Samstag, 20. April 2024

Archiv


Geschichtsmächtige Raumerfahrung

Der renommierte Münchner Romanist Rainer Warning hat seit Jahren ein Forschungsprojekt über literarische Heterotopien geleitet. Nun liegen seine eigenen Studien zu diesem Themenzusammenhang gesammelt vor.

Von Michael Wetzel | 07.10.2009
    Der wissenschaftliche Fortschritt braucht Schwellen und Grenzmarkierungen, um seine Weiterentwicklung in die Zukunft als solche sichtbar zu machen. In den 70er-Jahren kam das von Thomas Kuhn geprägte Modell vom "Paradigmenwechsel" in Mode, um den Wandel der Denkweisen gerade in den Naturwissenschaften zu präzisieren. In den Geisteswissenschaften bevorzugte man lange vor der Politik die Rede von der "Wende", den sogenannten "turns". Den Anfang machte der "linguistic turn", der eine ganze Tradition abendländischer Philosophie vom Kopf auf die Beine ihrer sprachlichen Artikulation stellte. Heute gibt es ganze Abhandlungen über die kaskadenhafte Fülle von "turns" als immer wieder neu in Begriffen sich anbietenden Richtungswechseln, zu denen last not least auch der "spatial" oder "topological turn" gehört. Gemeint ist damit eine Ausrichtung der Interpretation von humanwissenschaftlichen aber auch literarischen Texten auf ihre Raummetaphorik, das heißt, ihr Bezug auf Örtlichkeiten oder Platzierungen, auf lokale oder globale Dimensionen.
    Im Zuge dieses Paradigmenwechsels kam vor allem ein Konzept gerade für literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu besonderen Ehren, nämlich das Konzept der "Heterotopie" des französischen Philosophen und Sozialhistorikers Michel Foucault. Abgeleitet von den griechischen Elementen "topos" für "Raum/Platz" und "heteron" für "anderes", sind diese "anderen Räume" Inbegriff für imaginative Freiräume, die - anders als Utopien oder Atopien - sich in konkreten historischen Konstellationen ansiedeln und realisieren. Sie etablieren kulturgeschichtlich so etwas wie eine Parallelwelt, lange bevor die virtuelle Welt des Digitalen solche Träume ermöglichte.
    Foucault präsentiert dieses Konzept 1967 in einem Vortrag vor Architekten, nachdem er es ein Jahr zuvor in einem Rundfunkvortrag in seiner assoziativen Weite zur Diskussion gestellt hatte. Die angeführten Beispiele reichen vom Dachboden, auf dem man in der Kindheit seine Abenteuerspiele erlebt an, bis hin zum Spiegel als verkehrte Welt des Doppelgängers oder zum Ferienklub, in dem man seine Auszeit nimmt. Es sind "Gegenräume", die einen offenen Ort darstellen, der uns draußen sein lässt und nicht – wie im normalen Leben – einschließt. Mittlerweile hat dieses Konzept eine Fülle von kulturgeschichtlichen Studien angeregt, die bis zur Entdeckung der Tiefgarage als Heterotopie führen. Auch der renommierte Münchner Romanist Rainer Warning hat seit Jahren ein Forschungsprojekt über literarische Heterotopien geleitet. Nun liegen seine eigenen Studien zu diesem Themenzusammenhang gesammelt vor und geben einen Eindruck, von der Geschichtsmächtigkeit dieser Raumvorstellung für ästhetische Erfahrungen.
    Warning beginnt mit einer genauen Rekonstruktion des Foucault'schen Ansatzes, den er in sechs Aussagen untergliedert. Heterotopien sind kulturelle Konstanten, die einem historischen Wandel unterliegen. Sie können in diesem Zusammenhang umfunktioniert werden (zum Beispiel durch Auslagerung von Orten wie den Friedhöfen im 19. Jahrhundert), zugleich können an ein und demselben Ort mehrere Heterotopien nacheinander erscheinen (wie im Theater oder Kino). Sie sind auch gebunden an Brüche mit dem traditionellen Zeitverständnis (als Heterochronien) und markieren so komplexe Formen der Öffnung und Schließung. Sie sind schließlich als Illusion und als Kompensation bestimmt, wie das Beispiel der religiösen Kolonien zeigt.
    Warning erinnert darüber hinaus an den Entstehungszusammenhang von Foucaults Denkfigur, die sich zum einen aus der von Canguilhem begründeten Kritik an der Normativität des Normalen herleitet und zum anderen die Beschäftigung mit dem Imaginären an sich in der französischen Wissenstheorie wieder aufgreift. Der neue Raumbegriff reagiert zugleich auf die Verabschiedung der euklidischen Geometrie gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die eine Pluralität und Unanschaulichkeit des Räumlichen einführte. Auch treten immer mehr anthropologische Raumkonzepte wie Gefühlsraum, Aktionsraum, Erlebnisraum in den Vordergrund. Bestimmt sind sie zudem durch andere Aspekte der Heterotopie, die von aktuellen kulturtheoretischen Themen wie Performanz, Präsenz oder Epiphanie diskutiert werden. Sie betreffen aber in besonderer Weise die poetische Raumvorstellung; ja Literatur – so vermutet Warning - ist überhaupt heterotop, das heißt entwirft andere Räume, die zugleich durch eine imaginäre Zeit bestimmt sind. Im Sinne ihrer poetischen Autonomie und Eigenwilligkeit sind diese Räume auch nicht theoretisch reduzierbar oder in den normalen Kulturzusammenhang integrierbar. Warning macht dies anhand der historischen Eingrenzung seines Untersuchungsgegenstandes deutlich:

