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Geschichtsbuch im Kleinen

Manchmal balanciert Nicki Pawlows Debüt auf der Schwelle zum Kitsch. Doch dann kippt das Buch immer wieder zurück, weil die Figuren mit ihren speziellen, von der deutschen Geschichte durchtränkten Biografien so interessant sind, weil sie en passant so viel erzählen darüber, welche Folgen Geschichte für persönliche Geschichten haben kann.

Von Dina Netz | 14.01.2008
    Die Biografien von Nicki Pawlows Hauptfiguren sind Geschichtsbücher in nuce: Franziska Kling wächst in der DDR auf, flieht mit zwölf mit ihren Eltern in den Westen. Sie studiert, und als die Mauer fällt, geht sie nach Berlin und heuert in der Pressestelle der Treuhand an. Wolfgang Kiefer kommt auch aus der DDR, aber am Tag des Mauerbaus ist er gerade in West-Berlin - und bleibt. Er wird DDR-Korrespondent des Westfernsehens und für Franziska ein Idol.

    Nach der Wende jedoch fällt Wolfgang Kiefer in ein Loch, denn seine Arbeit wird nicht mehr gebraucht. Zu dieser Zeit führt Nicki Pawlow ihre Figuren, deren Wege sich vorher schon gekreuzt haben, zu einer Liebesgeschichte zusammen. Einer unglücklichen, denn sie reiben sich aneinander auf, der verheiratete Wolfgang Kiefer weist Franziska zurück, geht auf sie zu, weist sie wieder zurück und so weiter. Nicki Pawlow lässt den Leser lange im Unklaren, warum er so handelt. Glücklicherweise spielt die Autorin nicht bloß mit dem Klischee vom entscheidungsschwachen Mann. Man ahnt lange nur, dass sein Verhalten irgendwie mit seiner tragischen Lebensgeschichte zusammenhängen muss:

    "'Als die Grenze dicht gemacht wurde, war ich gerade in West-Berlin. Ich arbeitete dort nebenbei bei der Zeitung, um mir mein Studium zu finanzieren. Und als ich am 13. August 61 zurückwollte, stand ich vor der Mauer ... ' Er schließt die Augen und seufzt. 'Ich konnte nicht mehr zurück.' 'Das muss ein Schock gewesen sein", sage ich und hänge an seinen Lippen. 'Ich konnte nicht ... ', sagt Wolfgang Kiefer und verstummt. 'Was denn?' frage ich. 'Ich konnte nicht rüber. Ich stand wie angewurzelt. Ich versuchte, mich vorwärtszubewegen, doch ich ... ich war wie gelähmt. Ich sah die Grenzer Stacheldraht ziehen. Und ich konnte nicht. Am Ende war mir der Rückweg verbaut.' 'Sie meinen, Sie hätten gekonnt, wenn Sie gewollt hätten?' 'Ich habe meine Familie verraten.'""

    Wolfgang Kiefer ist auch in der Erzählzeit des Romans, kurz nach der Wende, eine schwache Figur - er trinkt und raucht zu viel, er kommt in der Liebe nicht zurecht, er sieht in seinem Job keine Perspektive. Darin ähneln Franziska und er sich. Sie kommt von einer westdeutschen Boulevardzeitung nach Berlin und weiß nicht so recht etwas mit sich anzufangen. Statt es wie ihr Idol Wolfgang Kiefer als Journalistin zu versuchen, kommt sie bei der Pressestelle der Treuhand unter. Wie detailliert Nicki Pawlow die schräge Atmosphäre der Zeitenwende dort beschreibt, das ist eine der Stärken des Buches:

    "'Warum brüllen Sie denn so?' fragt er gutgelaunt. 'Weil es hier zugeht wie in einem Taubenschlag', rufe ich. Tatsächlich ist unser Büro voller Menschen, alle reden durcheinander und wollen was von uns: Gehört das Braunkohlekombinat in Cottbus schon zur Treuhand, und hast du die Telefonnummer? Ich brauch mal die Liste von allen Unternehmen mit mehr als fünfhundert Beschäftigten! Kennst du jemanden, der früher Dampfkessel hergestellt hat, und wo kann ich den jetzt erreichen? Funktioniert euer Fax? Wo find ich am schnellsten einen Juristen! 'Hört sich an wie auf dem Moskauer Bahnhof', sagt er."

