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Geschichte einer Hirnwäsche

Celeste, deutsche Studentin in San Francisco, versteht die Welt nicht mehr. Nach einem ganz normalen Ausflug in die Wüste verschwindet plötzlich ihr Nachbar Christopher spurlos. Doch bald dämmert dem Leser, dass auch mit der Heldin des Romans etwas nicht stimmt.

Von Walter van Rossum | 29.05.2005
    Vielleicht, verehrter Hörer, hören Sie mir gerade im Auto zu. Vielleicht befinden Sie sich auf dem Heimweg. Ich stelle mir vor, Sie waren wegen komplizierter Geschäftsverhandlungen fast zwei Wochen unterwegs in Frankreich und in der Schweiz. Das war anstrengend. Aber es ist gut gegangen. Die Verträge sind unter Dach und Fach. Sie lehnen sich entspannt zurück. Es bleibt Ihnen nicht viel Zeit. Morgen geht es schon weiter. Sie genießen die Fahrt in Ihrem schönen großen Auto. Und Sie freuen sich auf Ihr Zuhause, auf Ihre Gattin und die beiden reizenden Kinderchen. Wie Sie telefonisch bereits erfahren haben, wird auch Ihre Mutter kommen - sie wohnt ja in der Nachbarschaft. Sie ist zwar auch schon 81 - aber eigentlich noch prima in Schuss, die Gute. Mit Literatur haben Sie eigentlich nicht viel im Sinn, aber nach den langen Autofahrten stehen Ihnen die sogenannten Aktualitäten der sogenannten Mediengesellschaft bis Obenhin. Wir können Sie verstehen und freuen uns, dass Sie bei uns eingeschaltet haben. Leider müssen wir Sie jetzt aus Ihrem Vergnügen, als Sie selbst genüsslich über die Autobahn zu rauschen, etwas herausreißen. Bitte verzeihen Sie uns, es ist ja auch nicht ernst gemeint - und eigentlich nur ein Beispiel. Und das geht so:

    Wenn Sie jetzt gleich die nächste Ausfahrt abbiegen, dann müssen Sie nur noch circa 800 Meter zu Ihrem hübschen Eigenheim zurücklegen. Sie genießen bereits die vertraute Atmosphäre und erfreuen sich an der schönen Wohnlage. Und jetzt, da Sie bereits in die Straße einbiegen, wo Sie wohnen, entdecken Sie Ihre Mutter, die unterwegs ist zu Ihrem Haus, um pünktlich wie stets zum Kaffee und zu Ihrer Begrüßung zu erscheinen.

    Sie lächeln und schwungvoll fahren Sie mit dem Auto an die Bordsteinkante, lassen das rechte Wagenfenster hinuntergleiten und fragen aufgeräumt: "Na, junge Frau, kann ich Sie ein Stück mitnehmen?" Empört starrt Ihre Mutter in das Auto und schnauzt Sie an: "Was fällt Ihnen ein, Sie Flegel! Hier zwanzig Meter weiter wohnt mein Sohn, und der wird Ihnen schon zeigen, wen Sie mitnehmen können." Und eilig hastet sie weiter und biegt bereits die Auffahrt zu Ihrem Haus ein. Sie sind verdutzt, aber auch besorgt. Vielleicht war das kein guter Einfall, die alte Frau so zu erschrecken, aber wer hätte gedacht, dass sie nicht ihren eigenen Sohn sofort erkennt. Und dann sind Sie auch schon selbst vorgefahren. Da stehen bereits Ihre Frau und Ihre Tochter. Sie steigen gutgelaunt aus dem Auto und rufen Halihallo! "Sie wünschen?" fragt Ihre Frau mit unverkennbarem Ärger in der Stimme. Ihre Mutter schüttelt aufgebracht den Kopf und Ihre reizende Tochter klammert sich an Ihre Frau und fragt ängstlich: "Was will der Mann, Mama?"

    Man könnte die Geschichte jetzt noch ein paar Minuten weiterspinnen, allerdings nicht allzu lange, denn je nach Ihrer Verfassung würde es wohl nur zwanzig Minuten oder vielleicht sogar eine halbe Stunde dauern - dann wären Sie ein zitterndes verzweifeltes Nervenbündel, schnurstracks unterwegs zum Zusammenbruch. Nichts erinnerte Sie mehr an den erfolgreichen, selbstsicheren Geschäftsmann, der Sie gerade noch waren. Es ist nämlich so, wenn Sie sich in der Welt nicht mehr verstehen und die Welt sich offenkundig nicht mehr an Sie erinnert, dann ist der Kollaps nahe. Binnen kurzer Zeit verlieren Sie die Orientierung und werden - irre.

