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Geschichte West-Berlins
Zwischen Inselflair und Stillstand

Nach dem vielen Gedenken an den Mauerfall vor 25 Jahren richtet sich die Aufmerksamkeit nun auf den Westen: West-Berlin war anders als der Rest Westdeutschlands. Eine eingeschlossene Stadt mit zahlreichen Sonderregelungen. Die Stiftung Berliner Stadtmuseum hat jetzt die Ausstellung "West:berlin - eine Insel auf der Suche nach Festland" eröffnet.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 11.12.2014
    Bis heute ranken sich Mythen um das von Mauer und Grenzanlagen eingeschlossene West-Berlin. Manche basieren auf Ereignissen wie die Geschichte der Luftbrücke oder der Besuch von John F. Kennedy 1963. Bei anderen handelt es sich um politische Schlagworte wie der durch die westlichen "Schutzmächte" verteidigte "Vorposten der Freiheit" und die "Insel der Demokratie im Roten Meer des Kommunismus". Wieder andere Mythen erzählen von der Freiheit in einer Stadt ohne Sperrstunde und Wehrpflicht, weitab von der Bundesrepublik.
    Was West-Berlin tatsächlich war, darüber denken die Historiker erst jetzt nach, sagt Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam:
    "Zunächst war es ein immerwährender Streitfall, der im Vier-Mächte-Abkommen von 1971 zu einem wortwörtlich namenlosen Verhandlungsgegenstand wurde. Was unter dem betreffenden Gebiet des Abkommens zu verstehen sei, blieb bis 1990 unter den alliierten Verhandlungspartnern ungeklärt. Hängt es mit dieser konstitutiven Widersprüchlichkeit des schwer fassbaren Gegenstandes zusammen, dass die Geschichtsschreibung West-Berlin erst zögernd zu entdecken beginnt?"
    Bundesgesetze galten nicht automatisch
    Auch bei der Tagung im Berliner Märkischen Museum suchen die Wissenschaftler nach Definitionen: War West-Berlin ein Biotop? Ohne Frage war die Halbstadt, auf DDR-Karten als weißer Flecken dargestellt, anders. Das Besatzungsrecht blieb dem Staatsrecht übergeordnet, die Bundesgesetze galten nicht automatisch, und die Bewohner durften keine Abgeordneten für den Bundestag wählen.
    Stefanie Eisenhuth, Historikerin an der Berliner Humboldt-Universität, erforscht Amerikas Berlin, die besondere Beziehung und über lange Zeit gewachsene "Imagined Community" der West-Berliner und der Amerikaner. Weiß man bislang wenig über die Franzosen und Engländer als Besatzungsmächte, herrscht an wissenschaftlichen Untersuchungen über die Amerikaner kein Mangel.
    "Wobei wir das Problem haben, dass oftmals auch diese Erfolgsgeschichte, also dieser Mythos von der besonderen Freundschaft zwischen den USA und West-Berlin auch einfach gern reproduziert wird und nicht mal versucht wird zu hinterfragen, ob es eine Entwicklung in dieser Freundschaft gab, in dieser vermeintlichen, wie die überhaupt entstand et cetera."
    Berlin orientiert sich an Amerika
    Bereits lange vor dem Zweiten Weltkrieg habe sich Berlin an Amerika orientiert. Das führte dazu, dass sich auch nach dem Krieg die West-Berliner der amerikanischen Besatzungsmacht zugehörig und von ihr lange Zeit stärker beschützt fühlten als von der Bundesrepublik - allerdings nur bis 1965.
    "Das unterscheidet sich meiner Meinung nach sehr danach, von welcher Generation wir sprechen, von welchem Jahrzehnt wir sprechen et cetera. Wir haben natürlich immer noch Zeitzeugen von damals, die die Amerikaner ganz ganz arg vermissen. In dieser Generation haben wir schon eine sehr positive Erinnerung an die Besatzung."
    Bild der Halbstadt mit negativen Konnotationen
    Die Studenten und neu Zugezogenen rebellierten Mitte bis Ende der 60er-Jahre gegen dieses positiv besetzte und symbolisch aufgeladene Bild. Eine Kluft tat sich auf: War West-Berlin nun Vorbild oder Fossil? Galt es doch einerseits mit seinen ehrgeizigen Neubau-Projekten wie dem Hansa-Viertel oder dem ICC als Leuchtturm. Andererseits behielt die Frontstadt mit ihren Kuriositäten das Flair einer Insel, die aus der Weltgeschichte entlassen zu sein schien, sagt der Historiker Martin Sabrow.
