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Geschichte von Helden und Kollaborateuren

107.000 niederländische Juden wurden während der deutschen Besatzung deportiert, ganze 5000 überlebten. Barbara Beuys beschreibt in ihrem Buch die Geschehnisse dieser Jahre und nimmt den Leser mit in schmale Gassen und enge Wohnungen in Amsterdam.

Von Annnette Birschel | 24.09.2012
    "Es wird spät gewesen sein, als Salomon Rodrigues de Miranda im Dezember 1919 zuhause in der Pretoriusstraat 71 ankam. Beim Umzug der Familie waren die Hühner, die man im Gemeinschaftsgarten halten konnte, verkauft worden, sehr zum Bedauern der Kinder. Aber Monne de Miranda, wie ihn alle nannten, konnte sich wirklich nicht um die Familien-Hühner kümmern. 1911 war er in den Gemeinderat von Amsterdam gewählt worden, und sein bisheriges Arbeitspensum als führender Politiker in der Sozialdemokratischen Partei der Niederlande und der landesweiten Gewerkschaft der Diamantarbeiter wurde deshalb nicht weniger. Da waren die Hühner einfach zu viel."

    Wie ein Roman beginnt Barbara Beuys die Geschichte von Amsterdam unter der deutschen Besatzung. "Leben mit dem Feind." 1919? Ein Diamantarbeiter? Hühner? Doch das dunkle Kapitel der Geschichte von Amsterdam ist nur zu verstehen, wenn man seine Vorgeschichte kennt und seine Bürger. Zum Beispiel Monne de Miranda. Der jüdische Diamantenschleifer stieg zum wichtigen Sozialreformer der Stadt in den 20er und 30er Jahren auf. Er verkörperte den Idealismus aber auch den Pragmatismus, den naiven Glauben, dass alles irgendwie wieder gut wird. Das war das Lebensgefühl der Stadt im Mai 1940, in Mokum. Das jüdische Wort für Stadt ist bis heute der Kosename für Amsterdam.

    Auf 353 Seiten lernen wir weitere Bürger wie Monne de Miranda kennen, die die Besatzungszeit beschrieben. Den Bildhauer Gerrit van der Veen, der zum Meisterfälscher wurde, die Fotografin Grete Weil, eine aus Deutschland geflüchtete Jüdin und natürlich Anne Frank. Bis heute die berühmteste Amsterdamerin der Besatzungszeit. Die Autorin beschreibt ausführlich das unbeschwerte Leben, sie führt den Leser auf die Grachten, lässt ihn das Gebimmel der Straßenbahnen hören, und die Musik jener Zeit.

    1940 litt Amsterdam noch unter der Wirtschaftskrise, war aber eine fröhliche Metropole und stolz auf ihre Freiheit und Toleranz. Schon seit dem 17. Jahrhundert war die Stadt Zufluchtsort vieler Flüchtlinge aus dem von Krieg und Verfolgung gequälten Europa: Hugenotten aus Frankreich, Protestanten aus Deutschland, Juden des ganzen Kontinents. Wie die Vorfahren von Monne de Miranda. Amsterdam war tolerant, weil die Stadtväter pragmatisch dachten. Religiöse Verfolgung würde Unfrieden stiften, und das war nicht gut für den Handel. Also ließen sie schon ab dem 17. Jahrhundert Andersgläubige in Ruhe. Als die Deutschen am 10. Mai 1940 die Niederlande überfielen, zählte Amsterdam rund 750.000 Einwohner, zehn Prozent davon waren Juden, darunter viele Flüchtlinge aus Deutschland.

    "… proclamatie van hare majesteit, de koningin: Mijn volk, nadat ons land …"

    Mein Volk, so ließ Königin Wilhelmina im Radio verlesen. Heute Nacht hat die deutsche Wehrmacht unser Land angegriffen und auf schändliche Weise die strikte Neutralität verletzt. Nach nur fünf Tagen war der Widerstand gebrochen. Deutsche Panzer rollten in die Innenstadt von Amsterdam. Der Österreicher Arthur Seyß-Inquart wurde Reichskommissar der Niederlande.

