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Eliten
Machtverschiebung in Krisenzeiten

In einer Demokratie werden Eliten als Repräsentanten des Volkes gewählt und abgewählt, medial emporgehoben und fallengelassen. Die Zeit dazwischen wird immer kürzer. Ihre Rolle hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Gefährdet - so meinen Elitenforscher - sind sie jedoch nicht.

Von Christian Forberg | 30.10.2014
    Südansicht des Reichstagsgebäudes in Berlin. Foto vom 11. August 2014.
    Was können wir von unseren Eliten erwarten? (picture-alliance / dpa / Daniel Kalker)
    Jean-Pascal Daloz hat fünf Jahre lang in Nigeria gelebt, die dortigen Eliten analysiert und darüber seine Dissertation geschrieben. Er wurde anschließend Professor in Oslo und forschte zu skandinavischen Eliten. Und jetzt arbeitet er wieder in seiner Heimat Frankreich, an der Universität Straßburg.
    "Ich mag es, sehr kontrastreiche Fälle zu vergleichen. Als zwischen nigerianischen und skandinavischen Verhältnissen liegend, ist in Frankreich vieles mehrdeutig. Als Repräsentant hast du hier auf zwei Registern zu spielen: Du hast einige Nähe zu zeigen, aber du hast genauso zu zeigen, dass du stark genug bist, Probleme zu lösen. Das ist meiner Ansicht nach der Geschichte geschuldet, ein Resultat der widersprüchlichen Aspekte unserer Geschichte: Zum einen über den Massen zu stehen, und andererseits die revolutionäre Seite unserer Geschichte. Ich glaube, erfolgreiche Politiker müssen auf den zwei Registern spielen."
    Insofern ist Repräsentation ein Rollenspiel: Der Politiker ist als starke Persönlichkeit gefragt, der aber die verschiedenen Interessen seiner Wähler repräsentieren muss, wobei es sehr verschiedene, ja sogar einander ausschließende Interessen sein können. Und, fügt Professor Daloz hinzu, er muss auch in gewisser Weise Theater spielen können.
    "Aus Schweden kann ich über den Fall einer Dame berichten, die viermal am Tag ihre Kleidung gewechselt hat, weil sie verschiedenes Publikum traf. Ich kann Ihnen über Autos erzählen. Ich bin oft mitgefahren in Afrika, in Frankreich. Ich durfte einem Top-Politiker in Frankreich den ganzen Tag folgen. Das war interessant. Am Morgen saß er auf dem Rücksitz, und als wir an einem Ministerium ankamen, wartete er auf jemanden, der ihm die Tür öffnete. Am Nachmittag hatte er ein Meeting, wo er nicht gesehen werden wollte, wie er mit dem Auto ankommt. So ist er selbst gefahren und hat das Auto am Weg abgestellt, damit er zu Fuß ankommt. Das ist das, was ich mit der theatralischen Dimension der Repräsentation meine."
    Man könnte das als Verbiegen, als Verlust an Autonomie beschreiben, die ein Repräsentant besitzen sollte. So pauschal zu urteilen, hält er nicht für gerechtfertigt.
    "Es gibt vielfältige Zwänge durch die jeweiligen Kulturen, durch die Geschichte und deren Wiederholungen, wegen der üblichen Weise, Menschen mit ihren Erwartungen zu repräsentieren. Deshalb sind sie eh nicht so autonom."
    "Demokratisches Verhalten wird simuliert"
    Auch sein polnischer Kollege Professor Jan Pakulski, der lange Jahre an der Universität Hobart in Australien lehrte, hat keine idealistischen Vorstellungen von der politischen Elite. Seiner Auffassung nach müsse sie vor allem effektiv und verantwortungsbewusst arbeiten können, handlungsfähig sein. Dazu sei notwendig:
    "Erstens die Solidarität der Elite, solidarisches Agieren aller Hauptgruppen der Elite. Zweitens die straffe Organisation der Machtressourcen beim Staat und sein entschlossenes Handeln für die Eliten. Schließlich Prestige und Status der Entscheidungsträger, was ihnen erlaubt, mit Autorität zu sprechen. Das sind entscheidende Machtressourcen, welche es den Eliten erlauben, effektiv zu herrschen."
    Was aber, wenn gewählte Eliten zu viel Macht bekommen, eine Partei quasi im Alleingang die Geschicke einer Nation bestimmen kann - und das, wie im Falle Ungarns, reichlich fern europäischer Vorstellungen und Interessen auch tut? Györges Lengyel ist Elitenforscher an der Corvinus Universität Budapest:
    "Die demokratischen Institutionen existierten. Aber die Eliten begannen, die Regeln zu verletzen, die Normen dieser demokratischen Institutionen zu brechen. So müssen wir beklagen, dass sie ein wirklich demokratisches Verhalten bloß simulieren. Es ist wichtig, die Intellektuellen und Politiker daran zu erinnern, dass Eliten eine besondere Verantwortung tragen, besonders weil die demokratischen Institutionen noch nicht gefestigt sind. Das war in Ungarn der Fall."
