichte-Zentrum. Die Deutschen betrachteten die Ereignisse des Prager Frühlings bis heute immer im Lichte der Studentenunruhen im eigenen Land, sagt er.

    "Was sehr interessant ist für die tschechische Perspektive: dass sowohl die Wissenschaftler als auch die allgemeine Diskussion selbst die Ereignisse sehr stark vom Ende her liest, von Aufmarsch und Niederschlagung her. Das ist die tschechische Perspektive, diese Ereignisse also als eine Tragödie zu beschreiben."

    Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in der Nacht zum 21. August 1968 - er ist bis heute ein nationales Trauma für die Tschechen. Auch 40 Jahre danach erinnert das Fernsehen regelmäßig mit langen Sondersendungen und Wiederholungen der alten Bilder an die Geschehnisse.

    Auch wissenschaftlich gilt die Besatzung als noch nicht aufgearbeitet. Denn obwohl seit 40 Jahren an dem Thema gearbeitet wird, gebe es immer noch zahlreiche offene Fragen, sagt Oldrich Tuma, der Direktor des Prager Instituts für Zeitgeschichte.

    "Das größte Rätsel rund um das Jahr 1968 ist die sowjetische Intervention, wie die Entscheidungswege verlaufen sind und so weiter - alles das also, was das Jahr 68 als internationale Krise erscheinen lässt. Da gibt es nach wie vor großen Forschungsbedarf, aber es liegen gerade in Militär- und Geheimdienstarchiven immer noch eine ganze Reihe von Unterlagen, die nicht zugänglich sind."

    In solchen Fragen bleibt den Historikern nichts anderes übrig, als auf die Öffnung der russischen Archive zu warten. Die Behandlung des Prager Frühlings in der Wissenschaft indes verändert sich auch ohne neue militärische Erkenntnisse: Es ist ein Paradigmenwechsel, der in den vergangenen Jahren stattgefunden hat - von der politischen Betrachtung hin zu einem stärkeren Blick auf die gesellschaftlichen Tendenzen im Umfeld des Prager Frühlings. Auch bei der internationalen Konferenz in Prag machte sich die verschobene, die neue Perspektive deutlich bemerkbar. Im Programm wurde ihr viel Platz eingeräumt: "Die tschechoslowakische Kulturoffensive der 60-er Jahre" etwa war einer der Vorträge überschrieben, ein anderer beschäftigte sich mit dem Prager Frühling als "Schnittpunkt des europäischen intellektuellen Transfers". Selbst die Popkultur hat sich ihren Platz in den wissenschaftlichen Abhandlungen über die Phase des Reformkommunismus erobert - wie die Swinging Sixties in der Tschechoslowakei die Gesellschaft verwandelt haben, das ist das Thema des Historikers Peter Bugge. Seine Forschung sieht er als eines der Mosaiksteinchen, mit denen sich ein Bild der damaligen kulturellen und politischen Strömungen zusammensetzen lässt.

    "Es gab einen Freiraum für eine junge Kultur, die ganz einfach als modern verstanden werden konnte und nicht als entweder kapitalistisch oder sozialistisch. Meine Hauptsache ist es nachzuweisen, warum es nach den sehr harten 50-er Jahren, wo sogar Jazzmusik als entartet definiert wurde in der stalinistischen Tschechoslowakei - warum es schon Anfang der 60-er Jahre möglich war, Rockmusik auch in der Filmindustrie zu benutzen als normal, als progressiv, als Zeichen unserer Modernität."

    Die Konferenz in Prag ist dank dieses breiten Themenspektrums zu einem Barometer der aktuellen Entwicklungen auf dem Forschungsgebiet geworden, das längst nicht mehr nur eine Domäne der Historiker ist. Dass der Teilnehmerkreis dabei bewusst international zusammengesetzt war - dahinter steht ein klares Kalkül. Es geht darum, zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken eine gemeinsame Basis für die weitere Forschung zu etablieren - und darum, die länderspezifischen Blickwinkel zugunsten einer breiteren Perspektive zu öffnen. Der deutsch-tschechische Historiker Pavel Kolar umreißt das Ziel:

    "Ein gutes Beispiel ist die Begrifflichkeit. Die tschechischen Kollegen sprechen ganz automatisch und selbstverständlich über die Normalisierung; der zentrale Begriff der tschechoslowakischen Geschichte nach der Zerschlagung des Prager Frühlings. Während die deutschen Kollegen, die keine Tschechoslowakei-Spezialisten sind, für die ist Normalisierung kein spezifischer Begriff, sie stellen sich darunter etwas ganz Allgemeines vor. Das nur als Beispiel. Es geht also darum, gemeinsame Begriffe zu finden, mit denen wir unsere Erfahrungen, aber auch die wissenschaftliche Analyse betreiben können."