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Gesetzmäßigkeiten im Alltag
Die Vorliebe des Kosmos für kleine Zahlen

Einige Zahlen begegnen uns im Alltag häufiger als andere. Der Physiker Frank Benford entdeckte darin eine Gesetzmäßigkeit. Die kann uns helfen, Steuersünder zu entlarven, Wahlfälschungen aufzudecken oder einen Gratis-Drink in der Bar zu bekommen, erklärt Christian Hesse, Mathematiker an der Universität Stuttgart, im Dlf.

Christian Hesse im Gespräch mit Ralf Krauter | 15.03.2019
Zahlenkolonne
Ob Einwohnerzahlen, Aktienkurse oder Umfrage-Ergebnisse - im Alltag beginnen die meisten Zahlen mit kleinen Ziffern. (dpa / picture alliance / Ralf Hirschberger )
Ralf Krauter: Herr Hesse, gibt’s da universelle Spielregeln, die für alle gelten?
Christian Hesse: Es gibt im Zahlenkosmos in der Tat faszinierende Gesetze. Eins der fundamentalsten besagt, dass nicht alle Zahlen gleich sind. Einige Zahlen sind gleicher, um mit Aldous Huxley zu sprechen.
Krauter: Das klingt irgendwie unfair. Wie äußert sich diese Ungerechtigkeit?
Hesse: Im Reich der Zahlen gilt das Benford-Gesetz. Es besagt: Von 100 Zahlen, die uns im Alltag begegnen, beginnen im Schnitt 30 mit einer eins, und 18 mit einer zwei, nur 13 mit einer drei sowie nur ganze fünf mit einer neun. Und dabei ist es so ziemlich egal, um welche Zahlen es sich handelt - ob um Einwohnerzahlen, Aktienkurse oder den Zahlen-Mix in Zeitungen. Sie können das testen, indem sie eine beliebige Seite einer beliebigen Zeitung aufschlagen und dann in irgendeinem Artikel jeweils die erste Ziffer aller dort auftauchenden Zahlen notieren. Die eins wird stark überrepräsentiert sein. Das Benford-Gesetz ist inzwischen auch mathematisch bewiesen. Es hat enorme Auswirkungen, da die allermeisten Datensätze, zum Beispiel auch Finanzdaten und Wahlergebnisse, ihm gehorchen. Selbst die Zahlen in der Bibel gehorchen dem Gesetz, das der US-Physiker Frank Benford 1938 veröffentlichte. Die Bibel kannte Benford also schon lange vor Benford.
Krauter: Kann man dieses universelle Gesetz irgendwie plausibel machen?
Hesse: Ja. Der Weg von der eins zur zwei ist bei allem was gezählt und gemessen wird am längsten. Denn eine eins muss sich verdoppeln, um zur zwei zu werden. Ein Aktienkurs von 100 Euro muss um 100 Prozent steigen, um ab 200 Euro in den Bereich mit der Anfangsziffer zwei vorzudringen. Ist der Kurs 900 Euro, muss er nur um elf Prozent wachsen, damit er ab 1000 Euro abermals zu einer Zahl mit eins am Anfang wird. Beim zickzackförmigen Auf und Ab wird die Aktie also unterschiedlich lang in den einzelnen Bereichen bleiben. Am längsten in denen, wo eine eins vorne steht.
Verdächtige Zahlenfolgen
Krauter: Ich habe gelesen: Finanzämter nutzen Benfords Gesetz, um frisierte Steuererklärungen aufzuspüren. Stimmt das?