    Damit spricht Professor Lengyel sowohl die regierenden als auch die opponierenden Eliten an: Statt Verantwortung für das Land zu tragen, sei seit rund einem Jahrzehnt reiner Populismus eingezogen. Keine Seite habe sich die Mühe gemacht, den Bürgern Vorstellungen für die weitere Entwicklung Ungarns anzubieten. Auch Premierminister Orban stellte kein Regierungsprogramm vor, über das das Parlament hätte abstimmen können. Es ging allein um seine Person. Wenngleich gefestigte westliche Demokratien mehr oder minder weit entfernt von derartiger autokratischen Ansprüchen sind - die Mediengesellschaft hat überall die Tendenz zur "Personality" verstärkt. Was die Bamberger Elitenforscherin Ursula Hoffmann-Lange jedoch differenziert:
    "Es sind nicht die Medien als solche, sondern es sind bestimmte Gruppen, die irgendwas durchsetzen wollen; im Internet heißt es 'Shitstorm' - damit kann man die Leute aufregen und dann müssen diese armen Politiker - kann man nur sagen - irgendwie reagieren und sich rauswinden aus dem Dilemma. Man nutzt die Bürger als Resonanzboden, um dem eigenen Anliegen eine größere Durchschlagskraft zu verleihen. Früher hat man das eher hinter verschlossenen Türen ausgehandelt."
    Halbwertszeit wird kürzer
    Reagieren statt agieren, kurzangebundener Reflex statt wohldurchdachte Überlegung also. Diese Entwicklungen werden eine demokratische Politik künftig sprunghafter und unberechenbarer machen, argwöhnt Professorin Hoffmann-Lange. Schon jetzt, in krisenhaften Zeiten, mehren sich die Anzeichen.
    "Die Krise verstärkt einen Trend, der ohnehin vorhanden ist. Und dann kommt eben dazu, dass man sagen kann: Die Leute sind unzufrieden mit dem System. Die sind weniger unzufrieden mit der Demokratie, als damit unzufrieden, dass sich nichts tut. Aber sie halten ja die Eliten letztlich davon ab, langfristig orientiert Entscheidungen zu treffen, weil die immer mehr gedrängt werden, kurzfristig zu reagieren auf Dinge, die irgendjemand in die Diskussion eingeworfen hat."
    Ihr Jenaer Kollege, der Elitenforscher Heinrich Best, sieht das ähnlich:
    "Was mir auffällt ist, dass die Halbwertzeit von solchen politischen Debatten immer kürzer geworden ist und das Verfallsdatum schon bei jedem neuen Thema gewissermaßen gleich bei diesem Thema erscheint. Die Eliten werden herausgefordert, immer schneller auf so etwas zu reagieren. Aber sie können auf der anderen Seite dann auch darauf vertrauen, dass bestimmte Themen wieder sehr schnell aus den Schlagzeilen verschwinden und durch anderes ersetzt werden."
    Die "Wellenreiter des Zeitgeistes" hätten es dadurch auf jeden Fall einfacher als jene, die "dicke Bretter" bohren wollten, meint Professor Best.
    "Das heißt also: Es verändert sich der Politikbetrieb sicherlich in den Erscheinungen, aber die Eliten als solche sind nicht gefährdet."
    Es sei denn, sie verlieren ihre einstige Rolle im politischen Parteiengefüge, werden abgewählt und scheiden aus der politischen Elite aus, wie die FDP. Anders die junge Piratenpartei, die für eine "liquid democracy" steht: Der Weg zu Entscheidungen müsse verflüssigt, Volkes Willen offen gehalten werden. Ins Europäische Parlament ist sie eingezogen, in den neuen Bundestag nicht. Womit man sich eigentlich selbst gerecht geworden sei, meint Lars Vogel, Elitenforscher an der Uni Jena:
    "Man wollte ja, glaube ich, nicht unbedingt gegenüber jemanden verantwortlich sein, sondern ich glaube, dass es keinen sinnvollen Elitenwettbewerb gab, wo diese Position attraktiv war. Es wurde vor allem gesagt: Im Prinzip wäre es ideal, wir hätten überhaupt keine Personen, die unsere Partei führen, und wenn wir welche haben, dann setzen wir die so unter Druck, dass sie es nach einer gewissen Zeit entweder aufgeben oder sich intern so verstreiten, dass sie überhaupt keine Politik mehr machen können."
    Vertrauen Landes- oder Bundesregierung gestiegen
    Als die Jenaer Elitenforscher einst die Transformationsprozesse des Ostens analysierten, spielte die Piratenpartei noch keine Rolle, und die AfD, die ihr Markenzeichen als Gegenelite aufgebaut hat, gab es noch nicht. Dieses "Anderssein-Wollen" hat bei den jüngsten Landtagswahlen im Osten Anerkennung gefunden. Ein Symptom, das für die meisten postkommunistischen Demokratien gilt: Neuen Parteien schenken die Wähler schneller Vertrauen, entziehen dieses aber auch wieder. Das Vertrauen in die gestandenen Eliten ist niedriger als in den westlichen Demokratien. In Thüringen kann nun sogar ein linker Ministerpräsident Erster im Lande werden. Die Linke gelte nun nicht mehr in dem Maße als Gegenelite, meint Lars Vogel:
    "Die Möglichkeit einer rot-rot-grünen Regierung, geführt von einem linken Ministerpräsidenten in Thüringen, zeigt dass die Akzeptanz der Linken als - ja, als Mitspieler in dem Wechselspiel von Regierung und Opposition jetzt nicht mehr so stark abgelehnt wird, wie das vielleicht noch vor zehn Jahren der Fall war. Insofern kann man dort von einer weitergehenden Integration der Linken in diese sogenannte integrierte Elite sprechen."
