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Geschichten aus der Hölle

Vor 20 Jahren wurde die Musiktheater-Biennale in München gegründet - ein Labor, das es jungen Komponisten ermöglicht, ihre Werke auf die Bühne zu bringen. Philipp Maintz und Marton Illes sind zwei Komponisten, mit deren Stücken das Festival in diesem Jahr eröffnet wurde.

Von Christoph Schmitz | 30.04.2010
    Zum Auftakt wollte die Biennale einen Blick in die Hölle werfen, um die Welt einmal aus einem ganz anderen Blickwinkel zu betrachten. Damit man schon am Anfang zu einem Opernreigen aus vier Uraufführungen dem Festival-Motto gerecht wird: "Der Blick des Anderen". Die schwarzen Fantasien von Comte de Lautréamonts "Gesängen von Maldoror" aus dem Jahr 1869 bieten dem jungen Komponisten Philipp Maintz üppiges Material an menschlichen Grausamkeiten.

    Das Regieduo Georges Delnon und Joachim Rathke deutet sie jedoch nur an, in einem schwarzen Bühnenraum samt überdimensionalem Käfig. Der Vater traktiert mit dem Gürtel den Boden neben seinem bleichen Kind, der Prophet des Bösen, Maldoror, beugt sich halbnackt über den halbnackten Knaben, ohne dass die Mutter etwas unternimmt. Aber das ist auch schon der einzige Schrecken, den die Oper einjagt, denn die Musik ist 90 Minuten lang ein einziger zäher schwarzer Strom, aus dem unablässig kleine und große Klangblasen blubbern.

    Die beliebigen rhythmischen Eruptionen des Schlagwerks machen alles nur noch monotoner. Der Blick in die Hölle war noch nie so langweilig wie hier, neues Musiktheater selten so uninspiriert. Zumal diesem Werk keine einzige bühnentaugliche Szene gelingt. Im besten Fall handelt es sich um ein Oratorium, das aber, konzertant aufgeführt, auch nicht tragen würde. Immerhin bot das Stück die infernalische Kulisse für die zweite Uraufführung der zwölften Münchener Biennale für neues Musiktheater, nämlich Márton Illéss "Die weiße Fürstin" nach Rainer Maria Rilkes gleichnamigem dramatischen Gedicht.

    Während "Maldoror" eindeutig wie ein zerklüfteter Klangklotz dasteht, ist Illéss Stück schwer zu fassen, weil Unschärfe hier Programm ist. Seltsam diffus changiert es auch thematisch zwischen apokalyptischem Weltende, sexueller Bedrohung, erotischer Sehnsucht und romantischem Naturidyll. In der Inszenierung von Andrea Moses dringt der Angestellte eines privaten Postunternehmens in die heile Welt einer elitären Gesellschaft ein und berichtet von Mord und Totschlag, Elend und Epidemien vor den Toren des Parks. Er selbst hat sich angesteckt, seine schorfige Haut löst sich blutig vom Fleisch, die Dienerschaft desinfiziert die Villa und steckt den Boten in Quarantäne. Die feinen Damen sind erschrocken, wollen sich um die Armen draußen sorgen, aber erst morgen, denn zu intensiv sind sie untereinander in einem Sehnsuchts- und Lustgespinst verwickelt, das vom abwesenden Hausherren überschattet wird.

    Márton Illés hat eine sehr organische Komposition geschaffen, in der Musik, Schauspiel, Gesang und gesprochenes Wort lebendig auseinander hervorgehen und miteinander verschmelzen. Clusterartige Klanggebilde aus Streichern und Bläsern sind zu hören, romantische Klavierarpeggien zu sirrenden Violinen, hysterische Soprankoloraturen, dadaistischer Sprechgesang und martialisches, rhythmisch-verzerrtes Marschgetöse: Verstörende Passagen, aber auch zauberhafte sind dabei gelungen. Und doch hat man über weite Strecken den Eindruck, dass das Orchester lediglich illustriert und über eine Hintergrundakustik nicht hinauswächst.

    Vor allem aber gelingt es Illés ebenso wie Philipp Maintz weder szenisch noch musikalisch ein dramatisches Geschehen zu entwickeln. Auch "Die weiße Fürstin" ist keine Oper. Mühsam versucht die begabte Regisseurin Andrea Moses diesen Mangel auszugleichen, indem sie ständig agieren, gestikulieren, grimassieren, rennen, tanzen und taumeln lässt. Aber das wirkt überinszeniert und kann die Schwächen der Komposition nicht überdecken.

    Angesichts dieser gravierenden Mängel stellt sich die Frage nach der künstlerischen Verantwortung des Festivals. Kümmert sich Festivalleiter Peter Ruzicka nicht um die jungen Komponisten, wenn sie sich an ihre immer riskanten Auftragsarbeiten machen? Fördern die Stadt München, die verschiedenen koproduzierenden Theater, die Mäzene von BMW bis Siemens-Musikstiftung blind ein zeitgenössisches Opernfestival? Gespannt schaut man auf die zweite Hälfte der Biennale.