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Geschichte nacherlebbar

Iván Sándor ist der erste ungarische Schriftsteller, der den Volksaufstand von 1956 ins Zentrum eines Romans stellt. Viele seiner Landsleute lassen die aufwühlenden Tage in ihren Romanen aufblitzen, aber keiner hat bisher einen 56er-Roman geschrieben. " Geliebte Liv" ist aber auch ein Liebes- und Künstlerroman.

Von Lerke von Saalfeld | 02.02.2007
    "Als ich am 23.Oktober 1956 von der Demonstration auf dem Bemplatz nach Hause kam", so die Ich-Figur Zoltán in Iván Sándors Roman "Geliebte Liv", "war meine Mutter nicht da. Ungefähr um halb neun klingelte das Telefon. Sie gaben gerade ein Konzert in der Musikakademie, und in der Pause, sagte sie, rühr dich nicht vom Fleck, geh nicht raus, paß auf, paß auf dich auf.

    Es ist der Tag in Budapest - vor 50 Jahren - als im Laufe einer Solidaritätsdemonstration für Polen die Ereignisse zu einem Aufstand gegen die sowjetische Vorherrschaft und die kommunistische Diktatur eskalierten. Zoltán erinnert sich 40 Jahre später. 1956 war er 20 Jahre alt, kein Kind mehr, aber die Mutter, die als Konzertcellistin nicht zu Hause sein kann, ist in höchster Erregung. Der Autor Iván Sándor war damals 26 Jahre alt, auch er geriet in den Strudel der Ereignisse. Er gehört zu der Generation in Ungarn, deren Leben durch 1956 geprägt wurde. Iván Sándor ist der erste Schriftsteller, der den Volksaufstand von 1956 ins Zentrum eines Romans stellt. Viele ungarische Schriftsteller - Kertész, Nádas, Esterházy, Konrád, Dalos - lassen die aufwühlenden Tage des Herbstes 1956 in ihren Romanen aufblitzen, aber keiner hat bisher einen 56er-Roman geschrieben. Iván Sándor, der vor diesem Buch bereits 13 Romane veröffentlicht hat, betont - übersetzt von seinem Literaturagenten Gábor Szász:

    "Bei allen Romanen ist bei mir im Mittelpunkt das Schicksal des einzelnen Menschen, wie sich auf dieses Schicksal die Geschichte auswirkt. Leider gibt mir die ungarische Geschichte sehr viel Möglichkeiten dazu. Das ist nicht nur eine ungarische Frage, das gilt eigentlich für alle kleinen Nationen in Mittel/Osteuropa. Gleichzeitig habe ich versucht, diese menschlichen Schicksale auch aus einer europäischen Perspektive zu beleuchten. Nicht von ungefähr sind die Schauplätze Paris, Salzburg, Budapest und sogar Algier."

    Iván Sándor hat nicht einfach einen 56er Roman verfasst, er hat auch einen Liebes- und Künstlerroman geschrieben, der hauptsächlich im Theatermilieu spielt. Eine kompliziert verschränkte Dreiecksgeschichte bestimmt das Geschehen: Zoltán, der Theaterdramaturg wird, lernt in Paris während einer Theaterprobe des polnischen Regisseurs Grotowski, der als Erwecker eines avantgardistischen Theaters gilt, die Ungarin Liv kennen. Liv lebt in Paris, Zoltán war nur auf Gastspielreise und muss zurück nach Budapest. Liv ist befreundet mit dem Ungarn Gábor, der als Student in den Oktober-/Novembertagen 1956 aktiv war und damals nach Frankreich emigrierte. In einem Tagebuch hat Gábor seine Erinnerungen festgehalten. Dieses Tagebuch wiederum schmuggelt Zoltán nach Budapest. An der Grenze wird er von einem Offizier gefilzt, das Tagebuch wird entdeckt, Zoltán darf zwar weiterreisen, aber in Zukunft sind ihm Reisen ins westliche Ausland verwehrt, also muss Liv ihn in Budapest besuchen, wo noch ihre Angehörigen leben.

