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Gesellschaft
Moral als Fortschrittsbremse

Frauenquote, Tier- und Umweltschutz, Menschenrechte: Selten waren die gesellschaftlichen Vorstellungen von Moral und Gerechtigkeit so hoch wie heute. Der Wirtschaftswissenschaftler Günter Ogger sieht genau darin ein Problem. Aus seiner Sicht führen die geltenden Normen zu einer Blockade des gesellschaftlichen Fortschritts.

Von Mirko Smiljanic | 17.08.2015
    Ein erhobener Zeigefinger.
    Günter Ogger: Moralvorstellungen führen zu gesellschaftlicher Mittelmäßigkeit. (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Günter Ogger, Jahrgang 41, langjähriger Redakteur bei "Capital", zählt zu den alten Kämpen der deutschen Wirtschaftspublizistik. Viele 100 Mal saß er in Pressekonferenzen großer Konzerne, hörte deprimierende Quartalszahlen, den distinguierten Jubel über gewinnversprechende Fusionen oder ließ sich Innovationen erklären, mit denen die deutsche Industrie globale Standards setzen wollte.
    Wirtschaftsjournalismus eben, der in den 70er- bis 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts immer auch eines war: den Kampf um Ideen und Märkte zu beobachten, das Streben nach Gewinn und Einfluss. Damals war das so. War es eine gute Zeit? Besser als die heutige?
    "Früher war es entscheidend, dass man ein gutes Produkt auf den Markt brachte oder eine gute Dienstleistung, dass die Firma Gewinn machte, dass sie Mitarbeiter einstellte, dass sie wuchs und so weiter. Heute wird alles unter moralischen Gesichtspunkten gesehen.
    Nehmen Sie mal das populärste Produkt in Deutschland, das Automobil, da wurde noch vor wenigen Jahren mit PS-Zahlen, Geschwindigkeit, Beschleunigung und ähnlichen Eigenschaften geworben, heute schauen Sie mal die Autoanzeigen und die Spots an, es wird nur noch mit CO2-Ausstoß, geringem Verbrauch und Ähnlichem operiert."
    "Die Diktatur der Moral – Wie 'das Gute' unsere Gesellschaft blockiert" heißt das Buch des Bestsellerautors Günter Ogger. Auf 400 Seiten in zwölf Kapiteln beschreibt er, wie der früher übliche und nur selten hinterfragte Egoismus Einzelner, von Firmen und Staaten, erstaunlich mächtigen moralischen Werten und Regeln weicht.
    Korruption und Verschwendung in jeder Form gehören geächtet; Fleisch aus Massentierhaltung ist von Übel; die Geschäftsmodelle großer Konzerne werden an grünen Leitlinien ausgerichtet; Frauenquote, Umweltschutz, Menschenrechte, Arbeitsbedingungen, Steuerehrlichkeit und natürlich die Sprache – alles unterliegt ständiger Kontrolle von Menschen, die "das Gute" im Fokus haben.
    "Sie sehen es ja an den Zungebrecher-Idioms wie 'Liebe Wählerinnen und Wähler', 'Liebe Bürgerinnen und Bürger', 'Liebe Betriebsratsmitglieder und –mitgliederinnen', das geht ja einem schon kaum ungestraft über die Zunge."
    Ein Gefühl der Erhabenheit
    Nun macht sich nicht strafbar, wer Probleme mit der gendergerechten Sprache hat. Anders sieht es aus, sobald Geld im Spiel ist, bei der Steuerehrlichkeit etwa. Spätestens da – so Ogger – erfasst den "Moralbürger ein Gefühl der Erhabenheit":
    "Wenn er von den Strafen hört, die Leute bezahlen müssen, die er insgeheim beneidet. Geschieht ihnen Recht, denkt der Rechtschaffene, wenn mal wieder ein Gribkowsy, Ecclestone oder Middelhoff vor dem Richter steht. ... Kein Wunder, dass sie reich sind, wenn sie sich nicht an Gesetze halten und auf die Moral pfeifen.
    'Hinter jedem großen Vermögen steckt ein großes Verbrechen', der Satz stammt nicht von Brecht, sondern von Honoré de Balzac und beschreibt treffend die Verdachtskultur der Gegenwart."