    "Das Bild der Halbstadt erfuhr immer häufiger negative Konnotationen. Die Teilstadt wurde mehr und mehr zum Symbol des Stillstands und des Verfalls. Nicht nur die Agitation des SED-Regimes deutete West-Berlin als Frontstadt der Reaktion, als Inbegriff des politischen Rückstands und historisch obsoleten Fremdkörper. Auch für die rheinisch gefärbte Bundespolitik präsentierte sich West-Berlin nach dem Abflauen der existenzbedrohenden Berlin-Krisen immer sichtbarer als Skandal geschütteltes Subventionsgrab und ungeliebter Hemmschuh."
    Arbeitsmigration als Neuland
    Kaum erforscht ist die Geschichte der Arbeitsmigration nach West-Berlin seit 1961. Martin Düspohl, Leiter des Friedrichshain-Kreuzberg Museums, schlägt vor, sich dem Thema über jene Fotografien zu nähern, die bisher öffentlich nicht zugänglich in den Archiven von Fotografen und Privatpersonen lagern.
    Diese vermitteln ein ganz anderes Bild: Nicht das des männlichen Migranten, der, aus Anatolien kommend, bei der Automobilindustrie oder im Bergbau nach Arbeit sucht, während seine Frau zuständig für die Familie bleibt. Sondern sie zeigen auch weibliche Arbeitsmigranten etwa auf den Ablichtungen so bekannter Fotografen wie Michael Schmidt oder Paul Glaser.
    Als eine der Ersten kam Filiz Yüreklik 1964 aus der Türkei."
    Sie ist als Arbeitsmigrantin, als Schneiderin angeworben worden, hat dann aber bei Telefunken gearbeitet. Und damit ist auch schon angedeutet, die West-Berliner Industrie, im Wesentlichen ja ausgemacht aus Textilbetrieben, aus Betrieben der Elektroindustrie. Sie hatte ein Bedürfnis, in der zunehmenden Automatisierung der verschiedenen Konstruktionstechniken, Menschen zu gewinnen nach dem Mauerbau, die eine bestimmte Fingerfertigkeit hatten, die auch kleine, detaillierte, also gar nicht mit Körperkraft verbundene Aufgaben übernehmen konnten, und da hat man in erster Linie an Frauen gedacht."
    Gebildet und unternehmenslustig
    Die angeworbenen Frauen, häufig Schneiderinnen und Friseurinnen, kamen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren aus Großstädten wie Izmir, Ankara und Istanbul, gebildet und unternehmungslustig.
    "Also zunächst der provisorische Aufenthalt, das Sich-Einrichten im Provisorium, dem folgte sozusagen das Sich-Einrichten, aber immer noch in einer ungewissen Situation bis hin zu dem Entschluss der Sesshaftwerdung und der Aufgabe der Rückkehr-Absichten - nicht bei allen, aber das sind so drei verschiedene Phasen, die wir in der Migrationsgeschichte unterscheiden können.
    West-Berlin, das ist keine überraschende Erkenntnis, stellt sich als vielschichtiger Erinnerungsort dar. Die einen richteten es sich hier in den letzten beiden Jahrzehnten gemütlich ein, andere begegneten als Grenzgänger auch dem System jenseits der Mauer, Agenten ebenso wie West-Berliner mit Ostverwandtschaft, Künstler, alliierte Soldaten und Diplomaten oder Friedensbewegte. Für Ost-Berliner dagegen, sagt Martin Sabrow, bleibt das Stück Westen mitten in der DDR, erlebt nur über Hörfunk und Fernsehen, ein virtueller Erinnerungsort.
    Die vielen unterschiedlichen Wahrnehmungen jedoch vereine das Lebensgefühl der prekären Bleibe.
    "Der prekären Bleibe, das dem Narrativ des Insulaners seine Schlagkraft verlieh, weil es einen Lebensumstand bezeichnete, der West-Berlin von anderen metropolitanen Verdichtungsräumen so signifikant abhob. Mehr noch: Das Beharren auf der Besonderheit vereint alle mythischen Verdichtungen des Topos West-Berlin. Allesamt verstehen sie den Ausnahmezustand als Normalität, die einen in der Stadt der nächtlichen Exzesse, die anderen im Zustand der geopolitischen Unsicherheit."