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Geschichtsbild im Wandel

Polen und die Sowjetunion waren die Hauptleidtragenden des 2. Weltkriegs. In Polen starben drei Millionen jüdische Mitbürger im Holocaust. In letzter Zeit zeichnen russische Historiker aber auch eine Rolle Polens als Mittäter.

Von Jan Pallokat | 01.09.2009
    Kann man das Land, das gemeinsam mit der Sowjetunion Hauptleidtragender des 2. Weltkriegs war, anders als in der Opferrolle darstellen? Das Land, das allein drei Millionen jüdische Mitbürger im Holocaust verlor, und etwa noch mal so viele Nicht-Juden, die bei Massakern, Strafaktionen, Bombenangriffen oder an der Front ihr Leben ließen? Die Opferrolle Polens wird auch von den meisten russischen Historikern nicht ernsthaft bestritten, und doch wurde zuletzt in allerhand Stellungnahmen und Dokumentationen in Russland ein anderes Bild Polens gezeichnet: Eines Mittäters, eines irgendwie Mitschuldigen.

    Einer der Dreh- und Angelpunkte ist der deutsch-polnische Nicht-Angriffspakt von 1934, der nach Lesart mancher russischer Historiker vor allem gegen die Sowjetunion gerichtet gewesen war. Erst an diesem Wochenende schlug der russische Auslandsgeheimdienst dennoch wieder in diese Kerbe – auf seiner Webseite bezeichnete er den polnischen Vorkriegs-Außenminister Beck als heimlichen Nazi-Spitzel. Ausgerechnet für den heutigen Tag des Weltkriegsgedenkens hat Moskau die Vorlage angeblicher Archiv-Beweise angekündigt, die die These von der heimlichen Komplizenschaft Warschaus mit Berlin stützen sollen. Alternativ greifen Historiker mit Polen-kritischen Avancen gern auf Hunderttausende deutschstämmige Schlesier oder Kaschuben zurück, die vielfach in der Wehrmacht gedient haben – allerdings nicht selten gegen ihren Willen. Der Großvater des amtierenden Premiers Tusk etwa war darunter, was seinen Enkel seinerzeit im Wahlkampf zwischenzeitlich zu schaffen machte.

    Einen weiteren Ansatzpunkt, Polens Rolle kritisch zu hinterfragen, nannte Waldimir Putin in einem Aufsatz für die polnische Zeitung "Gazeta Wyborcza" auf - ein Artikel, der Anfang der Woche in erster Linie deshalb aufhorchen ließ, weil Putin überraschend klar den Hitler-Stalin-Pakt als unmoralisch kritisierte und sich auch zu dem Zitat "Verbrechen" des Offiziermords von Katyn bekannte. Gleichzeitig aber erinnerte der versöhnlich gestimmte Putin seine polnischen Leser an Cieszyn und das Olser Gebiet. Diesen Teil der Tschechoslowakei verleibte sich Polen ein, kaum dass sich die Gelegenheit dazu bot, nämlich als die Tschechoslowakei nach dem Münchner Abkommen und dem sukzessiven deutschen Einmarsch so gut wie wehrlos war. Was auch darauf verweist, dass Polen vor dem Weltkrieg ein autoritär regierter Staat war, der zum Beispiel auch eine ziemlich ruppige Minderheitenpolitik betrieb. Freilich ist das, was in Polen bis 1939 geschah, nicht ansatzweise vergleichbar mit den Terrororgien in Stalins Sowjetunion und erst recht nicht mit Holocaust und Nazi-Vernichtungskrieg Hitlers.

    Für besondere Aufregung sorgten in Warschau zudem Rechtfertigungen einer russischen Historikerin, wonach Stalin nach seinem Pakt mit Hitler und der Besatzung Ost-Polens nur rechtmäßigerweise nicht-polnische Gebiete zurückgeholt habe. In der Tat hat Polen nach dem 1. Weltkrieg sein Territorium weit im Osten neu konsolidiert, aber wer fragt, was rechtmäßig "polnisch" wäre und was nicht, müsste weit in die Geschichte zurückblicken und bekäme wohl kaum eine eindeutige Antwort, zu umkämpft blieb das Gelände all die Jahrhunderte über.