    Jetzt allerdings, verehrter Hörer, werden Sie aus unserem Beispiel entlassen, wir erlauben uns später noch einmal auf Sie zurückzukommen, einstweilen wünschen wir Ihnen eine geruhsame Fahrt. Es war hoffentlich nicht völlig überflüssig, Sie an die enorme Fragilität des Menschen zu erinnern. Vor allem aber sind wir dank Ihrer Hilfe endlich angekommen im letzten Roman von Leander Scholz: Fünfzehn falsche Sekunden.

    " Wenn man die Welt nicht mehr versteht, stellt man lieber nur sich in Frage, als alle anderen für verrückt zu erklären. Denn das könnte am Ende noch das kleinere Übel sein. Meine Vergangenheit verschwamm zusehends. Wahrscheinlich eine Folge des Schocks, den ich selbst am wenigstens einschätzen konnte. Auf jeden Fall bereitete er sich gang langsam in meinen Gehirnregionen aus und durchdrang mit zielstrebiger Sicherheit meinen ganzen Körper. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, die unhöflich gähnenden Schubladen zu schließen. "

    Die Heldin des Romans versteht die Welt nicht mehr. Sie heißt Celeste und sie ist eine deutsche Studentin, die seit einem Jahr als Studentin in San Francisco lebt. Die Geschichte ihrer Irritation beginnt mit einem ganz normalen Ausflug in die Wüste, unweit von San Francisco. Sie wird begleitet von Christopher, der in dem selben Appartmenthaus wie sie wohnt. Überraschend stoßen die beiden bei ihrem Ausflug auf eine heiße Quelle. Während sie den Tümpel in Augenschein nehmen, entdecken sie, dass der Sand um das Wasserloch von seltsamen Insekten wimmelt.

    " In diesem Moment schrie Christopher mir zu, ich solle mich auf keinen Fall bewegen. Er hatte die Arme gehoben, beinahe gestreckt in den Himmel, als wollte er dem Flug der Insekten eine Richtung geben. (...) Über hundert Meter entfernt sah ich, wie eine schwarze Wolke in der Nähe des Wasserlochs langsam dünner wurde. Ich konnte erkennen, dass Christopher immer noch an der gleichen Stelle stand, von der ich weggerannt war. Die aufrechte und starre Haltung der gestreckten Arme, in der er wohl die ganze Zeit ausgeharrt hatte, wirkte auf mich wie die Ansicht eines abgefressenen und ausgedorrten Baumes, von dem nur noch der tragende Stamm und zwei kümmerliche Äste übriggeblieben waren. Dann brach er zusammen. "

    Auch Celeste bricht zusammen. Als sie wieder zu sich kommt, versorgt Christopher sie mit kühlenden Wasser. Kurz danach aber verschwindet er spurlos. Und damit nimmt das Unheimliche seinen Lauf. Das heißt aber nicht nur, dass Celeste bei ihrer Suche nach dem verschwundnen Christopher in eine Serie von haarsträubenden Situationen gerät - sondern etwas erscheint an der jungen Frau von Anfang an selbst unheimlich. Es ist zum Beispiel keineswegs so, das sie mit Christopher eine feste Beziehung verbindet. Es ist kaum mehr als eine nachbarschaftliche Freundschaft, in die sie im Laufe der Zeit ein leises erotisches Knistern eingemischt hat. Kaum mehr. Wieso aber fühlt sich Celeste zu aufwändigen Recherchen verpflichtet - zumal keine konkreten Anzeichen für ein Verbrechen oder eine Notlage erkennbar sind? Irgendetwas scheint die Studentin in dieses Abenteuer hineinzusaugen. Und die Heldin gibt sich so sorglos dem Dunkel anheim, dass man glauben könnte, sie sei irgendwie ferngesteuert, programmiert.