Hesse: Ja. Mit dem Benford-Gesetz lassen sich Daten auf Manipulation prüfen. Und das nutzen auch Finanzämter und Wirtschaftsprüfer. Finanzdaten, die beim Benford-Check durchfallen, sind verdächtig. Es konnte damit zum Beispiel bewiesen werden, dass manche Entwicklungsländer in der Vergangenheit systematisch ihre Wirtschaftsdaten gefälscht haben. Ebenso können Wahlergebnisse auf Wahlfälschung untersucht werden. Die Daten-Experten sind sich ihres Benford ziemlich sicher. Echte Daten sind Benford-artig, gefälschte sind es in der Regel nicht. Leute, die an echten Zahlen herumfummeln, um sich Vorteile zu verschaffen, versuchen ihre Fälschungen in der Mitte zu verstecken, als bei Anfangsziffern fünf und sechs. Das bringt das Gefüge der Ziffern insgesamt durcheinander. Wer Benford kennt, merkt das. Einen Zahlen-Guru kann man nicht belügen.
Krauter: Es sei denn die Betrüger kennen Benfords Gesetz auch und schummeln die passenden Zahlen in der passenden Häufigkeit rein?
Hesse: Korrekt. Aber um da als Datenfälscher alles richtig zu machen, muss man schon einen Kurs in höherer Mathematik besucht haben, denn nicht nur die Anfangsziffern haben eine spezielle Verteilung, auch die Ziffern direkt danach. Aber es ist eine andere.
Gesetzmäßigkeiten des Zufalls
Krauter: Einen Zufallszahlengenerator zu benutzen, reicht nicht?
Hesse: Im Prinzip schon, aber die meisten Steuersünder sagen sich halt: Dann denke ich mir eben selbst schnell eine beliebige Zahl aus. Und verkennen dabei, dass Menschen sehr schlechte Zufallsgeneratoren sind. Wenn Sie jemanden bitten eine Münze 200-mal zu werden und jeweils Kopf oder Zahl zu notieren, und jemand anderes soll das ohne Münze ganz zufällig aus dem Bauch heraus machen. Dann kann man fast sicher sagen, wer das mit Münze gemacht hat, also mit Zufall, und wer es ohne gemacht hat, also aus dem Bauch heraus. Manchmal reicht es schon, auf eine einzige Eigenschaft zu achten: Zum Beispiel, ob irgendwo in der Folge sechsmal hintereinander Kopf oder Zahl vorkommt. Das ist dann die Münzfolge. Denn der Zufall verhält sich bei 200 Würfen mit 96-prozentiger Sicherheit so, dass er auch mal sechsmal hintereinander Kopf oder Zahl liefert. Wer sich aber eine Zufallsfolge nur ausdenkt, scheut sich meist vor solchen Wiederholungen.
Ungleiche Chancen
Krauter: Weil wir intuitiv denken, soviel Regelmäßigkeit kann kein Zufall sein. Nochmal zurück zum Benford-Gesetz: Haben neben Wirtschaftsprüfern auch Normalsterbliche wie Sie und ich was davon im Alltag?
Hesse: Wenn Sie in einer Bar günstig an einen Drink kommen wollen, dann hätte ich was für Sie. Schlagen Sie Ihrem Nebensitzer ein Spiel vor: Bitten Sie den Barkeeper, Ihnen ein beliebiges Wort zu nennen und sagen Sie Ihrem Nebensitzer dann: Sofern die Google-Zählung von diesem Wort mit den Zahlen eins, zwei oder drei beginnt, musst DU die nächste Runde übernehmen, sofern sie mit vier, fünf, sechs, sieben, acht oder neun anfängt, bezahle ICH. Wenn Ihr Gegenüber Benford nicht kennt, rechnet er sich für sich insgeheim doppelt so große Gewinnchancen aus, da er immerhin bei sechs Anfangsziffern den Drink gewinnt. Doch tatsächlich stehen die Chancen 60:40, dass er bezahlen muss. Nehmen wir zum Check mal den Begriff "Zufall". Die Google-Zählung liefert 22,4 Millionen. Und voilá, Ihr Nebenbesitzer muss einen ausgeben, weil die erste Ziffer eine zwei ist.
Im Reich der Zahlen hat die Gleichstellungsbeauftragte bei den Anfangsziffern ziemlich versagt: Die eins hat 30 Prozent der Anfangspositionen inne. Und die neun muss sich mit 5 Prozent zufrieden geben. Da kann man durchaus von Diskriminierung sprechen.