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Geschichte
Historiker entdecken schriftlose Quellen

Lange Zeit konzentrierte sich die Geschichtswissenschaft auf schriftliche Überlieferungen und vernachlässigte dabei einen großen Fundus: die nicht-schriftlichen Quellen. Dabei können sie viel verraten - etwa über Traditionen, Wanderbewegungen und Beziehungen. Auf einer Tagung in Paris erörterten Wissenschaftler die vielen Möglichkeiten.

Von Suzanne Krause | 31.03.2016
    Der deutsche Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin wurde bei der Tagung in Paris mit einem mittlerweile geflügelten Wort mehrfach zitiert: Geschichte, die niedergeschrieben wurde, sei zumeist die Geschichte der Sieger. Mehr und mehr jedoch wollen Wissenschaftler die Historie globaler beleuchten, mittels Sachquellen, also nicht-schriftlichen Quellen. Ein Paradigmenwechsel: lange Zeit galt nur als Geschichte, was schriftlich überliefert wurde, sagt Lisa Regazzoni. Die Historikerin lehrt an der Goethe-Universität in Frankfurt und hat die Tagung in Paris organisiert:
    "In ihrem klassischen Entstehungsprozess hat die Geschichtsschreibung tatsächlich fast alles ausgeschlossen bis auf die europäische Politik- und Ereignisgeschichte. Die Idee des Kolloquiums ist entstanden auch in Anbetracht der vielen Wenden und vieler neuer Methoden und Subdisziplinen in der Geschichtswissenschaft und der Geschichte in den letzten Jahrzehnten, aber die sprechen auch für ein Unbehagen gegenüber dieser Abgrenzung von dem nicht-schriftlich Fixierten."
    Geschichte aus nicht-schriftlichen Quellen vernachlässigt
    Ein Auslöser für ein vermehrtes Interesse an Sachquellen war vor allem die Kolonialisierung Afrikas, des - wie es bis heute heißt - schriftlosen Kontinents. Dies ist im übrigen ein Zerrbild. Renommierte Wissenschaftler wie der senegalesische Germanist David Simo erinnern unablässig an die mehreren hunderttausend Schriftrollen in Timbuktu, der Wüstenstadt Malis, die teils bis auf das 13. Jahrhundert zurückgehen und von der intellektuellen Geschichte Afrikas zeugten.
    Die Kolonialisierung also löste das Interesse für die orale Geschichtsvermittlung in Afrika aus. Den ersten Europäern, die den schwarzen Kontinent eroberten, galten die mündlichen Überlieferungen der Einheimischen anfangs als primitiv und wild. Doch bald entdeckten die Kolonialherren die Bedeutung der Oralität: sie gibt traditionelle Verhaltensregeln weiter und strukturiert damit die öffentliche wie auch die private Ordnung. Daraufhin starteten ethnologische Expeditionen, um diese mündlichen Überlieferungen aufzuzeichnen. Um die Macht der weißen Herrscher weiter auszubauen, wie Monica Cardillo von der Universität im südfranzösischen Montpellier bei der Tagung in Paris aufzeigte.
    Mündliche Überlieferungen als Schlüssel zur Tradition
    Oral History, also mündlich überlieferte Geschichte, studiert auch Jules Joseph Sinang von der Universität Yaoundé in Kamerun. Er arbeite nicht zu, sondern mit mündlichen Überlieferungen, sagt der Geschichtswissenschaftler. Sinang stützt sich dabei nicht nur auf tradierte Lebensgeschichten, denn da wurde manches Detail im Laufe der Zeit vergessen oder zensiert. Er studiert gleichfalls Mythen, Riten, geläufige Sprichwörter, Ausrufe und traditionelle Lieder, um die vorkoloniale Vergangenheit Afrikas zu erhellen: "All dies gibt Aufschluss über die damalige soziopolitische Organisation der Völker, über die interethnischen Beziehungen, über Wanderbewegungen und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aktivitäten. Dank dieser Informationen gewinnt man ein Bild der Authentizität Afrikas, der Essenz selbst der afrikanischen Kultur. Der Kontakt mit dem Westen führte zu einer anderen Realität und letztendlich zu der hybriden Gesellschaft, die unseren heutigen Alltag prägt."
    Peu à peu jedoch könnte der schwarze Kontinent sein Geschichtsgedächtnis verlieren, fürchtet Jules Joseph Sinang und zitiert ein afrikanisches Sprichwort:
    "Wenn ein alter Mensch stirbt, geht eine ganze Bibliothek verloren."
    "Die junge Generation orientiert sich heute viel mehr am Schriftlichen, sie ist geprägt von der westlichen Schule, das orale Wissen geht zunehmend verloren. Es ist überaus dringend, dieses Wissen aufzuzeichnen. Schriftlich, digital, mittels Videoaufnahmen."
    Oral history ist auch in Europa, der westlichen Welt ein Thema. Zum Beispiel bei der Medizingeschichte, hob Melissa van Drie hervor. Die Historikerin, Mitglied des französischen Wissenschaftsrats CNRS, erforscht, wie angehenden Medizinern Hörpraktiken beim Stethoskop-Einsatz vermittelt werden. Man setzt auf vokale Nachahmung, auf körperliche Mimik, auf Zeichnungen und Graphiken.
    Um schriftlose Vergangenheiten aufzuhellen, wird heute auch die Genetik herangezogen. Bei der Genetic History werden aus archäologischen Knochenfunden Erbgutinformationen gewonnen und daraus Thesen zur Migrationsgeschichte entwickelt.
    Patrick Geary vom Institute for Advanced Studies im US-amerikanischen Princeton arbeitet zu den Völkerwanderungen, die von vielen für den Untergang des römischen Reichs verantwortlich gemacht werden. Mit einem internationalen und interdisziplinären Team, zu dem Historiker, Archäologen und Genetiker zählen, untersucht er Leichenreste. Diese stammen aus über 1.400 antiken Gräbern, die an der Schnittstelle zwischen Süd- und Osteuropa aufgefunden wurden und als 'Lombarden-Gräber' gelten. Dazu erläutert Patrick Geary:
    Fluchtbewegungen mit Genetic History ergründen
    "Die Genetik wird uns nie mitteilen, wer die Leute waren, sie sagt weder etwas über deren kulturelle oder politische Identität noch über deren Selbstverständnis. Aber solche Untersuchungen, die auf Funde aus hunderten von Gräbern beruhen, können uns dabei helfen, zu verstehen, dass es am Ende der Antike signifikante Wanderbewegungen gab und in welch biologischen Beziehungen diese Menschen zu ihren Nachbarn mit eventuell anderen kulturellen Traditionen standen."
    Seine historische Forschung sei von großer politischer Aktualität, sagt Patrick Geary und verweist auf die polemischen Sprüche von einer angeblichen neuen Invasion von Barbaren, mit der rechtspopulistische Politiker in Deutschland, Ungarn, Frankreich immer lauter syrische und nordafrikanische Migranten in Europa diskreditieren. Geary stellt klar:
    "Da werden geschichtliche Fakten manipuliert, um heutige politische Ideologien zu verbreiten. Das aber ist extrem unglücklich und gefährlich. Solche Vergleiche sind an den Haaren herbeigezogen und haben keinen Platz im heutigen politischen Diskurs. Die aktuelle Lage stellt zweifelsohne eine Krise dar. Aber nun zu behaupten, es handle sich bei den aktuellen Migranten um eine neue Invasion von Barbaren, um eine Völkerwanderung, gibt uns keineswegs mehr Mittel an die Hand, die Krise zu meistern, mit der Europa heute klarkommen muss."