    So begibt sie sich nicht bloß einfach in Christophers Wohnung, weil die Tür offen steht, sie nimmt sogar ein ausführliches Schaumbad in seiner Badewanne. Und selbst der Versuch eines Unbekannten, in die Wohnung einzudringen, hält sie nicht davon ab, nackt in Christophers Bett zu schlafen. Was nicht gerade zu hübschen Träumen beiträgt. Aber auch im Wachzustand flackert ihre Weltberührung:

    " Ich stellte die Herdplatte an und empfand die Wohnung schon wie mein eigenes Zuhause, auch wenn ich ein schlechtes Gewissen hatte. Eine Weile starrte ich die kleine Maschine an. Eine komische Vorstellung, dass das Wasser darin so heiß wird, bis es gezwungen ist, nach oben zu steigen und sich durch ein feines Sieb zu drängen. Eine ganz schön gemeine Erfindung, einem keinen anderen Ausweg zu lassen, als sich einen trichterförmigen Behälter hochzuquetschen und dabei auch noch mit braunem Pulver zu vermischen. Wie um diesen Vorgang zu begleiten, hielt ich meine flache Hand ganz nah an die Espressomaschine. (...) Ich probierte aus, wie dicht ich meine Hand dem Herdfeld nähern konnte, ohne mich zu verbrennen. Millimeter genau. Nur eine kleine Bewegung, und meine Haut wäre an der schwarzen heißen Platte kleben geblieben. (...) Das Wasser in der Espressomaschine begann zu brodeln. (..) Der Druck musste jetzt enorm hoch sein und würde in ein paar Sekunden die kleine Wassermenge restlos erfassen. Eine Art turning point in der Lebensgeschichte dieser Millionen von Wassertropfen. In dem Moment, als die kleine Maschine von einem Zischen beherrscht wurde, tippte ich mit einem Finger dagegen, und sie kippte um. Eine kleine Menge braunes Wasser lief aus dem Kopf der Espressomaschine. Es sah aus, als hätte sie jemand erschossen. So etwas passiert mir normalerweise nur aus Versehen. Das braune Wasser lief über den Herd und bahnte sich entlang der Rillen auf der Spüle seinen Weg zum Ausguß. Es gab niemanden, dem ich dafür die Schuld hätte geben können. Ich fühlte mich apathisch und befreit zugleich. Und ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass wirklich ich das getan hatte. "

    Dann klingelt das Telefon in der fremden Wohnung. Am anderen Ende spricht Christophers Bruder, der ihre einige beunruhigende Andeutungen macht, und der sich mit ihr treffen will - als würden die beiden gemeinsame Sache machen. Doch längst bewegt sich Celeste in einem psychischen Milieu, wo alles als Spur und Bezug erscheint, und die Explosion der Zeichen sie in Unlesbarkeit verkehrt.

    " Tief in mir drin hörte ich den kindlichen Satz: Bloß keinen Fehler machen! Als käme es drauf an, so genau wie möglich zu sein, und zwar gerade deshalb, weil ich nicht wusste zu welchem Zweck. Selbst die geliebten Straßenbahnen quietschten an diesem Tag abartig schrill, als wollten sie mir die Idee, einfach so einzusteigen und ziellos herumzufahren, gründlich ausreden. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass die Stadt heute keinen Platz für mich hatte. Jemand rief go, go, go! Und meinte nicht mich. (...) Und in dem Gefühl, die Aufforderung nicht verstanden zu haben, der ich gehorchte, rannte ich jetzt los. "

    Ebensowenig verständlich ist ein anderes Erlebnis: Als Celeste Ihre Wohnung betritt, muss sie feststellen, dass sämtliche persönlichen Gegenstände verschwunden sind. Übrig bleibt nichts als die anonyme Grundausstattung, die sie bei ihrem Einzug vorgefunden hat. Natürlich fehlt auch der Computer und ihre Sicherheitsdisketten: die Ergebnisse eines einjährigen Studiums. Im Eisschrank befindet sich nicht einmal mehr eine angebrochene Senftube. Dafür aber eine Glasschale...

