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Gesellschaft
Von der antiautoritären Leitkultur zur neuen Bürgerlichkeit

Eine alternative Lebensweise - danach suchten zwischen 1970 und 1985 Millionen junger Menschen. Paradoxerweise mündete dies in eine neue Bürgerlichkeit, wie Sven Reichardt in seinem Werk "Authentizität und Gemeinschaft" feststellt.

Von Martin Ebel | 09.09.2014
    Symbolbild einer Kleinfamilie
    Vater, Mutter, Kind: In den 70ern und 80ern wollten Viele weg von der Kleinfamilie (picture alliance / dpa / Jan Woitas)
    Eine Habilitationsschrift kann natürlich nicht von persönlichen Erinnerungen ausgehen. Die Besprechung einer solchen aber durchaus. Also: In den letzten Jahren meiner Gymnasialzeit, Anfang der 70er-Jahre, kamen die ersten langhaarigen Junglehrer in die Klassen. Sie waren locker, antiautoritär gesinnt, sie duzten uns und ließen sich duzen. Die Folge: Wir machten sie fertig. Denn wir waren geprägt von autoritären Lehrern, die die Peitsche - im übertragenen Sinne selbstverständlich - jeden Moment erhoben hielten. Würde der Druck nachlassen, wären wir nicht mehr zu bändigen. Wie recht die alten Pauker hatten, zeigten wir den netten Referendaren.
    Meine letzten Schuljahre fielen in eine Übergangszeit: In den 70er-Jahren begann sich das herauszubilden, was Sven Reichardt "linksalternatives Leben" nennt und dem er eine gründliche Untersuchung gewidmet hat, deren Textteil 900 Seiten umfasst. Noch einmal 100 Seiten braucht das Quellen- und Literaturverzeichnis. Reichardt, heute Professor für Zeitgeschichte in Konstanz, hat sich mit dieser Arbeit habilitiert, der Suhrkamp-Verlag hat sie in seiner Wissenschafts-Taschenbuchreihe, allerdings unter dem abschreckenden Titel "Authentizität und Gemeinschaft" einem breiten Publikum zugänglich gemacht.
    Und dieses Publikum gibt es. Das, was man als alternative Lebensweise bezeichnen kann, erfasste oder berührte zwischen 1970 und 1985 mehrere Millionen junge Menschen. Die einen lebten sie, die anderen sympathisierten mit ihr. Es war die Leitkultur einer ganzen Generation. Viele haben, als sie älter wurden, Bestandteile dieser Lebensweise beibehalten, und insgesamt haben die "Alternativen" die deutsche Gesellschaft stärker verändert als die viel beschrieenen Achtundsechziger, deren Erbe sie sind.
    Die Utopie im Kleinen leben
    "Es gibt kein richtiges Leben im Falschen." Diesen zu Tode zitierten Satz Adornos wollten die "Alternativen" widerlegen. Praktisch widerlegen. Denn um die Lebenspraxis ging es ihnen, dem eigenen Leben wandten sie sich zu, nachdem die großen Visionen vom Umsturz der ganzen Gesellschaft gescheitert waren. Die Utopie sollte nun im überschaubaren Rahmen realisiert werden: im Ich und seiner unmittelbaren Umgebung. Alternativ - das hieß anders als die eigene repressive Kleinfamilie, anders als die hierarchische, entfremdete Arbeitswelt. Man wollte neue Wohnformen entwickeln, neue, herrschaftsfreie Formen der Arbeitsorganisation, wollte seine Sexualität ausleben ohne Besitzansprüche und Eifersucht, seine Kinder angstfrei erziehen.
    Man wollte Leben und Arbeiten nicht mehr trennen, die Politik ins Private holen und das Private politisch durchgestalten. Man wollte die eigene Persönlichkeit von alten Hemmungen befreien, zu dem werden, der man "eigentlich" war; zugleich suchte man die Gemeinschaft, wollte die Isolation der kalten spätindustriellen Gesellschaft überwinden. Diese zahlreichen, auch in sich widersprüchlichen Wünsche bündelt das Begriffspaar des Titels: Authentizität und Gemeinschaft. Hier das befreite Individuum, dort die Wärme einer Gruppe, die oft die Funktion einer Ersatzfamilie übernahm.
    Reichardt mustert die Lebensbereiche des alternativen Milieus durch - die Alternativpresse, die alternative Ökonomie, Wohngemeinschaften, Szenekneipen, Kleidung und Sexualität, die antiautoritäre Erziehung, den Boom der Psychotherapie und den Drogenkonsum. Eine solche Gesamtschau hat es noch nicht gegeben, sie ist Sozialwissenschaft at its best.
    Jedes Kapitel beruht auf breitem Quellenstudien, zitiert ausgiebig und hält strenge wissenschaftliche Distanz zum Untersuchungsgegenstand. Das fällt dem Autor schon dadurch leicht, als er, geboren 1967, kein Teil der Generation ist, die er untersucht. Schon dadurch unterscheidet sich seine Studie vom vorherrschenden, affirmativen oder erinnerungsseligen Schrifttum zum Thema. Immer wieder schaut Reichardt sein Material gewissermaßen von der Seite an, durchleuchtet und deutet es. Diese Passagen gehören zu den spannendsten des Buches, weil man hier ganz konkret erkennen kann, auf welch sprunghaftem, umwegreichen, dialektischem Weg sich Sozialgeschichte vollzieht.