    Wie aber ist das weitere Absinken der Wahlbeteiligung zu werten? Als Missachtung von Demokratie und Eliten? Überdruss oder gar Protest? Heinrich Best mahnt, nicht vorschnelle Schlüsse zu ziehen.
    "Man kann das nicht so ohne Weiteres mit zurückgehender Demokratieakzeptanz, und man kann es auch nicht als Ausdruck des politischen Protestes interpretieren. Das ist ein Element, das ist durchaus bei Nichtwählern vorhanden, aber der Trend lässt sich so nicht erklären, weil wir zugleich - etwa in Thüringen - eine zunehmende Demokratiezufriedenheit und Demokratieakzeptanz bemerken."
    Auch das Vertrauen in die Institutionen wie Landes- oder Bundesregierung sei gestiegen.
    "Die Frage ist: Warum ist das so? Die Politiker sind die gleichen geblieben, und auch die Wähler haben sich in der Zusammensetzung nicht so massiv verändert. Es hat etwas zu tun mit dem der Regierung zugeschriebenen Erfolg. Und da ist die Entwicklung auf den Arbeitsmärkten von ganz zentraler Bedeutung."
    "Wenn man davon überzeugt ist, dass ohnehin das Richtige gemacht wird, dann muss man ja auch nicht unbedingt noch mal seine Stimme dort abgeben," ergänzt Lars Vogel.
    Mit der Sicherung von Arbeit und einem Einkommen, von dem die Menschen ohne Not leben können, sind viele Eliten konfrontiert, sei es in den Krisenländern Südeuropas oder den USA. John Higley, Professor an der Universität Austin, operiert mit den sozialen Kategorien Insider und Outsider: Die einen haben es, die anderen nicht.
    "Das ist ein Konflikt, den die Eliten versuchen müssen zu handhaben. Aber es ist extrem schwierig, wie das geschehen soll. Das Lager der Outsider ist schon groß und wird in Zukunft größer wegen des abnehmenden Bedarfs an irgendwie notwendiger Arbeit. Es ist schwer zu erkennen, wie Eliten das machen können. Was ich im soziologischen Sinne unterstelle ist, dass unter fortgeschrittenen postindustriellen Bedingungen soziale Kontrollmechanismen zusammenbrechen."
    Machtverschiebung zugunsten der Politik
    Der Elitenforscher aus Texas macht noch ein anderes Referenzpaar auf: Die gewählten Eliten wie die Regierungen und die nicht-gewählten Eliten wie die Finanzmanager, die die Finanzkrise ausgelöst haben. Was folgte, war ihr durch die Ereignisse erzwungenes Zusammenspiel.
    "Weil Draghi unterstützt wird von gewählten Eliten wie Merkel und den anderen Präsidenten ihrer Länder, kann man durchaus sagen, dass er wirklich zu den nichtgewählten Eliten gehört und außerhalb der Kontrolle der gewählten Eliten steht. Ich glaube, dass sie einen wie Draghi genau deshalb gewählt haben, um die Dilemmata politischer Repräsentation zu vermeiden, um jemanden zu haben, der sich nicht darum kümmern muss, irgendwelche Gruppen von Repräsentierten zu repräsentieren. Und deshalb wird einer wie Draghi unterstützt. Das gleiche in den USA. Der Vorsitzende des Federal Reserve Board gehört ohne Frage zu den ein oder zwei mächtigsten Menschen in den Vereinigten Staaten. Und ein allgemein anerkannter Vorsitzender wie des Federal Reserve hat mehr Macht, als ein Präsident der Vereinigten Staaten."
    John Higley hat die Gedanken jüngst in dem englischsprachigen Band "Politische Eliten in der transatlantischen Krise" herausgegeben - gemeinsam mit Heinrich Best. Der hat eine Machtverschiebung der Eliten im jetzigen Stadium der Krise ausgemacht.
    "Das heißt also, die politischen Eliten waren, wenn man mal die gesellschaftliche Machtverteilung anschaut, waren die Gewinner, weil sie zunächst einmal das Weltfinanzsystem gerettet haben vor den ökonomischen Eliten, die das gegen die Wand gefahren haben. Im Grunde genommen hat dann auch die Wirtschaft anerkennen müssen, dass es einen politischen Regulierungsbedarf gibt, den die politischen Eliten erfüllen müssen."
    Leicht dürfte das nicht gefallen sein. Aber dadurch ist weder die eine noch die andere Elite an ihr Ende gekommen. Der ökonomische und gesellschaftliche Rahmen, wie beschädigt auch immer, hält beide noch zusammen.