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Geschichte einer unstillbaren Sehnsucht

Vor zwanzig Jahren gingen Tengo und Aomame zwei Jahre zusammen in die Grundschule. Ein einziges Mal hielten sie sich damals an den Händen, ein Moment, den beide nie vergessen haben. Seitdem haben sie sich nicht wieder gesehen. Haruki Murakami erzählt in "1Q84" in drei Büchern die Geschichte der großen Liebe zweier zutiefst einsamer Menschen.

Von Simone Hamm | 29.12.2011
    Tengo und Aomame sind als Kinder zwei Jahre zusammen in die Grundschule gegangen. Er ist der Sohn eines Rundfunkgebühreneintreibers. Sie ist die Tochter von Anhängern der Zeugen Jevohas. Sie verbrachten ihre Sonntage damit, die Erwachsenen zu begleiten, wie sie in fremden Häusern an fremden Türen klopfen, um Geld fürs Fernsehen zu bekommen, um Seelen zu retten. Beide fühlten sich als Außenseiter. Ein einziges Mal hielten die Kinder sich an den Händen, das war ein magischer, ein reiner Moment, den beide niemals vergessen haben. Zwanzig Jahre ist das her und seitdem haben sie sich nicht wieder gesehen, aber immer nacheinander gesehnt.

    Haruki Murakami erzählt in seinem Roman in drei Büchern 1Q84 die Geschichte der großen Liebe zweier zutiefst einsamer Menschen, die Geschichte einer unstillbarer Sehnsucht.

    Rätselhaft und geheimnisvoll ist die Welt, die Murakami erschafft. Eine Welt, in der Krähen ans Fenster klopfen, unsichtbare Gebühreneintreiber durchs Treppenhaus schreien, einem Kind nichts bleibt von seiner Mutter als die Erinnerung daran, wie ein fremder Mann einmal deren Brust geküsst hat - was eigentlich gar nicht sein kann, denn zu dem Zeitpunkt, als der Tengo das sah, war die Mutter bereits tot.

    Mittlerweile leben Aomame und Tengo in Tokio. Zugleich aber leben sie in einer Parallelwelt, im Jahr 1Q84. Einer Welt mit zwei Monden. Und einer davon ist unsichtbar für die, die in der realen Welt leben.

    Mittlerweile arbeitet Tengo als Mathematiklehrer, Aomame als Trainerin im Fitnessstudio. Beide haben ein Geheimnis. Tengo hat der Roman einer siebzehnjährigen Autorin so überarbeitet, sodass sie einen renommierten Buchpreis gewonnen hat. In dem Roman: "Die Puppe aus Licht", hat sie die perfiden Praktiken einer Sekte so ins Fantastische überhöht, das jeder Leser sie für Fiktion halten muss. Doch er enthält weit mehr Wahres, als die Tengo, als die Leser, vermuten. Sie schreibt von den "little people", seltsamen, "kleinen Wesen", die aus dem Maul eine toten Schafes kriechen. Die "little people" können größer und wieder kleiner werden - und sie sind gefährlich. Aus Luftfäden spinnen sie Kokons, darin wickeln sie Doppelgänger realer Menschen ein. Die Sektenmitglieder waren einst radikale Linke, Aussteiger. Aber je mehr sie sich abschotteten, desto okkultistischer und wahnsinniger sind sie geworden in ihrer so eigenen Welt. Ohne zu murren, ordneten sie sich den Befehlen eines obskuren "Leaders" unter.

    Aomame geht nachts in Bars und hält Ausschau nach Männern mit schütterem Haar, mit denen sie dann die Nacht verbringt. Noch gefährlicher ist ihr zweites Geheimnis: Sie hat mehrmals von einer alten Dame den Auftrag erhalten, Männer zu töten, Männer, die ihre Frauen in den Selbstmord getrieben oder sich an ihren kleinen Töchter vergangen haben. Aomame mordet kalt und perfekt. Dann soll sie einen Sektenführer umbringen, der seine kleine Tochter und andere junge Mädchen vergewaltigt hat. Es ist ebenjener Mann, dessen Tochter den Roman geschrieben hat. Sie führt ihren Auftrag aus - und wird gejagt von der Sekte.

    Das ist der Inhalt von Haruki Murakamis dreibändigem, 1600 Seiten langer Roman 1Q84. Das klingt nach fantastischem Krimi und spannend wie ein Krimi ist 1Q84 tatsächlich. Mit allem, was zu einem populären Krimi so gehört: nächtlichen Verfolgungen, Cliffhangern, überraschenden Wendungen. Dazu passend ist Murakamis Sprache bewusst einfach, betont umgangssprachlich und bisweilen geradezu banal.

    Ihre vollen Brüste wippten elastisch wie zwei reife Früchte.

    oder

    Wir sind in die Welt gekommen, um uns zu begegnen.

    Doch es gibt Momente, in denen der grandiose Erzähler aufblitzt, messerscharfe Formulierungen innehalten lassen: Murakami versteht es, äußerst knapp, äußerst genau Gefühle zu beschreiben, etwa Aomames Angst:

    Die Angst drückte ihr das Herz zusammen. So sehr, dass sämtliche Knochen in ihrem Leib krachten.

    Um die grenzenlose Einsamkeit eines Mannes zu beschreiben, der des Nachts auf einem schäbigen Spielplatz steht, genügt Murakami ein Halbsatz:

    Eine Quecksilberlaterne, deren Licht an das Ende der Welt denken ließ, und ein kahler Keyakibaum.