    "Es ist für uns heute lebende Deutsche das höchste Glück, Vollstrecker des Willens des Führers und damit der Geschichte zu sein."

    Die Amsterdamer waren zunächst fassungslos wie die meisten Niederländer. Doch angesichts der Machtdemonstration beim Einmarsch gewann bald der Pragmatismus die Oberhand, schreibt Barbara Beuys.

    "Der Schock weicht der Erkenntnis, gegen einen solchen Feind keine Chancen zu haben. Der viel gerühmte Realitätssinn der Niederländer stützt alle jene, die dafür plädieren, Ruhe und Ordnung zu bewahren, den Alltag wieder aufzunehmen, abzuwarten. Während die siegreiche Wehrmacht am 16. Mai durch die Hauptstadt marschiert, erklären sich am Regierungssitz in Den Haag die Generalsekretäre aller Ministerien zur Zusammenarbeit mit den Besatzern bereit."

    Das normale Leben ging weiter. Die Kaufleute schlossen lukrative Verträge mit dem Deutschen Reich, die Arbeitslosigkeit sank. Man ging wieder ins Kino, amüsierte sich. Wegschauen war die Parole. Polizei und Verwaltung führten folgsam die Befehle der neuen deutschen Machthaber aus. Auch die Nürnberger Rassengesetze. Doch es gab auch Widerstand. Von den Kommunisten, den Studenten. Die Untergrundzeitungen Het Parool und Vrij Nederland erschienen. In den Kirchen wurden flammende Proteste verlesen. Doch, so schreibt Barbara Beuys:

    "Es waren kaum hörbare Töne in einem Meer des Schweigens."

    Die deutschen Nazis setzten ihre Vernichtungspolitik fort, unter den Augen der Bürger. Pogrome, Razzien, Deportationen, Mord. In der Innenstadt wurde die Gegend rund um das heutige Rathaus zum jüdischen Viertel erklärt und abgesperrt. Zum ersten Mal seit dem 14. Jahrhundert gab es ein Getto in Amsterdam. Das führte zu offenem Widerstand. Im Februar 1942 streikten die Hafenarbeiter gegen den deutschen Rassismus. Doch der Aufruhr wurde niedergeschlagen. Zwar war der Widerstand generell eher gering, doch er wuchs stetig. Auf Attentate folgten Exekutionen, Oppositionelle wurden verhaftet. Monne de Miranda starb im KZ Amersfoort. Die Terrorspirale drehte sich immer schneller. Manche Amsterdamer versteckten Juden in ihren Wohnungen. Doch es gab auch Prämienjäger, die für ein paar Gulden Jagd auf Untergetauchte machten. 107.000 niederländische Juden wurden während der deutschen Besatzung deportiert, ganze 5000 überlebten. Barbara Beuys beschreibt die Geschehnisse dieser Jahre wie eine packende Reportage. Sie nimmt den Leser mit in schmale Gassen und enge Wohnungen, in den Vondelpark und die Keller der SS, und immer wieder in die Kinos und Konzertsäle Amsterdams. Und die Kontraste zwischen Schrecken und Geselligkeit lassen den Leser dabei nicht selten schaudern. "Leben mit dem Feind" ist ein beeindruckendes Porträt von Amsterdam. Die Geschichte von Helden, von Kollaborateuren und von passiven Bürgern. Eine Geschichte so widersprüchlich wie die Stadt selbst. Am 7. Mai 1945 wird Amsterdam von den Alliierten befreit. Aber fünf Jahre deutsche Besatzung haben Narben hinterlassen, schreibt die Autorin.

    "Amsterdam war frei. Aber das schmerzliche Wechselbad der Gefühle, das die Zeit der Besatzung geprägt hatte, würde bleiben und die gelebte Erfahrung, dass alle Gewissheiten zu Grunde gehen können. Die Menschen spürten in ihrem Innern grenzenlose Freude und Erleichterung, aber auch den Hass und eine große Traurigkeit."

    Buchinfos:
    Barbara Beuys: Leben mit dem Feind. Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940 bis 1945.Carl Hanser Verlag, 386 Seiten, 24,90 Euro.