    "... mit einer Art Fleischfüllung. Genau in der Mitte sorgfältig platziert. (..) Es handelte sich nicht um irgendein Fleisch. Was ich da vor mir im erleuchteten Kühlschrank sah, war ganz klar ein Gehirn. Ich weiß nicht einmal, ob man bei einem Gehirn überhaupt von Fleisch spricht. (...) Dort, wo einmal der schützende Hinterkopf gewesen sein musste, sah das Gehirn besonders verletzlich aus. Zwischen den beiden dicht gedrängten Fleischknäueln hatte sich etwas Blut gesammelt, ein blutiger Miniatursee zwischen zwei rosagrauen Gebirgsmassiven, die ein beinahe schneeweißes Tal umschlossen. Eine sehr friedliche Szene, in den falschen Farben allerdings. Fehlte nur noch der rieselnde Schnee. (...) Es sah aus, als würde das Gehirn schwitzen. Überall auf den äußeren Windungen sammelten sich kleine schleimige Tropfen, wie schmutziges Schmelzwasser, das gleich in die Gehirntäler hinabstürzen würde. Die Tropfen stellten ein Gemisch aus dunkelgrünen, aschfarbenen und hellrosa Schlieren dar. In diesem Moment floss der blutige Miniatursee und verzog sich zu einem langen zähflüssigen Faden. "

    Wir sind geneigt, es mit der Heldin zu halten, das heißt, uns heftig in die nächst gelegene Kloschüssel zu übergeben. Doch wir sind zugleich wie Celeste auch überaus fasziniert. Das Geheimnis des Menschseins wird von einem Organ gepulst, dessen unfassbare Komplexität im makabren Widerspruch zu seiner Erscheinung steht - getarnt als ein schwach strukturierter Haufen dünner Därme. Und so ähnelt der Anblick eines Hirns in keiner Weise dem Anblick eines BMW oder Rolls-Royce Motors, in dem sich der Mensch als Schöpfer einer großartigen Technik wiedererkennt. Der Anblick eines Hirns vermittelt dem Betrachter hingegen das schwindelerregende Gefühl, auf einer unbegreiflichen, obszönen Eiweißmasse zu gründen.

    Und ebenso scheint Celeste allmählich von einem unbegreiflichen Programm gesteuert zu werden. Während sie sich auf der Suche nach ihrem verschwundnen Freund Christopher wähnt, scheint irgend jemand sie selbst zu jagen und zu genau vorhergesehenen Punkten zu führen. Was immer sie macht, immer wird sie schon erwartet. Doch was geschieht da eigentlich?

    Tatsächlich trifft sie schließlich Christopher. Er lebt in einem dunklen Wohnung, die zu einer riesigen Villa gehört, die so eine Art Klinik oder medizinische Forschungslabors beherbergt. Erstaunlicherweise ist dieses Zimmer mit all den Gegenständen sorgfältig eingerichtet, die aus Celestes Wohnung verschwunden sind. Noch erstaunlicher indes ist der Wunsch, der Celeste befällt, nämlich in dieser durch und durch unheimlichen Umgebung auf der Stelle mit Christopher zu schlafen.

    " Behutsam schloss er die Tür zum Badezimmer, drehte sich in meine Richtung und fragte, warum ich den Slip anbehalten hätte. (...) 'Möchtest du', fragte er ganz selbstverständlich, 'dass ich dir den Slip ausziehe?' In seiner Frage klang nichts Unangenehmes mit. Es hörte sich genau so an, wie ich es mir wünschte. Als hätte ich ihn gebeten, mir den Slip auszuziehen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ja gesagt oder bloß ja gedacht habe. Auf jeden Fall kam er ohne ein weiteres Wort auf mich zu und kniete sich hin. Er berührte mit seiner Nase meinen Bauch und drückte leicht sein Gesicht darauf. Seine Hände hatte er um meine Hüften gelegt, ein Finger spielte am Saum meines Slips. Meine Haut wurde empfänglich für die kleinsten Berührungen, sie wachte regelrecht auf. Dann spürte ich, wie seine Zunge um meinen Bauchnabel kreiste und ihn ganz behutsam ausleckte. "

    " Ein ganz leichter, lauwarmer Nieselregen ging durch meinen Körper. Regnete einfach durch mich hindurch. Sanft und rücksichtslos. Vor mir und nach mir gab es keine Zeit mehr. Und alles was außerhalb war, war zugleich innerhalb. Der dichte, dunkle Raum, die schwüle Luft, Christophers unglaublich leichte Hände, der gesamte Russian Hill mit all seinen Bewohnern, alles war in mir, die ganze schwerelose Stadt. Vor mir und nach mir gibt es keine Zeit mehr. Dieser Satz stand mir auf einmal klar vor Augen, deutlich wie eine Reklameschrift. Als wäre er nach langem und geduldigem Warten endlich lesbar geworden. Die ganze Zeit über musste er da gewesen sein, hatte irgendwo tief in mir drin ausgehalten, bis ich ihn schließlich entdeckte und mit einem Mal erfassen konnte. Darüber brauchte ich überhaupt nicht nachzudenken. Ich brauchte überhaupt nicht mehr nachzudenken. Denn gleichen Moment trauten sich auch die anderen Sätze heraus, wie ein Programm, das fehlerfrei und absolut sicher abläuft. (...) ich kann es nicht anders sagen, aber ich war stolz auf mich. Richtiggehend stolz. Christopher hatte seine Hände um meine Pobacken gelegt, und ich wollte nichts lieber als mit ihm schlafen. Jetzt, sofort, alles andere war mir, wie gesagt, egal. "

