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Gesellschaftliche Veränderungen überspitzt dargestellt

Die 36-Jährige Chinesin Xialou Guo greift in ihren Arbeiten auf einer halbfiktionalen, halbdokumentarischen Ebene ein zentrales Thema auf: Wie wirkt sich der plötzlich überall sichtbar werdende Kapitalismus auf das kommunistische China aus? Ihren jüngsten Roman "Ein UFO, dachte sie" legt sie als satirisches Lehrstück an.

Von Martin Grzimek | 26.01.2010
    Seit die 36-Jährige Chinesin Xialou Guo vor sechs Jahren von Peking nach London übersiedelte, sind fünf Romane von ihr entstanden und nicht weniger als sieben Spiel- und Fernsehfilme. Für ihren letzten Spielfilm "She, a Chinese" erhielt sie auf dem internationalen Filmfestival von Locarno den Goldenen Leoparden. Ihr im vergangenen Jahr auch bei uns erschienener Roman "Kleines Wörterbuch für Liebende" wurde international viel beachtet und zu einem Bestseller. In Cannes bekam sie für das Drehbuch, das sie nach ihrem jüngsten Roman "Ein UFO, dachte sie" verfasste, den ersten Preis.

    Solche überraschend schnell aufeinanderfolgenden Auszeichnungen mögen zu einem nicht geringen Teil dadurch motiviert sein, dass Guo in ihren Arbeiten auf einer halbfiktionalen, halbdokumentarischen Ebene ein zentrales Thema aufgreift, das uns Westeuropäer besonders interessiert: Wie wirkt sich der plötzlich überall sichtbar werdende Kapitalismus auf das kommunistische China aus? Wie sehr verändert und beeinflusst er das Leben der einfachen Leute auf dem Land mit ihren Traditionen und Ideologien; und wie erleben und verarbeiten die Chinesen selbst diesen Aufeinanderprall so unterschiedlicher Kulturen und Wertevorstellungen?

    Bezeichnend für Guo ist dabei, dass sie zur Darstellung dieser Konflikte künstlerische Mittel und Formen benutzt, die die gesellschaftlichen Veränderungen nicht romantisieren, sondern überspitzt zeigen in einer schnörkellosen Sprache, in klaren, ausgeleuchteten Bildern.

    In dem Roman "Ein UFO, dachte sie" bedient sie sich etwa einer literarischen Gattung, die in der doktrinären Ideologie des kommunistischen China eigentlich gar nicht zugelassen ist: Sie schreibt ein satirisches Lehrstück. So besteht der Roman durchweg aus offiziellen Verhörprotokollen zweier polizeilicher Ermittler, die aus der Stadt in ein abgelegenes, verarmtes Dorf namens "Silberberg" angereist kommen, um dort einen äußerst merkwürdigen und verdächtigen Vorfall, den Guo in das Jahr 2012 vorverlegt, eingehend zu untersuchen. Denn Kwok Yun, eine unverheiratete Bäuerin, die noch bei ihrem Großvater lebt, entdeckt eines Tages ein, wie aus heiterem Himmel auf sie herabsinkendes UFO.

    "Da war plötzlich eine riesige silberne Scheibe am Himmel und flog auf den Hundert-Arme-Baum zu. Anfangs dachte ich noch, das ist ein Tagtraum, aber dann habe ich gemerkt, dass der Lärm von der riesigen Metallscheibe kam. Ich war wie gelähmt vor Schreck und hab einfach nur hingeschaut, als wäre ich ein winziges, schutzloses Insekt auf dem Boden, das gleich von einem großen Vogel gefressen wird. Ich hab die ganze Zeit auf das Ungeheuer gestarrt, und dann ist plötzlich alles vor mir verschwommen, und ich bin ohnmächtig geworden."

    Kwok Yun ist Analphabetin. Ihre Sprache benutzt einfache Bilder zur Beschreibung der Realität, was ihr erscheint, bleibt Erscheinung. Vor dem, was ihr Vorstellungsvermögen übersteigt, verschließt sie die Augen, und was ihr missfällt, übersät sie mit einer Kanonade von Schimpfwörtern. So sind fast alle Bewohner von Silberberg: begrenzt, einfältig, kindlich. Nur die Dorfvorsteherin Chang Lee bildet eine Ausnahme. Sie hat studiert, kann die Zeitung lesen und blickt über den Horizont ihrer Gemeinschaft, die sich notdürftig durch Teeplantagen und die Herstellung einer Chilipaste am Leben hält, hinaus. Chang Lee identifiziert die silberne Metallscheibe natürlich gleich als ein fragwürdiges UFO. Als Kwok Yun aber auch noch von einer Begegnung mit einem Überirdischen berichtet, wird sie hellhörig.

