Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Geschichte des Rechts

Populäre Juristen haben es schwer in Deutschland. Noch stärker als in anderen akademischen Zweigen gilt Popularität in der Jurisprudenz als Makel, als eine die eigene Unabhängigkeit gefährdende Anbiederung, und wird allenfalls bei Starverteidigern und Prominentenanwälten geduldet. Der Berliner Rechtshistoriker Uwe Wesel scheut zwar keinen öffentlichen Auftritt, doch seine Popularität hat andere Ursachen. Seine publizistische Sprache, die nicht auf möglichst große Distanz zum Alltag getrimmt ist, nicht auf lebensfremder Kasuistik beruht und stets menschliche Anteilnahme bewahrt, macht ihn zur Ausnahme seiner Zunft. Vor allem aber leitet er sein Denken nicht von der hohen Warte der Fachelite ab, sondern von seiner Stellung als Mensch unter Menschen; er ist populär als Angehöriger des populi, des Volkes.

Florian Felix Weyh | 01.01.1980
    Dabei muß er wie jeder Außenseiter besonders gut sein, um den Fachkollegen wenigstens zähneknirschenden Respekt abzuringen, und so beschämt er seine Beckmesser nun, nach zehnjähriger Arbeit, mit einem Opus magnum, dessen Existenz sie für nicht einmal denkbar hielten: einer allgemeinen Geschichte des Rechts. Bislang gab es sie nicht, weder im deutschen noch im europäischen Raum, und wenn man den Spezialisten Glauben schenken mag, dürfte es sie eigentlich auch gar nicht geben: zu kompliziert, zu verworren, zu wenig zusammenhängend die Materie. Notgedrungen setzt sich die Komprimierung einzelner Gebiete, wie etwa des römischen Rechts auf gerade mal ein Kapitel à 90 Seiten, dem Vorwurf der Ungenauigkeit, ja Fahrlässigkeit aus. Den Detailhistorikern, die bislang das Feld behaupteten, muß die forsche Übersicht ein Graus sein, und Wesels Buch eine lästerliche Anmaßung.

    In die gleiche Klemme gerät der Rezensent gegenüber dem Autor, wenn er nun seinerseits die Materie verdünnt, kondensiert, extrahiert, bis aus dem schönen und logischen, die Fakten nahtlos ins Ornament einfügenden Geschichtsgebäude eine Anmutung wird, manchmal sogar eine Schimäre, ein widersprüchlicher, mal einen Schritt voranschreitender, dann wieder zurückweichender Prozeß. Hier liegt das Motiv für die Skepis, die Wesels Sisyphus-Arbeit aus der Praxis entgegengebracht wird, denn diejenig en, die Prozesse führen, müssen das Prozeßhafte der Rechtsentwicklung von sich weisen. Gleich in welche Epoche man blickt, der Justizapparat funktioniert stets unter der Maßgabe, Recht sei eine absolute Konstruktion, deren Begrenzungen man akze ptieren müsse. Wohin der Dammbruch erst unvorsichtiger, dann gewollter Relativierungen führt, hat uns die Justizkatastrophe nach 1933 gezeigt. Ihrer Beschreibung im drittletzten Kapitel des Buches entnehmen wir, daß wir es im vorliegenden Buch z war nicht mit einem neuen, aber doch mit einem gedämpften Uwe Wesel zu tun haben.

    "Die Haltung der Richter war nicht einheitlich. Allgemein verließen sie sich zunächst auf ihre in der Verfassung garantierte Unabhängigkeit und den Schutz des Ministeriums, fühlten aber zunehmend den Druck der politischen Führung, die besonders im Strafre cht die Disziplinierung der Gesellschaft schnell auf ein militärisches Niveau gebracht hat, mit der Einrichtung neuer Gerichte - Volksgerichtshof, Sondergerichte, Reichskriegsgericht - und mit dem Erlaß immer schärferer Gesetze. Der Kampf gegen den politischen Feind wurde oft an der Justiz vorbei direkt polizeilich geführt, in den Folterkellern der Gestapo und Konzentrationslagern von SA und SS. (...) Nur noch einmal, im Krieg, hat ein mutiger Richter Strafanzeige wegen Mordes erstattet gegen den Chef der Reichskanzlei, Philipp Bouhler, wegen der sogenannten Euthanasieaktion. Es war ein Vormundschaftsrichter am Amtsgericht Brandenburg, Lothar Kreyßig, der festgestellt hatte, daß seine Mündel systematisch umgebracht wurden. Er riskierte viel, wurde aber nur in den vorzeitigen Ruhestand versetzt."