    Der Bürger als Hassfigur
    Die Hassfigur schlechthin für den Alternativen war der Bürger. Am Ende der anderthalb Jahrzehnte, die Reichardt untersucht, stehen indes Lebensformen, die man sehr wohl mit dem Etikett einer "neuen Bürgerlichkeit" versehen kann. Der Wunsch nach entfremdeter Arbeit führte einerseits zu Kleinunternehmen, die nur durch brutale Selbstausbeutung lebensfähig waren. In ihnen wurden aber jene Qualitäten entwickelt, die gerade heute in der neoliberalen Ökonomie gefragt sind: Selbstverantwortung und Selbstvermarktung. In den alternativen Unternehmen wollte man ohne Hierarchien auskommen, auch ohne Regularien.
    In manchen Szeneblättern wurde im Plenum über jeden einzelnen Artikel diskutiert. Das nahm Stunden in Anspruch, führte zur Erschöpfung aller Beteiligten und schließlich zur Herausbildung einer informellen Hierarchie, die weniger transparent und auch weniger kontrollierbar war als die offizielle in traditionellen Unternehmen. Dialektischer Umschlag schließlich auch in Wohngemeinschaften, die eine absolute Offenheit kultivierten, aber auch forderten, die in endlosen Küchengesprächen die psychologischen Probleme jedes Bewohners auseinandernahmen, was im Endeffekt zu neuem Konformismus führte: Jeder bemühte sich, so zu sein, wie eine befreite Persönlichkeit zu sein hatte. Konformismus herrschte auch in dem, was man damals noch nicht Outfit nannte, in der Kleidung - Stichwort Jeans und Parka. Es war schick, nicht schick zu sein.
    Die alternative Bewegung war eine antimaterielle, eine antikonsumistische auch, sie setzte sich auch darin von der Elterngeneration ab. Ironie der Sozialgeschichte, dass die Welt des Konsums auch den alternativen Verbraucher vereinnahmte, dass die Frage der Individualität immer häufiger mit der Entscheidung für dieses oder jenes Produkt beantwortet wurde. Überhaupt spricht Reichardt den Alternativen gern ihre Einzigartigkeit ab: Vieles von dem, was sie als ihre Errungenschaften beanspruchte, baut er in größere historische Entwicklungen ein.
    Mythos freie Liebe
    Die Veränderungen im Sexualleben etwa - früherer und häufigerer Geschlechtsverkehr und die Entkoppelung von Sexualität und Ehe - beginnen schon in den frühen 60er Jahren. Oswald Kolles Aufklärungskampagnen sind da wohl wichtiger als die "Kommune 1", die ihr Bürgerschreckimage gekonnt inszenierte. In Wirklichkeit war es mit der sogenannten freien Liebe in den Wohngemeinschaften, wie Reichardt belegen kann, nicht weit her.
    Andere Phänomene des alternativen Lebens verdanken sich dem allgemein gestiegenen Wohlstand und den stark erhöhten Bildungsausgaben, die vielen Studenten eine verlängerte Adoleszenz ermöglichten.
    Insgesamt gehören die anderthalb Jahrzehnte alternativen Lebens, die Reichardt untersucht, also zur großen Entwicklung von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft. Dennoch hat diese Phase eine Vielzahl ganz eigen- und einzigartiger Blüten hervorgebracht, die nicht mit dem historischen Rasenmäher harmonisiert werden sollten. Es gehört zu den Verdiensten von Reichardts Untersuchung, diese Blüten liebevoll zu beschreiben.
    "Kaputt" sein war kein Nachteil
    Ein Höhepunkt seines Buches ist das Kapitel über Kontaktanzeigen in Szeneblättern wie dem Frankfurter "Pflasterstrand". Wenn es etwa in einem Partnergesuch 1977 heißt "Depressiver, sensibler, fast total geschaffter Typ, sucht zum Aufbau einer längerfristigen, fruchtbaren Zweierbeziehung verständnisvolles weibliches Wesen", dann geht schon aus dieser Anzeige ziemlich gut hervor, welche Werte damals hoch gehandelt wurden. "Kaputt" zu sein oder zu erscheinen war kein Nachteil, war man doch ein Opfer der Gesellschaft und jedenfalls sicher kein Macho.
    Der Verführung, aus der Perspektive des Nachgeborenen seine Untersuchungsobjekte ironisch zu betrachten, gibt Reichardt nur selten nach. Trotzdem ist sein Buch ist bei aller wissenschaftlichen Korrektheit eine angenehme, manchmal sogar unterhaltsame, eine fesselnde Lektüre: und das nicht nur für die, die dabeigewesen sind.
    Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Suhrkamp, Berlin 2014. 1018 S., 29.90 Euro.