    Allerdings endet das sanfte Schweben rasch in einer Bauchlandung. Christophers Verhalten wird - milde gesagt - noch bizzarer. Irgendwie hängt sein Leben seit geraumer Zeit - vielleicht sogar von Anfang an - von geheimen medizinischen Versuchen ab und jetzt scheint es akut bedroht, und irgendwie scheint Celeste auserkoren, bei seiner Rettung eine Rolle zu spielen.

    Das ist zunächst ebenso spannend wie verwirrend, und es wird immer verwirrender. Vor allem natürlich für Celeste, die allerdings nie die Richtung zu verlieren scheint. Wie eine neuere Ausgabe von Lola rennt, rast sie durch eine präparierte unwirkliche Kunstwelt. Am Ende irrt sie durch eine surreale Traumwelt. Der Leser sieht nur genau so viel wie Celeste sieht, schließlich steht ihm nichts als ihr Bericht zur Verfügung. Und erst ganz allmählich dämmert uns, dass wir die ganze Zeit dabei waren, als irgendwas mit der Studentin passiert sein musste. Wir wissen nur nicht was.

    Und darin besteht gewissermaßen der erzählerische Einsatz des Romans von Leander Scholz. Nämlich die Geschichte einer weitreichenden Bewusstseinsmanipulation, sei es durch chemische oder chirurgische Mittel, aus der Sicht derjenigen Person zu erzählen, die es erleidet - ohne zu wissen, dass es sie erleidet.

    Das Problem ist nur, das funktioniert als Roman nur solange wie wir ihn als eine Art Kriminalroman lesen. Das heißt: auf der Suche nach dem Täter und nach dem fehlenden Puzzleteil. Und das liegt vermutlich nicht einmal an den schriftstellerischen Talenten des Autors, sondern an dem ausgedachten Problem, das er sich vorgenommen hat. Um dies zu erklären, müssen wir noch mal den eingangs zitierten autofahrenden Hörer reaktivieren, den wir in eine hässliche Identitätskrise geschickt hatten. An seinem erschütternden Beispiel konnte man begreifen, dass das Identitätsempfinden einer Person aus kaum mehr besteht als aus dem verinnerten Stoffwechsel einer Person mit seiner engen Realität. Diese vorbewusste Identifiaktion mit sich selbst ist - wie wir gehört haben - einerseits ziemlich leicht erschütterbar - weshalb man bei manchen Menschen ja auch den Eindruck hat, sie seien die halbe Zeit damit beschäftigt, sich wiedererkennbar zu halten - andererseits ist jene Identität an kein Wesen gebunden. Um auf ein allseits bekanntes Beispiel zu verweisen: der amtierende Außenminister der Bundesrepublik, Joschka Fischer, ist Punkt für Punkt eine glatte Umkehrung jenes Menschen, der auch vor 25 Jahren den Namen Joschka Fischer trug. Dieser Identitätswandel bleibt zwar einigermaßen staunenswert, aber nicht zuletzt weil er im Rahmen eines Generationenkollektivs stattgefunden hat in gewisser Weise nachvollziehbar. Jedenfalls brauchen wir nicht davon auszugehen, dass Joschka Fischer Opfer einer Bewusstseinsmanipulation geworden ist. Identitäten kann man austauschen, und Identitäten werden ständig mit eigener Beteiligung manipuliert, ohne dass man es selbst versteht. Jede gelingende Hirnwäsche besteht darin, Identitäten klammheimlich zu transformieren und nicht zu zerbrechen.

    Kurz, Leander Scholz erzählt schlicht und einfach die Geschichte einer Hirnwäsche. Aber es ist ein bisschen albern, hinter der Gehirnwäsche Agenten des medizinisch-experimentellen Komplexes vage zu evozieren, um daraus einen postmodernen Schauerroman zu machen.