    "Es war ein Fremder, ein echter Fremder mit tief in den Höhlen liegenden Augen, sonnenverbrannter Haut und Haaren so gelb wie das verdorrte Gras. Er schien fürchterliche Schmerzen zu haben, wirkte aber harmlos. Er sagte etwas und versuchte, sich aufzusetzen. Ich sah, dass er an einem Bein eine blutende Wunde hatte. (..) Ich dachte: 'Eigentlich soll doch heute der glücklichste Tag des Monats sein, dabei bluten alle nur. Es ist ein blutiger Tag!'"

    Die Gemeindevorsteherin Lee schaltet die Behörden ein, Untersuchungen beginnen. Wie auf einer Bühne führt uns Xiaolu Guo ihre Charaktere vor. Ein jeder entlarvt sich selbst: Die beiden Polizeibeamten durch ihren arroganten Umgangston ebenso wie die ungebildeten Dorfbewohner durch ihre Naivität und Streitsucht. Dass, abgesehen von den Polizisten, jeder der Mitspieler gleichwohl ein eigenes Gesicht erhält und mehr und mehr zu einer Persönlichkeit wird, verdanken wir der feinen Beobachtungsgabe und der geschickten Dramaturgie Xiaolu Guos. Aber noch ein anderer Umstand ist dafür verantwortlich, dass die Autorin ihre Figuren vor unseren Augen lebendig werden lässt: Es sind allesamt Personen, die ihr aus ihrer Kindheit vertraut sind. Guo wuchs in einem kleinen Küstenort im Süden Chinas auf. Viele Jahre lebte sie bei ihren Großeltern, weil der Vater wegen seiner bourgeoisen Malerei, wie es hieß, von den Kommunisten in ein Lager verbannt worden war. Miterleben zu müssen, wie man die Familie auseinanderriss, wie die Bauern und Fischer immer mehr unter der Diktatur der Partei litten und allmählich ausbluteten, hat Guos Blick sensibilisiert für Typisches und Menschliches.

    Diesem Blick begegnen wir in ihren Romanen, besonders in "Die Stadt der Steine", ihrem großartigen Erstlingswerk, aber auch in ihren Dokumentarfilmen, wie z.B. in "Es war einmal proletarisch", einer Sammlung von Szenen aus dem sich verändernden Provinz- und Stadtleben des heutigen China. Dabei wird Guo an keiner Stelle sentimental, trauert dem Vergangenen nicht nach, sondern konfrontiert es mit der rasanten und auch zerstörerischen Entwicklung der modernen westlichen Industriegesellschaft in China. In "Ein UFO, dachte sie" verwandelt sich das Dorf "Silberberg", dieses von "Fliegen verseuchte Dreckloch", schließlich in ein Musterdorf voller Fabriken, Touristenanlagen und einem Museum, in dem man die alte Zeit bestaunen kann. Der Alien, der einst gelandet war, entpuppte sich als ein amerikanischer Tourist, der sich verlaufen hatte und aus Dankbarkeit für seine Rettung ein paar tausend Dollar schickte. Die neue Generation, vertreten durch die geschulte Dorfvorsteherin Chang Lee, hat es schließlich geschafft, aus einem heruntergewirtschafteten Kaff ein florierendes Unternehmen zu machen. Auf der Strecke geblieben sind freilich die Menschen. Wer früher noch friedlich seine Teefelder bestellte, schuftet nun als Aushilfskraft im Supermarkt. Das scheint ein wenig plakativ und allzu komödiantisch, weil wir uns derartige Entwicklungen, die bei uns Jahrzehnte brauchten, sich in China aber in ein paar Jahren vollziehen, nur schwer vorstellen können. Xiaolu Guo zeigt uns, als säße sie selbst, ausgestattet mit einem Zeitraffer, in einem UFO, auf faszinierende Weise, was in ihrem Land im Augenblick wirklich geschieht, auch wenn wir es, fernab davon, noch nicht recht glauben wollen.

    XIAOLU GUO: "Ein UFO, dachte sie". Roman. Aus dem Englischen von Anne Rademacher. Albrecht Knaus Verlag, München 2009, 222 S., € 18,95