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Geschichtstheorie
Aussagen zum Historischen als Aussage über uns

Wer Probleme der Gegenwart lösen will, muss sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Deshalb geht Achim Landwehr, Geschichtsprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, in seinem neuen Essay "Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit" der Frage nach, warum die Wirklichkeit unfassbar ist und man der Historie nicht entkommen kann.

Von Rainer Kühn | 09.01.2017
    Büsten von verschiedenen römischen Kaisern sind am 19.05.2016 in der Ausstellung "Wahre Schätze. Antike, Kelten, Kunstkammer" im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart.
    "Aussagen zum Historischen sind immer auch Aussagen über 'uns' und über 'die', über Wertigkeiten und Hierarchien, über die richtige und falsche Seite." (dpa/Christoph Schmidt)
    Ein grandioses Werk. Allerdings eines, das wohl schon mit seinem Titel als auch dem ersten Kapitel alle Chancen verspielt, eine große Leserschaft für sich zu gewinnen. Schade.
    Die Bezeichnung des Werks ist - als Paradox - eine Provokation: "Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit"; ein Hinweis für Experten, aber eine Zumutung für die meisten anderen. Aber das ist Landwehr auch klar:
    "Paradoxien werden üblicherweise als Störungen empfunden, als unzulässige Spannungen [… Doch] sind Paradoxa […] in der Lage, unser logisch-rationales Selbstverständnis zu destabilisieren. Genau deswegen, weil sie […] zwischen der Wirklichkeit und der Unmöglichkeit oszillieren, sind Paradoxien keine Probleme, die es, wenn möglich, zu vermeiden oder zumindest aufzulösen gilt, sondern hilfreiche Mittel, um die glatt wirkende, weil nicht hinreichend bedachte Oberfläche in Frage zu stellen."
    Selbstverständlichkeiten aufbrechen
    Während Widersprüche also in lebensweltlichen Gesprächen Unbehagen hervorrufen, nutzen Geistes- und Sozialwissenschaftliche sie, um Selbstverständlichkeiten aufzubrechen und Sicherheiten zu irritieren. Diese Funktion kommt ihnen auch bei Landwehr zu - und mehr noch:
    "Paradoxien sollen dabei helfen, einen roten Faden durch dieses Buch zu weben und eine essayistische Argumentation zusammenzuhalten, die den Gang über die Ränder hinein in das Zentrum der Probleme wagt. Dabei steht am Beginn die Frage […]: Wie soll man eine Vergangenheit zum Thema machen, die sich vornehmlich dadurch auszeichnet, vergangen zu sein?"
    Diese Frage zur historischen Wissenschaft bildet allerdings lediglich den Ausgangspunkt. Landwehr attackiert zunächst geläufige Gepflogenheiten, etwa den hehren Grundsatz, 'zu beschreiben, wie es wirklich war'. Jede Beobachtung der Vergangenheit sei perspektivisch, ausschnitthaft und könne daher nie, so Landwehr, den "Kollektivsingular" Geschichte objektiv und in Gänze in den Blick bekommen. Daran änderten auch der Rückgriff auf Quellen oder der Gang in Archive nichts.
    Ebenso erteilt er dem Grundsatz eine Absage, dass Geschichtswissenschaft nicht spekulieren sollte. Seit Alexander Demandts Überlegungen über "Ungeschehene Geschichte" ist das Tabu auch in der deutschen Geschichtswissenschaft gebrochen - und Landwehr liefert hierzu den argumentativen Background.
    Instrumentalisierung der Vergangenheit
    Mit einer derartigen Abwendung von alten Traditionen hin zum Perspektivischen kommen Fragen auf, die über den Bereich des Historischen hinaus gehen; etwa danach, was denn in solch einer von Relativität gekennzeichneten Welt die Begriffe Wirklichkeit oder Wahrheit noch bedeuten. Und hier wird der Autor politisch; wenn es nämlich darum geht, den Vorwurf abzuwehren, mit solch einer Sichtweise Beliebigkeit zuzulassen und der Instrumentalisierung der Vergangenheit Vorschub zu leisten. Deutlich bezieht Landwehr Position gegen die Anschuldigung, es seien postmoderne und konstruktivistische Ansätze:
    "die rechtsradikalen Revisionisten ein ideales Tummelfeld böten, um Vergangenheit zu manipulieren und nach ihren Ansichten zurechtzubiegen. Abgesehen davon, dass ich mir nicht ganz sicher bin, ob Rechtsradikale und Revisionisten sich üblicherweise eine handliche Privatbibliothek postmoderner Literatur anlegen, fürchte ich, dass sie diese auch gar nicht benötigen, um ihren Blödsinn in die Welt zu posaunen. Mit der entsprechenden ideologischen Überzeugung kann man jede Position und jeden Umstand für die eigenen Zwecke missbrauchen."
    Gleichwohl ist Landwehr klar, dass das Historische auch ohne Hintergedanken zwangsläufig zur 'Ausgestaltung kollektiver Identitäten' beiträgt.
    "Aussagen zum Historischen sind immer auch Aussagen über 'uns' und über 'die', über Wertigkeiten und Hierarchien, über die richtige und falsche Seite."
    Um solche identitäts- und sinnstiftenden Aussagen innerhalb eines Kollektivs durchsetzen zu können - hier schließt sich Landwehr dem französischen Ideengeschichtler Michel Foucault an - bedarf es nicht nur schlüssiger Argumentation, sondern auch Macht:
    "Es ist nicht wahr, dass (zeitlich) alles mit allem zusammenhängt. Das wäre Esoterik. Es ist allerdings wahr, dass alles mit allem zusammengehängt werden kann. Wer das kann und wie man das bewerkstelligt, ist wesentlich eine Frage der Macht. Und damit verwandelt sich die Blumenwiese in ein Schlachtfeld."
    Unterschiedliche Wirklichkeiten von Wahrheit
    Landwehr geht es um Alternativen, die es zu denken und zu verteidigen gilt - gegenüber vermeintlicher Alternativlosigkeit. Also gegen Versuche, mit Macht die "wirkliche Wahrheit" der Vergangenheit zu etablieren und daraus eine gewünschte Identität abzuleiten. Landwehr hebt hervor: "dass es auch anders sein konnte und immer wieder anders sein kann. Das mag nicht allzu viel erscheinen, ist aber alles andere als ein kleines Unterfangen."
    Das ist dem Verfasser hervorragend gelungen.
    Allerdings verführt ihn das gewählte Genre "Essay", in dem 'wissenschaftliche Fragen in knapper und anspruchsvoller Form' abgehandelt werden, dazu, auf akribische Referenzen zu verzichten - wer beispielsweise Heinz von Foersters Vortrag "Ethik und Kybernetik zweiter Ordnung" kennt, staunt nicht schlecht, wie viele Überlegungen sich bei Landwehr ohne Verweis wiederfinden.
    An der außergewöhnlichen Qualität des Werks ändert das nichts.
    Achim Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie.
    S. Fischer Verlag