    Durchaus gewöhnungsbedürftig, mit welch gelassener Neutralität Wesel den Stoff präsentiert, zumal in einem Kapitel, das zu Emotionen reichlich Anlaß gibt. Hier zollt er seinem Prinzip Entindividualisierung Tribut. Zwar finden in seine Rechtsgeschichte viele Personen Eingang, selten aber deren biographische Verstrickungen. Es sei dafr, dürfte Wesels Gegenargument lauten, kein Platz gewesen, aber wer implizite Kenntnisse voraussetzt - etwa über die unheilvolle Wandlung des preußischen Juristen Franz Schlegelberger zum willfährigen Nazibüttel und später wieder geachteten bundesrepublikanischen Publizisten -, versteckt seine Vorbehalte gut. Der Beifall aus dem linken Lager wird für Wesel diesmal wesentlich zurückhaltender ausfallen als sonst, denn nie schrieb er so wenig polemisch, so unironisch, so formal-korrekt, bisweilen fast kanzleisteif. Indem seine Rechtshistorie ein Buch für alle sein soll - für Studenten wie für Praktiker, für Laien wie für Fachleute - bleibt ihm stilistisch nur das trockene Brot des Berichterstatters übrig.

    Daß ihm die konservative Kritik dennoch "linksgewirkte Konstruktionen" vorwirft, findet seine Ursache im generellen Mißtrauen der juristischen Zunft gegenüber ihren Historikern. Sie rangieren auf der internen Werteskala in etwa auf Höhe der Pathologen in der Medizin - exzentrische Gestalten mit unverdaulichen intellektuellen Neigungen. Und diese enthalten ein nicht unbeachtliches Gefahrenpotential. Wer die rund 600 Seiten Rechtsgeschichte gelesen hat - und sich als Laie durchaus manchmal quälen muß, etwa im römischen Recht - erhält einen Gesamteindruck unweit der politischen Position, die Uwe Wesel sonst in aphoristische Pointen drechselt. Der wahre Wesel wirkt im Unterbau. Rechtsentwicklung, so seine Grundeinstellung, läßt sich über die Jahrtausende nicht ohne Anbindung an die Besitzverhältnisse denken - ein krasser Widerspruch zur geläufigen Auffassung, sie steige aus dem Dunkel philosophischer Ideen auf. Im Gegenteil:

    "Keiner der antiken Rechtsphilosophen beschäftigte sich mit der Frage einer Definition von Recht. Es ging immer um Gerechtigkeit. Erst seit Kant gibt es eine große Zahl von Versuchen, das Recht unabhängig davon zu definieren, 'abstrakt'. Recht und Gerechtigkeit, und, was letztlich das gleiche ist, Recht und Moral werden begrifflich klar getrennt, was natürlich auch Trennungsprozessen entspricht, die in der allgemeinen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft stattfanden, oder deutlicher: in Zusammenhang standen mit der sozialen Ungerechtigkeit ihres Rechts."

    Man muß bei der Lektüre ein feines Ohr haben, um zu erkennen, daß Uwe Wesel sich nichts vergibt. Selbst an dem Punkt, wo er der philosophischen Idee Einfluß auf die Entwicklung zubilligt, bei Kant, verweist er gleich wieder auf ihre soziale Bedingtheit. Und Kant ist ein Nachzügler, die überwiegende Zahl unserer heute noch gültigen Grundregeln geht auf die römische Antike zurück, aufs Gedankengut einer aggressiven Sklavenhaltergesellschaft.

    Fast schlimmer als die Preisgabe der idealistischen Position dürfte für die Vertreter der bewahrenden Rechtspflege der aufschimmernde Horizont der Utopie sein. Denn wenn es etwas schon einmal gegeben hat, läßt es sich nicht mehr mit dem Argument der Unpraktizierbarkeit vom Tisch wischen. Wesel macht sich nachgerade einen Jux daraus, auf Nebenlinien, Verdrängtes und Untergeganges im Duktus verpaßter Chancen hinzuweisen. Zwar läuft seine Darstellung pflichtgemäß auf den Ist-Zustand der Bundesrepublik Deutschland zu, aber sie folgt einer physikalischen Zeitachse, keiner zwingenden Notwendigkeit eines sich verwirklichenden juristischen Weltgeistes. Angesichts der eröffneten Vergleichsmöglichkeiten schneidet unser funktionell vielleicht geschmeidiges, aber durchaus nicht in allen Punkten demokratisches römisches Erbe bisweilen erstaunlich schlecht ab. Grundgedanke der Wesel'schen Geschichtsauffassung: Wir sind nicht am Ende. Wir sind nicht perfekt. Wir sind nicht einmal sonderlich originell; es ginge auch anders.

