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Geschmackssinn bei Kolibris
Umgewandelter Sensor für Fleischiges

Kolibris haben sich eine bequeme ökologische Nische erschlossen: Im freien Flug trinken sie süßen Blütennektar, dabei können sie Süßes nur über einen Umweg wahrnehmen. Doch immerhin 300 Kolibriarten nutzen ihn.

Von Volkart Wildermuth | 22.08.2014
    Ein Kollibri schwebt über einem Nektarspender, um daraus zu trinken.
    Annas Kolibri (Calypte anna) in den Santa Monica Mountains in Kalifornien. (Science/Maude Baldwin)
    Ein Kolibri steht im schwirrenden Schwebflug vor einer Blüte. Mit seiner dünnen Zunge leckt er blitzschnell den süßen Nektar auf. Offenbar schmeckt es ihm. Das klingt selbstverständlich, ist es für einen Vogel aber nicht. Das Haushuhn zum Beispiel hat in seinem Erbgut kein Gen für einen Süß-Rezeptor.
    "Das hat uns wirklich neugierig gemacht. Fehlt der Rezeptor bei allen Vögeln, und was machen dann die Nektarfresser? Irgendwie reagieren sie auf Süßes, aber anders als wir Menschen."
    Umami-Rezeptor erkennt Süßes
    Die Zoologin Maude Baldwin suchte an der Harvard Universität bei zehn Vogelarten nach Süß-Rezeptoren. Doch sie fand — nichts. Auch nicht beim "Süßschnabel" Kolibri. Wie alle anderen Wirbeltiere auch hatte er aber einen ähnlich aufgebauten Umami-Rezeptor. Der reagiert in der Regel auf Aminosäuren und vermittelt beim Menschen einen fleischigen, vollmundigen Geschmack. Ein Kolibri braucht diesen Rezeptor eigentlich nicht, also auf was reagiert er, fragte sich Maude Baldwin. Die Antwort fand sie gemeinsam mit dem Zellbiologen Stephen Liberles, ebenfalls von der Harvard Universität. Mit gentechnischen Tricks setzten die beiden Forscher den Umami-Rezeptor des Kolibris in eine Nierenzelllinie ein, die eigentlich gar nicht auf Nährstoffe reagiert.
    Liberles: "Es war eine Überraschung: Mit dem Umami-Rezeptor aus dem Kolibri reagieren diese Zellen auf Zucker. Das war verblüffend, denn die entsprechenden Rezeptoren anderer Vogelarten sprechen wie erwartet auf Aminosäuren an."
    Das gilt selbst für nahe Verwandte der Kolibris im Vogelreich. Der Kolibri-Umami-Rezeptor ist aber offenbar so umgebaut, dass er nicht mehr auf Aminosäuren, sondern auf Zucker reagiert. Diese molekulare Reaktion ist aber nicht das gleiche, wie das Gefühl der Süße, das Menschen immer wieder zur Schokolade greifen lässt. Die Kolibris reagieren auf den Nektar, aber vielleicht nicht wegen seines guten Geschmacks, sondern weil er nahrhaft ist und ihren Stoffwechsel aktiviert. Um eindeutig zu belegen, dass Kolibris tatsächlich Süßes schmecken, machte sich Maude Baldwin auf in die kalifornischen Berge und präsentierte dort wilden Kolibris künstliche Blumen mit verschiedenen Futterlösungen.
    Nach 160 Millisekunden Geschmack erkannt
    "Die Kolibris lecken 17 Mal in der Sekunde am Nektar, das ist superschnell. Wir haben sie mit einer Hochgeschwindigkeitskamera gefilmt. Sie brauchen nur drei Zungenlecker, etwa 160 Millisekunden um zu entscheiden, ob etwas schmeckt. So schnell reagiert nur der Geschmackssinn."
    Die Kolibris naschten von Lösungen mit Zucker und bestimmten Süßstoffen, nicht aber von solchen mit Aminosäuren. Ihr Verhalten läuft damit parallel mit den Reaktionen ihres umgebauten Umami-Rezeptors. Er ist tatsächlich für ein offenbar positives Geschmackserlebnis verantwortlich. Die Kolibri-Evolutionsgeschichte verlief wahrscheinlich so: Am Anfang stand ein Dinosaurier. Wie die Hauskatze, die Vampirfledermaus und andere Fleischfresser auch hatte er das Gen für den Süßrezeptor verloren, weil er es nicht brauchte. Die Vögel stammen von diesem Dinosaurier ab und müssen ebenfalls ohne einen Sinn für Süßes auskommen.
    Baldwin: "Ich vermute, die Vorfahren der Kolibris jagten Insekten in der Nähe von Blüten. Dabei wurden sie immer kleiner, das zeigen sogar einige Fossilien. Diese Vögel begannen dann auch am Nektar der Blüten zu nippen."
    Damit war es plötzlich wieder sinnvoll Süßes zu schmecken, und die Evolution sorgte nach und nach für den Umbau des Umami-Rezeptors. Den Kolibris eröffnete sich eine neue ökologische Nische und sie konnten sich sehr erfolgreich ausbreiten. Dafür war sicher nicht allein ihr besonderer Sinn für Süßes verantwortlich, aber Maude Baldwin ist überzeugt, dass er eine wichtige Rolle gespielt hat.