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Geschichten eines stadtbekannten Schnorrers

Der 1859 geborene Schriftsteller Peter Altenberg war eine prägende literarische Figur des Habsburgerreiches: Robert Musil und Franz Kafka ließen sich von ihm inspirieren. Sein neu herausgegebenes Debütwerk umfasst Prosaskizzen, die die lethargische Stimmung des Fin de Siècle widerspiegeln.

Von Matthias Kußmann | 24.08.2007
    ""Es giebt drei Dinge, welche Uns in die Lage bringen, über uns selbst hinaus wachsen zu können: die Einsamkeit; die großen Bücher, das heisst der gedruckte Geist, die gedruckten Herzen grosser Menschen; und die Natur. Die Menschen, welche sich von diesen Dingen beeinflussen lassen und gleichsam unter diesen drei Sonnen wachsen, nennt man ‚Sonderlinge’, ‚Schwärmer’, ‚Unbrauchbare’.""
    Wien, 1896. Gerade hat Peter Altenberg sein erstes Buch veröffentlicht: "Wie ich es sehe". Der Autor ist 37 Jahre alt und gilt in der Wiener bürgerlichen Gesellschaft als unbrauchbar - ein Sonderling und Schwärmer. Der Sohn eines jüdischen Kaufmanns leidet, ärztlich bestätigt, an einer "Über-Empfindlichkeit der Nerven".

    Er hat verschiedene Studien abgebrochen und lebt die ästhetische Existenz eines Bohemiens. Er verbringt seine Tage mit Flanieren und Caféhaus-Besuchen – auf Kosten der Eltern, die ihn unterstützen. Eigentlich heißt er ja Richard Engländer, aber unter dem Pseudonym Peter Altenberg geht er in die Literaturgeschichte ein; gefördert vor allem von Karl Kraus, der das Parlando und die sanfte Ironie seiner Prosaskizzen schätzt. Manchmal sind es nur ein paar Zeilen, selten mehr als drei, vier Seiten: kleine Familienszenen, Spaziergänge in der Sommerfrische, halb-verschämte Begegnungen junger Liebender:

    ""Sie wohnte in dem wunderschönen Hotel am See-Ufer. Abends speiste sie unter den grünen Laubengängen, die in elektrischem Lichte schimmerten. Der Tag war lang – bis zum Abend. Sie stand spät auf. Dann saß sie auf der schattigen Promenade auf einer Bank. Nach dem Speisen ging sie in ihr kühles Zimmer. Um fünf, um sechs, machte sie einen Spaziergang mit den Eltern, den Geschwistern. Abends speiste die Familie unter grünen Laubengängen, die in elektrischem Lichte schimmerten. Der Tag war lang bis zum Abend. Hie und da kam ein Jüngling zu Besuch, der sie liebte. Müde und ruhig widmete sie ihm die Stunden, die er ihretwegen dort verbrachte. Er ruderte sie auf den See hinaus – er fühlte sich sehr glücklich. Sie saß am Steuersitze.""

    Sein Debüt macht ihn mit einem Schlag bekannt. Was Altenberg unter Bürgern zum Außenseiter stempelt – Kränkeln, Pessimismus, Überempfindlichkeit – trifft den Nerv der Zeit: des elegisch-müden Fin de siècle und dessen, was man später literarischen Impressionismus nennt. Es ist die große Zeit des "Prosagedichts". Wie Hofmannsthal oder der frühe Rilke vermeidet Altenberg literarische Plots. Ihn interessieren flüchtige Sinneseindrücke, Gesprächsfetzen, flirrende Natur, Atmosphäre. Und er vergöttert – auch dies zeittypisch - junge Frauen und vor allem kleine Mädchen, die er in ihrer Unschuld für das eigentliche Abbild des Menschen hält:

    ""Die Frau stellt in ihrer ‚schönsten Form’ das dar, was der Künstler-Mensch in seinem ‚schönsten Geiste’ zum Ausdruck bringt. Die Genialität ihres Leibes ist gleich der Genialität seines Geistes. Ihr Leib ist sein ‚Materie gewordener’ Geist. Sein Geist ist ihr entmaterialisierter Leib. Was er ‚denkt’, ‚ist’ sie!""

    In "Wie ich es sehe" gibt es mehrere sogenannte Text-Reihen, in denen ein bestimmter Schauplatz, eine Figur, eine Situation in kurzen Texten immer wieder auftauchen. Die Reihe "Revolutionär" etwa gibt ein selbstironisches Porträt des Autors als jungen Mann. Angeödet von den bürgerlichen Konventionen, lebt er doch ganz gut als Bürgersohn. Seine kleine "Revolution" besteht darin, in der Welt der Geschäftigen das scheinbar Nutzlose zu tun: zu schauen, zu lauschen, einfach da zu sein - und die Kunst dem Alltag zu "vermählen", wie es einmal heißt:

    ""In deinen Thätigkeiten eingekapselt, kannst du nicht rechtzeitig Halt machen vor einem regenbeperlten Spinnennetz im abendlichen Walde und kannst nicht schauen, staunen und verharren! Wir wollen dich erziehen, das heisst aufhalten in deinen Rastlosigkeiten, auf dass du verweilest, schauest, staunest! (...) Nütze deine Augen, den Rothschildbesitz des Menschen! Wir wollen euch nur zeigen, woran ihr blindlings vorüberraset! Es giebt Menschen, die nichts zu thun haben. Vollkommen Überflüssige des Daseins. Mit weit aufgerissenen Augen schauen sie und schauen. Diese hat das Schicksal bestimmt, die Vielzuvielbeschäftigten zum Verweilen zu bringen vor den Schönheiten der Welt!""

    Nach "Wie ich es sehe" schrieb Peter Altenberg noch einige Bände mit kleiner Prosa. Von den Eltern verstoßen, lebte er in Wien, ein stadtbekannter Schnorrer, der sich mehr schlecht als recht über Wasser hielt. Krankheiten kamen hinzu, 1919 ist er gestorben. "Wie ich es sehe" erschien in mehreren veränderten Auflagen, zuletzt 1928. Seltsam, dass das Buch dann nie mehr aufgelegt wurde. Denn Altenberg ist ein großer österreichischer Autor.

    Seine Prosagedichte und literarischen Skizzen sind ein Höhepunkt der Literatur des sogenannten "Jungen Wien" um 1900. Wie absichtslos hingeworfen und doch von großer Kunstfertigkeit, beeinflussten sie so unterschiedliche Autoren wie Robert Musil und Franz Kafka; Jahrzehnte später berief sich auch Uwe Johnson auf Altenberg.

    In Wien wurde Peter Altenberg im Lauf der Zeit zu einem Mythos. Im "Café Central", das er oft besuchte, sieht man ihn noch heute sitzen: als lebensgroße Pappmachéfigur. Aber: Ob er viel gelesen wird? Neben ein paar Auswahlbänden gibt es jetzt jedenfalls wieder sein Debüt, herausgegeben in der Fassung "letzter Hand". Der schöne Manesse-Band ist allemal eine Einladung, Altenberg neu zu entdecken oder wieder zu lesen. Wie soll man auch einem Autor widerstehen, der solche Sätze über sich selbst schreibt:

    ""Er hatte das Glück, weder Lyriker noch Romancier noch Philosoph zu sein. Daher diese literarische und einzigartige Verbindung von drei Talenten, die einer nicht hat.""

    Peter Altenberg: Wie ich es sehe
    Hrsg. und mit einem Nachwort von Burkhard Spinnen, Manesse Verlag, 464 Seiten, 22,90 Euro.