    "Und so führt uns die herkömmliche Rechtsgeschichte im Grunde immer nur durch dasselbe Riesengebäude, in dem wir uns auch heute noch bewegen. Keine Sicht nach draußen, kein Überblick von außen, keine Kenntnisse des Grundrisses und wenig Ahnung, wo es überhaupt liegt."

    "Vergleich" also lautet das Schlüsselwort zur gewaltigen Pionierleistung Uwe Wesels. Vergleich als Horizonterweiterung, Gewißheits-Erschütterung und, notabene, nicht ungefährliche Relativierung. Damit gerät der Laie in eine bessere Position als der fachlich geprägte Leser, seine Unbefangenheit erweist sich als Vorteil. Denn in vorschriftlicher Zeit einsetzend, überschreitet Wesel den Rahmen gängiger Texthermeneutik. Ein Zehntel des Buches tastet er sich im Nebel vergleichender Ethnologie voran - gleichermaßen spannend wie umstritten, weil spekulatives Denken der sich als exaktes System begreifenden Jurisprudenz ein Greuel ist. Aus ihrer Sicht betreibt er damit "weiche Wissenschaft", operiert mit Analogien und Schlüssen, die dem Anthropologen freilich weniger kühn erscheinen als dem Juristen. Geöffnet wird eine Tür zur Welt, nicht nur einen Spalt, sondern ziemlich ausladend. Hereinspaziert kommt die bürgerliche Kleinfamilie:

    "Immer sind es grundsätzlich eine Frau, ein Mann und ihre Kinder, die zusammenleben. Die kleine Familie ist sehr alt, zwischen 50.000 und 500.000 Jahre, wobei die höheren Schätzungen wohl die richtigen sind. Der Ursprung dieser Familien ist zurückzuführen auf den aufrechten Gang, der dazu führte, daß die Kinder früher geboren wurden und bei ihrer Geburt zunehmend hilflos waren, also länger angewiesen auf Pflege, die geleistet wurde von den Frauen. Längere Hilflosigkeit (Neotenie) bedeutet längeren Einfluß auf geistige Entwicklung, Zunahme von Lernen. Das war der wichtigste Beitrag der Frauen zur Entwicklung von Kultur. Ihre Belastung mit der langen Sorge für die Kinder führte zur Arbeitsteilung der Geschlechter: Die Männer jagen, die Frauen sammeln. Diese Arbeitsteilung war nicht die logische, wohl aber historische Folge dieser Belastung der Frauen. Die Familie ist diejenige Einheit, in der sie wieder aufgehoben wird durch gemeinsame Verteilung der Produkte und gemeinsamen Konsum."

    Je nach Position wird man es für eine Leistung oder für eine Unart halten, in solch atemraubender Dichte Entwicklungen zusammenzufassen. Doch selten stößt man bei Wesel auf eine logische Irritation, er verblüfft durch den reibungslosen Ablauf seines historischen Räderwerks. Eins greift da ins andere, und nur die durchgängig gehaltene Präsens-Form bereitet manchmal Unbehagen - wie in diesem Fall. Denn natürlich ist das kein Augenzeugenbericht, sondern eine konjunktivische Annahme über die frühe Jägergesellschaft. Das Prinzip Präsens transportiert - jenseits seiner guten Lesbarkeit - mehr oder minder offen die Wertmaßstäbe des Autors. Stichwort Jagdwild:

    "Regelmäßig steht es dem zu, der es erlegt hat. Aber häufig wird übrsehen, daß es ein sehr flüchtiges Eigentum ist. Seine Bedeutung liegt nicht im Recht des Verbrauchs, sondern im Vorrecht, darüber zu bestimmen, wie es verteilt wird. Dadurch erhöht der Jäger Prestige und Einfluß, schafft sich Allianzen. Formale Zuordnung der Beute und hohe Wertschätzung von Großzügigkeit gehören zusammen. Großzügigkeit ohne einen Begriff von Eigentum kann es nicht geben. Um etwas weggeben zu können, muß man vorher etwas haben, und andere nicht. Eigentum hat in bürgerlichen Gesellschaften die Funktion, sich die Arbeit anderer anzueignen. In Jägergesellschaften ist es umbekehrt. Es ist ein Mittel, das Ergebnis der eigenen Arbeit anderen zukommen zu lassen."