    Was die Gesellschaft nicht weiter bringt
    Mächtige Akteure in dieser Kultur seien NGOs, Nichtregierungsorganisationen, wie Greenpeace, Foodwatch oder der WWF. Sie bestimmen das wirtschaftliche und politische Handeln weit stärker als bekannt, entzögen sich aber vielfach demokratischer Kontrolle. Keine Regierung, kein Konzern komme auf Dauer gegen ihr Bombardement moralischer Proteste an.
    Auf der anderen Seite gehen viele Fortschritte in Politik und Gesellschaft auf die Arbeit von NGOs zurück. Weder das Washingtoner Artenschutz-Abkommen noch die Gleichstellung von Mann und Frau wären ohne sie denkbar.
    Nun mag sich mancher fragen, was daran schlecht sein soll?
    "Weil die Normen, die jetzt gesetzt werden, die der Mittelmäßigkeit, der sogenannten schweigenden Mehrheit sind, und das kann eine Gesellschaft ja nicht nach vorne bringen!"
    "Das Gute" blockiere die Entwicklung der Gesellschaft, so Günter Oggers These, Erfolg setze für ihn immer auch eine gehörige Portion Egoismus und Rücksichtslosigkeit voraus. Eine These, die er anhand vieler Beispiele aus Wirtschaft und Politik, Religion und Justiz, Sport und Wissenschaft mit teilweise starken Worten belegt: Der Kampf gegen Korruption würde mit "Transparenz-Terror" betrieben; die Vereinigten Staaten ließen sich von der moralisierenden Kritik an den CIA-Foltermethoden und NSA-Schnüffelpraxis in die Knie zwingen; in Firmen herrschten zukünftig "Polit-Kommissare", die unser Leben bestimmten: "Raucher müssen vor die Tür, Alkoholiker verlieren ihren Job, Übergewichtige zahlen höhere Prämien".
    "Die Firmen sollen auf jede Form von Korruption, Betrug und Täuschung verzichten, ihre Mitarbeiter nach Tarif bezahlen und deren hohe Sozialstandards (vom Kündigungsschutz bis zum Urlaubsgeld) mitfinanzieren, die vielfältigsten Steuern und Abgaben abführen, gleichzeitig ihre Luft-, Lärm und Abwasseremissionen minimieren sowie sämtliche Lieferanten und Geschäftsvorgänge auf ethische Unbedenklichkeit überprüfen. So kann man vielleicht ein Kloster führen, aber kein Geld verdienen."
    Tiefgreifende Kritik
    Mit solchen Sätzen macht sich Günter Ogger angreifbar, was er natürlich einkalkuliert. Er ist ein Provokateur, der mit Schaum vorm Mund sich den Frust von der Seele schreibt. Oggers Kritik an der allgegenwärtigen "Diktatur der Moral" reicht aber tiefer. Viele würden zwar die schlechten Arbeitsbedingungen in Bangladesch und China ächten, hätten aber keine Probleme damit, spottbillige T-Shirts und schicke iPhones zu kaufen. Heuchelei und Doppelmoral seien an der Tagesordnung; Anpassung und Mainstream wohin man schaue.
    "Die Diktatur der Moral" ist eine Streitschrift. Nicht jeder kann und will allen Thesen folgen. Genau deshalb hat das Buch aber auch einen hohen Unterhaltungswert: Es ist gegen den Zeitgeist gebürstet. Schade nur, dass Günter Ogger keine Lösungen anbietet, sieht man mal vom Schlusswort ab.
    "Die Diktatur der Moral wird das 21. Jahrhundert prägen. Sie wird die Art, wie wir denken, handeln, Geld verdienen, radikal verändern. Ob zum Guten oder zum weniger Guten, das wird sich zeigen.
    Man muss das nicht bedauern, sondern, wie schon mal in der jüngeren Geschichte, versuchen, das Beste daraus zu machen."
    Ein provokantes Buch, gut lesbar und flüssig geschrieben, unbedingt zu empfehlen!
    Günter Ogger: "Die Diktatur der Moral. Wie "das Gute" unsere Gesellschaft blockiert",
    2015 dtv München, 400 Seiten, ISBN 978-3-423-28053-2,
    Preis: 21,90 Euro