    Literarische Heterotopien sind insofern Räume einer ästhetischen Erfahrung, die sich gelöst hat von mimetischer Repräsentation, und als solche werden sie in dieser Arbeit verstanden und beschrieben. Sie implizieren damit eine historische Zäsur, die mit dem 18. Jahrhundert markiert ist, wie denn auch die folgenden Interpretationen mit Rousseau beginnen. Sein Spätwerk inszeniert nicht nur in immer neuen Anläufen den Agon zwischen tradierter Imaginationskritik und die Romantik antizipierender Imaginationsfeier, sondern es trägt diesen Agon ausdrücklich auch im Medium der Schrift aus.

    Damit kommt ein wichtiger Aspekt zum Tragen: Medial gesehen erzeugt die poetische Schrift schon immer imaginäre Räume, in die der Leser sich hineinträumen kann. Literarische Texte sind keine Diskurse, ihnen ist etwas eigen, das bei der wissenschaftlichen Aussage verpönt ist, nämlich Epiphanie. Gemeint ist mit diesem religiösen Begriff, der sich auf das Wiedererscheinen Christi bezieht, ein Effekt der literarischen Fiktion, der darin besteht, dass nicht nur etwas dargestellt wird, sondern in dieser Darstellung auch lebendig wird, als Performanz sich im Erleben des Lesers ereignet. Die genannten Beispiele entstammen natürlich – wie sollte es bei einem Romanisten auch anders sein – vorwiegend der französischen Literaturgeschichte. Der bereits genannte Rousseau erschreibt sich in seiner fünften "Rêverie" oder "Träumerei eines einsamen Spaziergängers" eine Ideallandschaft, für die die vorgegebenen und erinnerten Schönheiten zum Beispiel der Schweizer Landschaft zwar als Vorbild dienen, die aber im Akt von Schreiben und Wiederlesen zu einem Phantasma umgebildet werden. Ähnlich geht Victor Hugo in seinem Exil auf Jersey vor, dessen Außenraum er in einer Selbstinszenierung als romantischer Dichter ummodelliert. Mit Rimbaud und Baudelaire finden wir dann Beispiele, die auch den städtischen Raum als eine eher ironische Epiphanie des modernen Metropolen-Lebens entdecken - zum Beispiel unter den Brücken von Paris oder auf Jahrmärkten. Eine andere Form von Modernität imaginärer Lebensräume untersucht Warning in Flauberts "Bouvard und Pécuchet", die auf ihrem fiktiven Anwesen in der Normandie angelesenes Enzyklopädie-Wissen in ihren Experimentierräumen zu grotesken Katastrophen werden lassen. Immer wieder aber ist es die Stadt Paris, die zu literarischen Träumereien einlädt, auch deutsche Dichter, für die Rilkes "Aufzeichnungen des Malte Lauridds Brigge" das berühmteste Beispiel sind.
    In diesem Sinne lädt Warning selbst ein, mit ihm durch die vielfältigsten literarischen Heterotopien zu wandern in einem faszinierenden und trotz seiner Gelehrsamkeit spannend zu lesenden Buch, das auch als Einladung in das heterotop andere Land verstanden werden kann, das Frankreich seit Langem für die deutsche Kultur darstellt.

    Rainer Warning: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung. München 2009 (Fink Verlag), 319 S., (39,90 Euro)