    Voilà, da haben wir den alten Wesel, den juristischen Rabauken, der in seinen Lehrbüchern die "herrschende Meinung" als fünfte Gewalt anprangert und sich mit allem anlegt, was dem Establishment lieb und teuer ist. Diesmal tritt er allerdings maskiert auf; Reizvokabeln wie "herrschende Meinung" sucht man vergebens. Seine einzige Provokation ist eine sehr systemkonforme: das Eigentum. Eigentum ist die Linse, durch die Wesel die jeweiligen Rechtsgebäude betrachtet. Nur konsequent, denn wenn unser heutiger Status quo - Kapitalismus pur - am vorläufigen Ende der Geschichte steht, erwartet man, daß der historische Längsschnitt nachvollziehbare Gründe dafür liefert. Eine Besatzungsmacht hat Spuren hinterlassen:

    "Die Römer sind die ersten gewesen, die das Eigentum juristisch auf den Punkt gebracht haben. Sie waren es, die zuerst dafür ein juristisches Instrumentarium entwickelten, speziell für den Schutz von Eigentum. Bei ihnen ist das entstanden, was wir heute Eigentum nennen, nämlich die Zuordnung einer Sache einzig und allein zu einer Person in der Weise, daß ausschließlich sie völlig frei verfügen kann, unter Lebenden und von Todes wegen."

    Mit den Römern beginnt das Recht, kompliziert zu werden. Da sie ohne Skrupel ihre Sklaven als Sachen behandelten, mußten sie aufwendige Abstraktionen schaffen, um diesen lebendigen Sachen Handlungsspielraum zu ermöglichen. Nicht wenige geschäftliche Angelegenheiten wurden von ihnen erledigt, zwar nicht als rechtsfähige, aber doch als geschäftsfähige Subjekte. Rechtsfähig war nur einer: der römische Hausvater. Seine Kinder, seine Frau und seine Sklaven konnten allenfalls "Taschengeldgeschäfte" betreiben, und erwiesen sie sich als kaufmännisch begabt, fiel der Gewinn dem Pater familiae zu. Lange schleppten wir die patriarchalische Familie mit ihrem absoluten Oberhaupt und den ihm rechtlos unterworfenen Subjekten mit uns herum. Bis 1875 galten noch die aus spätrömischer Zeit stammenden Stufen der Geschäftsfähigkeit, denen zufolge erwachsene Kinder erst mit 25 volljährig wurden; und das war schon eine Verbesserung gegenüber der frührömischen Regelung, erst beim Tode des Vaters von Bevormundung freizukommen. Man kann fast von einem Wunder sprechen, daß gegen die Granitfelsen des römischen Rechts, die überall im Abendland der Verwitterung widerstanden, partielle politische Emanzipation überhaupt Fuß fassen konnte. Selbst der Begriff entstammt der römischen Jurisdiktion:

    "Es gab eine Möglichkeit, bei Lebzeiten des Vaters rechtsfähig zu werden. Man nannte das emancipatio, die Entlassung von Hauskindern aus der väterlichen Gewalt. Das ist die ursprüngliche Bedeutung des heute weit verbreiteten Wortes Emanzipation. Ein sehr umständliches Rechtsgeschäft, in vielen Akten, mit mehreren Personen. Es beruht auf der spitzfindigen Anwendung jener Vorschrift in den Zwölftafeln, die den dreimaligen Verkauf des Sohnes verbot und daran diese erwünschte Folge knüpfte. Also wurde er dreimal mit der mancipatio an einen Dritten übertragen, der bei diesem Scheingeschäft als Treuhänder mitwirken und den Erwerb zweimal wieder rückgängig machen mußte. (...) Beim dritten Mal war die väterliche Gewalt erloschen."

    Seine Kinder zu verkaufen, kam nicht einmal dem römischen Patriarchen in den Sinn. Es handelte sich um eine juristische Abstraktion, die in der nicht vorhandenen Dienstleistungsgesellschaft - dafür hatte man ja Sklaven - Fremdarbeit ermöglichen sollte:

    "Verschuldete Bauern konnten ihre Söhne anderen gegen Bezahlung zur Arbeit überlassen. Da es Dienstverträge damals noch nicht gab, geschah dies mit der Manzipation, als Verkauf mit Übertragung von Rechten, der dann nach einiger Zeit wieder rückgängig gemacht wurde."

    - Auch hier ganz deutlich der Eigentumsgedanke als Basis der Rechtsübertragung - Arbeitsleistung als Menschenkauf auf Zeit. Das hat sich lange im Bewußtsein gehalten, und mancher Unternehmer mag diese Konstruktion auch heute noch attraktiv finden. So kompliziert das römische Recht mit seinen formalen Finessen, so unverhohlen ist es in seiner ideologischen Ausprägung, eben nicht republikanisch, sondern feudal. Ganz anders die antiken Nachbarn in Griechenland.