    Diese Beziehung hält über 30 Jahre, über alle Untiefen der Vergangenheit hinweg. So erweist sich zum Beispiel, dass die Aufzeichnungen des Tagebuchs von Gábor über die Ereignisse der revolutionären zwölf Tage durchaus nicht der Wahrheit entsprechen. Bei allen Figuren hat '56 dunkle Flecken hinterlassen, die sich nicht mehr aufhellen lassen.

    "Das ist so. Eines der Ziele des Romans, das einzelne Leben zu zeigen, wie die Erinnerung und das Vergessen vor sich gehen, dass wir die Geschichte nicht bloß aus den Handlungen der einzelnen Personen verstehen sollen, denn diese Taten die schauen immer anders aus, je nach persönlichem Blickwinkel."

    Das ursprüngliche Gefühl, gesiegt zu haben, das war schon am 4.November beim Einmarsch der sowjetischen Armee verflogen. Selbst das neue Ungarn, das sich im Gedenken an '56 im Jahre 1989 konstituierte, vermag die Schatten nicht zu lichten. Nicht zufällig hat Sándor das Theatermilieu für seine Romanfiguren gewählt.

    "Das was sie wirklich bewegt, ist eigentlich die Frage, wann spiele ich eine Rolle, wann habe ich eine Maske auf und wann spiele ich mich selbst? Deswegen ist natürlich auch das Theater eine große Metapher des ganzen Romans. Es ist ein Spiel im Leben, und es ist ein Spiel auf der Bühne. Aber es ist auch ein Spiel mit dem eigenen Schicksal und mit der eigenen Geschichte."

    Iván Sándor verzichtet auf eine eindeutige Stellungnahme, sowohl politisch als auch, was die persönlichen Beziehungen der drei Hauptpersonen betrifft. Der Leser muss sich immer wieder neu orientieren, aus welcher Sicht gerade erzählt wird, ob es Zoltán ist, ob Gábor aus seinem Tagebuch spricht, oder ob Liv sich zu Wort meldet. Ebenso verwirrend sind die Zeitebenen dieses Romans. Das Ende der Kriegszeit, als sich Zoltáns Vater, ein berühmter Theaterintendant, das Leben nimmt, die 50er Jahre oder die nahe Gegenwart. Man fühlt sich an den nouveau roman oder die Postmoderne erinnert, aber der Autor widerspricht:

    "Gott sei Dank gibt es keine Vorbilder. Ich bin ein einsam schaffender Mensch. Ich beneide und kenne sehr viele große Schriftsteller in der europäischen Geschichte. Es geht von Proust aus, Hermann Broch und Virginia Woolf, Franz Kafka, Camus und bis zum heutigen Ransmayr aus Österreich. Ich bin also kein Anhänger des Realismus des letzten Jahrhunderts, und Postmoderne betrachte ich als etwas, das vergangen ist. Ich will eine Synthese der beiden. Es soll eine Handlung geben, es sollen schilderbare Figuren da sein, es müssen starke Emotionen da sein. Aber wir sollten auch zeigen, dass die Vergangenheit hier neben uns, mit uns immer vorhanden ist. Und die Zeiten sollen wir im Roman so benützen, als würden wir in der Vergangenheit herumschreiten und dabei in der Gegenwart sein."

    Ältere Kenner der Budapester Theaterszene lesen diesen Roman als Schlüsselroman, die meisten Figuren hatten ein Vorbild in der Wirklichkeit. Aber das braucht den uneingeweihten Leser nicht zu stören. Wenn er die historischen und personalen Verwirrspiele des Romans aufgelöst hat, dann ist es für den deutschen Leser dennoch ein Gewinn, die Atmosphäre, die Zwiespältigkeiten, die Freude und die Trauer um diese weltbewegenden Tage im Herbst 1956 in Romanform nachzuerleben. Der große Roman über 1956, nachdem sich viele Ungarn sehnen, ist es jedoch nicht geworden.