    Hinreißend sind Murakamis Bilder, seine Vergleiche. Das ist seine ganz große Stärke. Wenn er die etwa die Stimmen seiner Protagonisten beschreibt, glaubt man, sie im Ohr zu haben - die des kaltblütigen Entführers:

    Seine Stimme klang unendlich hart und kalt, wie ein Lineal aus Metall, das lange in einem Kühlschrank gelegen hatte.

    Oder die Stimme des besorgten Bodygards der alten Frau:

    Seine harte, trockenen Stimme erinnerte an eine Wüstenpflanze, die alle Jahreszeiten überlebt, auch wenn es nur einen Tag im Jahr regnet.

    Man spürt geradezu den Blick des brutalen Verhörers:

    Die Augen, mit denen er Komatsu jetzt ansah, glichen urzeitlichen, in einem Gletscher eingeschlossenen Kiesel.

    Aber es gibt auch Befremdliches in Murakamis Opus maximum.
    Die Welt im Jahre 1984 und die Parallelwelt 1Q84, das ist die Welt der Wiedergeborenen, mit einer Haschisch rauchenden, Luther zitierenden Krankenschwester als Inkarnation der ermordeten Mutter. Und eine Welt der unbefleckten Empfängnis. Ohne in der fraglichen Zeit mit einem Mann zusammen gewesen zu sein, wird Aomame schwanger.

    Murakami macht Anspielungen auf buddhistische Lehren, shintuistische Weisheiten und auf die christliche Heilsgeschichte. Östliche Philosophie steht neben westlicher. Das klingt bisweilen aufgesetzt, beliebig.
    Urplötzlich beginnt Aomame, an Gott zu glauben:

    Ihr Glaube ging über die Grenzen ihres Bewusstseins hinaus, und wie von selbst faltete sie die Hände zum Gebet. Dieses Empfinden war ihr bis ins Mark gedrungen und ließ sich weder durch Vernunft noch durch Gewalt austreiben, weder durch Hass noch durch Furcht.

    In den ersten beiden Büchern hat Murakami abwechselnd in einem Kapitel aus Aomames Blickwinkel erzählt, im darauffolgenden aus Tengos. Im dritten Buch fügt er die Figur des kleinwüchsigen, verwachsenen Detektivs Ushikawa ein, den die Sekte beauftragt hat, Aomame zu finden.
    In diesem Buch hält Murakami sich nicht mehr genau an die zeitliche Abfolge, springt zwischen Zukunft und Jetztzeit hin und her. Gerade die kühle, genaue Konstruktion aber machte die ersten beiden ersten Bücher zu einer so fesselnden Lektüre.

    Aber es kommt noch ärger. Im dritten Buch schaltet sich Murakami dann wann ein, wird zum allwissenden Erzähler.

    Aomame wartet seit Wochen Abend für Abend darauf, das Tengo zurückkehrt zum Kinderspielplatz, auf dem sie ihn einmal gesehen hat. Eines abends sitzt jemand auf der Rutschbahn, auf der einmal Tengo gesessen hat und beobachtet die beiden Monde. Aomame sieht diese Person vom Spielplatz verschwinden, glaubt, es ein ein Kind.

    Natürlich hatte es sich bei dieser Person, die Aomame flüchtig gesehen hatte, nicht um ein Kind, sondern um Ushikawa gehandelt.

    Darauf, dass es kein Kind, sondern der Detektiv ist, den Aomame gesehen hat, wäre ein aufmerksamer Leser ganz von allein gekommen, und wenn wider Erwarten nicht, hätte er es ein paar Seiten weiter erfahren. In dem Kapitel nämlich, in dem aus Ushikawas Perspektive erzählt wird.

    Murakami hätte seinen Lesern mehr vertrauen können, er hätte sie selbst das Geheimnis entdecken oder wenigstens ein Geheimnis für einige Seiten ein Geheimnis lassen sollen.

    Und noch schlimmer kommt es: Man muss kein Spießer und nicht hoffnungslos rückwärtsgerichtet sein, wenn man keine Freude hat an einer Sexszene, in der ein erwachsener Mann mit einer Siebzehnjährigen schläft, deren Körper von Murakami aber so beschrieben wird, dass er auch der einer Dreizehnjährigen sein könnte. Vor allem, da wir ja wissen, dass dieses Mädchen aufs Brutalste von ihrem Vater, einem Sektenführer vergewaltigt wird. Das war ärgerlich schon im zweiten Buch:

    Von ihrer Haut ging ein betörender Duft aus. Es war der besondere, lebendige Duft, den nur ein im Wachstum begriffener Körper verströmt.

    Und es wird auch nicht besser, wenn Tengo sich im dritten Buch an diese Nacht erinnert.

    So ist die Lektüre eine zwiespältige: wunderbare Beschreibungen dessen, was im Inneren der Protagonisten vorgeht, eine bisweilen soghaft fantastische, dann wieder recht simple Sprache, eine mächtige Liebe zweier aus der Welt Gefallener, Sexszenen, die man so ausführlich lieber nicht gelesen hätte.

    Haruki Murakami 1Q84. Buch 1 und Buch. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont. 2010,
    1024 Seiten, 32 Euro.
    Haruki Murakami 1Q84. Buch 3. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont. 2011, 575 Seiten, 24 Euro.