    "In Strafverfahren waren es normalerweise 500 Richter, bei Privatstreitigkeiten 200 bis 400. Kein anderes Volk wird dafür jemals wieder soviel Zeit geopfert haben. Die 6.000 Geschworenen erschienen morgens auf der Agora und wurden von den Archonten auf die einzelnen Gerichte verteilt. Durch das Los. Dafür gab es raffinierte Richterlosmaschinen (kleroteria), in die die Namenstäfelchen (pinakia) der Richter eingesteckt wurden. Diejenigen, die ausgelost waren, erhielten für diesen Tag Diäten." Utopieverdächtig? Es ist ein Wahl-Recht, stark von Stimmungen, weniger stark von formalen Argumenten abhängig. Im Einzelfall kann es der Gerechtigkeit gleichermaßen gedient wie geschadet haben, alle juristischen Modelle sind nur Annäherungen an ein gedachtes Ideal. Ein weiterer Punkt macht dieses freilich zum zweifelhaften Vorbild:

    "Aber (...) zwei Drittel der Menschen waren ausgeschlossen. Die Frauen und die Sklaven. Ob man heute im Rückblick die athenische Verfassung als radikale Demokratie ansehen würde, wenn es umgekehrt gewesen wäre? Also zum Beispiel die Frauen mit den Rechten der Männer und diese so rechtlos, wie die Frauen es damals waren?"

    Frauen kommen in der Geschichte des Rechts nicht vor, und so bemüht sich Uwe Wesel, ihnen wenigstens Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem er immer wieder seinen Blick auf ihre Lage richtet. Kaum eine historische Gesellschaftsform hat in der Verteilung der Güter und dem Mitspracherecht bei Entscheidungen auch nur ungefähr das Gleichheitsprinzip erfüllt. Recht ist immer von Männern für Männer gemachtes Recht gewesen, erst in diesem Jahrhundert kommen Frauen zu Wort. Überspitzt könnte man sagen, daß die juristische Elite zwei Gruppierungen überhaupt nicht leiden kann: Frauen und Laien, unbotmäßige Eindringlinge in ein ausschließlich eingeweihten Männern vorbehaltenes Gebäude. Beiden Ausgestoßenen leistet Uwe Wesel subversive Türöffnerdienste. Gäbe es noch so etwas wie einen verbindlichen Bildungskanon, müßte seine "Geschichte des Rechts" zu einem Standardwerk avancieren, und zwar nicht wegen seiner enzyklopädischen Dichte, sondern weil es jedem Leser Haltungen abverlangt. Vor diesem Hintergrund relativieren sich die beiden Haupteinwände der Fachkritik zu verständlicher, aber ein wenig kleinkarierter Pingeligkeit. Zum einen wird Wesel angekreidet, nicht in jedem Fall den aktuellen Forschungsstand zu referieren - ein Vorwurf, der für einen Naturwissenschaftler berechtigt wäre, in der interpretationsoffenen Geistes- und Sozialgeschichte aber von minderer Dringlichkeit ist. Gegen die augenfälligen subjektiven Auslegungen Wesels verblassen eventuelle Forschungsrückstände zu Marginalien, denn natürlich ist dieses Geschichtswerk von der Person seines Verfassers gar nicht abzulösen.

    Gewichtiger schon der zweite, der Auslassungs-Vorwurf. Er geht zunächst an den Verlag, denn eine gut komponierte, flüssig geschriebene Rechtsgeschichte hätte auch noch zwei- bis dreihundert Seiten mehr vertragen. Hier ist Zaghaftigkeit zu bemängeln, die inhaltlich einen wichtigen Aspekt unterschlägt. In Wesels Weltgebäude fehlt das historisch junge, aber für die Zukunft immens bedeutsame Urheberrecht gänzlich. Es ist deswegen so bedeutsam, weil sich der materielle Eigentumsbegriff im Medienkapitalismus immer stärker in Richtung auf den immateriellen Besitz hin verschiebt. Hier ließe sich für die Zukunft aus der Vergangenheit einiges lernen.

    Soll man schließlich den Buchuntertitel "Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht" wörtlich nehmen? Das dräuende EU-Recht mit seinen vielfältigen Kompetenzüberschneidungen kommt ein wenig kurzatmig daher, aber es ist ‘work in progress’ und damit der Vogelperspektive Wesels schlecht zugänglich. Strenggenommen müßte sogar das ganze Kapitel "Bundesrepublik" entfallen. Würde das Buch mit der DDR enden, gäbe dies zwar zu allerlei politischen Munkeleien Anlaß, wäre aber logisch korrekt: Geschichte ist das, was hinter uns liegt - nicht das, worin wir leben.