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Gesellschaftstransformation
EU-Länder sind kommunizierende Röhren

Kann man ehemalige kommunistische Gesellschaften in neoliberale verwandeln? Philipp Ther, Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien, hat diese Frage in der Analyse "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" mit gesamteuropäischer Perspektive untersucht und legt eine differenzierte Auseinandersetzung vor.

Von Conrad Lay | 17.11.2014
    Flaggen der Europäischen Union vor dem Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel, Belgien (14.5.2012)
    Alle Länder in der EU unterliegen Kotransformationsprozessen, sagt Philipp Ther. (picture alliance / dpa / CTK Photo / Vit Simanek)
    Philipp Ther liefert keine vorschnelle Abrechnung mit dem Neoliberalismus, sondern ist um eine ausgewogene Darstellung der durch neoliberale Politik ausgelösten Prozesse in Osteuropa bemüht. Er argumentiert empirisch gut unterfüttert, differenziert zwischen den verschiedenen Ländern und arbeitet auch Unterschiede zwischen neoliberaler Rhetorik und dem tatsächlichen, relativ pragmatischen Handeln, etwa des ehemaligen tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus, heraus. Philipp Ther:
    "Das Problem war dann für Vaclav Klaus, dass er nicht komplett ohne Rücksicht auf die Gesellschaft, auf die Bevölkerung agieren konnte. Wo sich seine Politik zum Beispiel widersprach war: Einerseits hat man diese Forderungen nach Marktwirtschaft ohne Attribute in vielen Bereichen auch tatsächlich umgesetzt, ziemlich radikal, andererseits gab es die Möglichkeit, günstig zu wohnen und auf diese Weise über die Runden zu kommen. Das war so eine Art Kompromiss, um eben auch keine Sozialrevolten zuzulassen. Also, wenn man es so marktradikal gemacht hätte, wie nach außen postuliert, dann hätte es sicher mehr Widerstand gegeben, daher diese Kompromisse."
    Liberalisierung braucht starke Institutionen
    Letztlich kann Philipp Ther zeigen, dass eine Liberalisierung – selbst eine radikale Neo-Liberalisierung – auf starke, öffentliche Institutionen angewiesen ist. Sein Resümee lautet: Gesellschaften haben sich dort besser entwickelt, wo sich eine aktive Mittelschicht und keine tiefe soziale Kluft entwickelt hat, wo Wert auf Bildung gelegt wurde sowie benachteiligte Schichten und Regionen Unterstützung erfuhren, mit anderen Worten: Wo es um mehr ging als um einen freien Markt. Ther schreibt:
    Den Erfahrungen der neunziger Jahre zufolge kommt es vor allem auf die Stärkung staatlicher Strukturen durch zügige Verwaltungsreformen an. Das betrifft die Rechtsprechung, mehr Spielraum und Eigenverantwortung für Regionen und Kommunen. In diesem Rahmen konnte sich das polnische Wirtschaftswunder entwickeln. Der Neoliberalismus ist auf einen starken Staat angewiesen.
    Thers Kritik eines unregulierten Neoliberalismus' ist deshalb interessant, weil der Autor zunächst der sog. "neoliberalen Triade" – also Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung - viel Verständnis entgegenbringt und sich über weite Strecken einer politischen Bewertung enthält. Es zeigt sich jedoch, dass etwa eine Gesellschaft wie die polnische, die sich in den vergangenen 25 Jahren besonders gut entwickelt hat, von einer "Transformation von unten" profitierte. Die polnische Erfolgsgeschichte, also der Boom des Unternehmertums sowie eine relativ breite Mittelschicht, beruhte auf Bedingungen, die über einen längeren Zeitraum, zum Teil schon vor 1989, entstanden waren. Der Neoliberalismus mit seiner Schocktherapie schuf dafür nur ungenügende Voraussetzungen.
    Kotransformationsprozesse in Europa
    Das außerordentlich aufschlussreiche Buch von Philipp Ther beschränkt sich nicht auf Osteuropa. Gerade weil es auch die Rückwirkungen auf westeuropäische Länder einbezieht, kann Ther nachweisen, dass die europäischen Länder insgesamt wie kommunizierende Röhren funktionieren. Veränderungen in einem Teil des Kontinents lassen den anderen Teil nicht unberührt. Ther nennt das "Kotransformation", und dazu zählt er etwa die Arbeitsmarktreformen unter der Regierung Schröder.
    "Die These ist die, dass man die schröderschen Reformen nur verstehen kann, erstens, unter dieser neoliberalen Hegemonie, und zweitens, dass sie eine Reaktion waren auf die spezifische Transformationskrise in der Bundesrepublik. Man darf dabei nicht vergessen: Auch die Bundesrepublik wurde zu einem Transformationsland und zwar insgesamt."
    Obwohl Historiker, hat Philipp Ther ein äußerst aktuelles Buch geschrieben. Er bezieht sogar die akuten Krisen im Süden Europas in seine Betrachtung ein:
    "Der Süden als neuer Osten, das ist die Wahrnehmung des Südens. Plötzlich wurde dem Süden ähnliche Eigenschaften zugeschrieben wie früher dem Ostblock oder noch Anfang der neunziger Jahre den postkommunistischen Staaten, unter anderen Polen, also Rückständigkeit, Armut, Reformunfähigkeit oder Reformunwilligkeit, wobei da immer die Frage ist: Stimmen diese Argumente überhaupt? Aber ich habe sie erst mal als solche präsentiert, also der Süden wird in Teilen so wahrgenommen, wie früher der Osten."
    Ther verschweigt auch nicht, dass die baltischen Staaten, die für einen besonders eindeutigen, neoliberalen Kurs stehen, die Wirtschaftskrise 2008/09 nur schwer überwinden konnten, und auch nur, weil sie ein Ventil hatten namens Migration, genauer gesagt: eine Abwanderung von bis zu zehn Prozent der Bevölkerung.
    Widersprüche der neuen Ordnung aufzeigen
    "Wenn man das Gleiche jetzt Italien empfehlen würde beispielsweise, dann wären die noch wirtschaftsstarken Länder Europas mit zehn Prozent, ungefähr fünf Millionen italienischen Arbeitsmigranten, konfrontiert. Und das ist auch eines der Ziele in dem Buch, die systemimmanenten Probleme oder auch Widersprüche dieser neuen Ordnung aufzuzeigen. Es kann schon sein, dass eine bestimmte Reformmaßnahme in einem Land in einem gewissen Bereich funktioniert hat; nur daraus abzuleiten, dass es in einem anderen Land so funktioniert, das ist oft höchst problematisch."
    Philipp Ther legt eine differenzierte Auseinandersetzung mit der "neuen Ordnung auf dem alten Kontinent" vor. Auch wenn seit der Finanzkrise 2008/09 das europäische Sozialstaatsmodell, wie Ther schreibt, "nicht mehr als obsolet, sondern als zukunftsfähig" gilt, so ist der Autor trotzdem nicht allzu hoffnungsvoll: Ihm ist die jüngste Kehrtwende eher ein Zeichen dafür, wie verletzlich Europas Gesellschaften noch auf lange Zeit sein werden.
    Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent.
    Eine Geschichte des neoliberalen Europa
    Suhrkamp Verlag, 431 S., 26,95 Euro
    ISBN: 978-3-518-42461-2