    Franziska Kling bewahrt sich bei aller Dramatik der Zeit eine distanziert-humorvolle Haltung zu den Dingen. Und so ist die Liebesgeschichte, die sie im Roman durchlebt, zwar tragisch, aber auch etwas komisch. Nicki Pawlow möchte ohnehin nicht, dass man ihre Hauptfigur für so schwach hält wie Wolfgang Kiefer. Zwar verstrickt Franziska sich in einer unglücklichen Liebe, zwar weiß sie ihrem Leben keine Richtung zu geben - aber sie ist halt auch erst Mitte 20.

    "Er kommt von der Toilette zurück. Ich sehe ihn an. Es wird mich zerreißen. Ich will aber, dass alles gut ist. Ich will, dass er sagt, dass es ihm leid tut, dass er mich umarmt und küsst. Stattdessen höre ich wie von Ferne seine Worte: 'Ich habe in Wannsee ein Haus gefunden. Baujahr zweiunddreißig. Acht Zimmer. Mit großem Garten. Sagte ich schon, dass meine Familie nachkommt? Das hatte ich dir doch erzählt?' Jetzt stehe ich auf, renne aufs Klo und stecke mir den Finger in den Hals."


    "Ich empfinde Franziska nicht als schwach. Sie geht durch diese Erfahrung hindurch, auch mit Wolfgang Kiefer. Ich meine - sie trifft ihr Idol. Idole fallen oft vom Hocker, wenn man sie kennenlernt. Und sie entwickelt sich doch weiter, sie kommt doch auf ihren Weg. Ich meine, dass man in so einer starken Liebesbeziehung, die so desaströs verläuft, schwach ist, dass ist doch ganz klar. Aber sie geht gestärkt daraus hervor, er nicht."

    Die Arbeit bei der Treuhand teilen sie zwar nicht, aber Franziska Kling hat einige andere biografische Ähnlichkeiten mit der Autorin: als Jugendliche mit den Eltern aus der DDR geflohen, nach der Wende nach Berlin gegangen. Und auch wenn Nicki Pawlow ihr Buch nicht als autobiografisch missverstanden wissen will, so war es ihr doch ein Bedürfnis, über ihre eigenen deutsch-deutschen Erlebnisse zu schreiben:

    "Bei mir ist ganz klar - der Osten lässt mich nicht los. Ich werde, glaube ich, immer in irgendeiner Form über den Osten schreiben. Mir ist erst später klar geworden, wie sehr der Wechsel von Deutschland nach Deutschland - ich bin ja auch mit meinen Eltern geflüchtet - mich geprägt hat und auch die Kindheit in der DDR."

    Manchmal balanciert Nicki Pawlows Debüt auf der Schwelle zum Kitsch. Die einfache und direkte Sprache tut das Ihrige dazu. Doch dann kippt das Buch glücklich immer wieder zurück, weil die Figuren mit ihren speziellen, von der deutschen Geschichte durchtränkten Biografien so interessant sind, weil sie en passant so viel erzählen darüber, welche Folgen Geschichte für persönliche Geschichten haben kann. Auch wenn Nicki Pawlow dezidiert keine symbolischen Figuren schaffen wollte: In ihnen verdichtet sich wie im Brennglas die Geschichte der deutschen Teilung - und deren Auswirkungen:

    "Dieses Thema des Heimatverlustes, was ja auch im Buch durchdefiniert wird: Franziska im Schwabenland, wo sie nicht heimisch wird so richtig und wie sie die Schwaben beneidet um ihre Bodenständigkeit, die Verwurzelung, sie hat ja gar keine Wurzeln mehr, die wurden gekappt. Und man verliert die Wurzeln dann auch. Denn ihre Heimat ist weder Nordhausen noch diese schwäbische Kleinstadt. Und selbst Berlin ist nicht die richtige Heimat. Da fühlt sie sich wohl, da kommt sie an. Insofern prägt so eine Flucht einen natürlich fürs Leben. Aber es macht einen auch reicher. Es ist zwar schmerzlich, aber es macht einen auch reicher. Vielleicht kommt auch dadurch, dass man dann Sachen schreiben muss."


    Nicki Pawlow: Die Frau in der Streichholzschachtel
    Dittrich, 308 Seiten, 19,80 Euro