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Gespaltenes Österreich (2/5)
Soziale Gerechtigkeit oder Armutszeugnis?

Die schwarz-blaue Regierung in Österreich will die Mindestsicherung vereinheitlichen. Von einer "neuen sozialen Gerechtigkeit" ist die Rede. Doch der Arzt und Sozialdemokrat Michael Schodermayr befürchtet, dass die Kluft zwischen Arm und Reich dadurch größer wird, selbst in Hochlohnstädten wir Steyr.

Von Antonia Kreppel | 09.10.2018
    Blick auf die Altstadt von Steyr in Österreich
    1.400 Mindestsicherungsempfänger gibt es laut Sozialstadtrat Michael Schodermayr (SPÖ) in der Hochlohnstadt Steyr - davon 600 Kinder. (Imago)
    Der Zug aus Linz hält in einem Vorort von Steyr, direkt neben den Arbeitshallen der BMW-Group. Hier in Steyr-Münichholz werden jährlich über 1,3 Millionen Benzin- und Dieselmotoren produziert; für die Stadt mit 4.800 Mitarbeitern ein wichtiger Arbeitgeber.
    Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Gespaltene Gesellschaft - Österreich ein Jahr nach der Wahl" in der Sendung "Gesichter Europas".
    Eine breite Straßenschneise führt in das Zentrum des Arbeiterbezirks. Auffällig sind die gleichmäßig angeordneten Wohnhäuser mit den steilen Satteldächern. Die Werksiedlung Münichholz wurde in der NS-Zeit als nationalsozialistische Mustersiedlung errichtet. Im ehemaligen Verwaltungsgebäude, ein wuchtiger dreigeschossiger Bau mit Arkadengang, hat der Arzt Michael Schodermayr seine Praxis.
    Viele Empfänger der Mindestsicherung sind Kinder
    Der letzte Patient ist bereits gegangen. Der Arzt mit dem struppig grauen Bart sitzt in einem leuchtend roten Sessel in einem der Behandlungsräume. Kaum einer kennt die Kehrseite des wirtschaftlichen Erfolges der Stadt besser; denn in Steyr sind vor allem Facharbeiter gefragt.
    "Obwohl wir in Österreich die Stadt mit dem höchsten Medianeinkommen sind, haben wir an die 1.400 Mindestsicherungsempfänger. Und von den 1.400 Mindestsicherungsempfängern - und da wird’s dann richtig blutig - sind an die 600 Kinder. Das ist für ein Hochlohnstadt wie Steyr mit 38.500 Einwohnern schon beachtlich. Und des in einem Wohlfahrtstaat, in einem Sozialstaat. Also man kann sich nicht genug schämen für das."
    Michael Schodermayr, 58 Jahre alt, hat als Sozialstadtrat der SPÖ die Zahlen im Kopf. Seit Kurzem ist er auch Vorsitzender der Volkshilfe Österreich. Dass die schwarz-blaue Regierung plant, die Mindestsicherung zu kürzen, empört ihn. Der trotzige Zug um seinen Mund verstärkt sich.
    Betrag soll bundesweit einheitlich werden
    Bislang ist die Höhe der Unterstützung Sache der Bundesländer. Nun soll der monatliche Beitrag vereinheitlicht werden. Von einer "neuen sozialen Gerechtigkeit" spricht die schwarz-blaue Koalition. Die neue Mindestsicherung soll "bedarfsorientiert" sein - und Geld einsparen. In Oberösterreich würde ein Alleinstehender dann 863 Euro erhalten, statt bisher 921 Euro. Die 863 Euro sind ein Maximalwert als Vorgabe für die Länder.
    "Die Mindestsicherung ist das letzte soziale Netz, in das man hineinfällt, wenn man durch alle anderen durchgefallen ist; das heißt, wenn ich keinen Job hab, kein Einkommen hab. Ich darf fast nichts mehr haben bis auf 4.000 Euro, ich muss mein Auto verkaufen. Man hört es ja nur so, der arbeitet nichts und jetzt kriegt er Mindestsicherung und jetzt lässt er sich's gutgehen, das ist völliger Blödsinn. Und er hat per Gesetz Bemühungspflicht, sich aktiv zu engagieren, um wieder in den Arbeitsmarkt hineinzukommen. Also kein Mensch möchte in Wahrheit eine Mindestsicherung kriegen."
    "Armut macht krank", weiß der Arzt aus Erfahrung
    Hier in der Arbeitersiedlung kennt Michael Schodermayr genug kinderreiche Familien, die schon seit Antritt der schwarz-blauen Landesregierung 2016 mit der begrenzten Summe von rund 1.500 Euro auskommen müssen. Auch viele chronisch kranke Menschen und Menschen mit Behinderung müssen von der Sozialhilfe leben.
    Als Arzt weiß er aus Erfahrung, dass Armut krank macht. In seiner weitläufigen Praxis gibt es mehrere Behandlungszimmer. Sie sind schlicht eingerichtet, funktional.
    "Die Leute gehen weniger oft zum Arzt, sind meistens unter Dauerstress. Wenn ich nicht weiß, wie ich über die Runden komme, macht das Stress, Stress macht krank. Es gibt ja diesen unsäglichen Begriff der Nudel-Familien. Das sind Mütter, die am 20., 25., kommen und sagen, jetzt fahr ich zu dem und dem Diskonter und kauf mir einen Fünf-Kilo-Sack Nudeln, und des billigste Sugo dazu und den Rest des Monats essen wir das, weil wir nix anderes mehr kaufen können. Also Armut macht krank, da fährt der Zug drüber."
    Michael Schodemayr hat eigenhändig einen Imbisswagen gebaut, wo er mit dem Verkauf von Würstchen Geld sammelt; "Benefizgeschichtln" nennt er das. Was ihm wirklich Sorgen bereitet, ist die wachsende Schere zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft, die er vor allem auch hier in Steyr beobachtet:
    "Je grösser die Differenz ist zwischen den sozialen Schichten, umso kränker ist eine Gesellschaft, umso instabiler ist eine Gesellschaft, umso mehr Suizide gibt’s, umso mehr Suchterkrankte gibt’s, umso mehr Kriminalität gibt’s - und im Moment wird’s gefördert. Das was dahinter passiert, ist ein gesellschaftlicher Umbau. Nämlich wieder diese Aufteilung einer Gesellschaft in Gut und Böse, wir und die anderen. Und das halte ich für sehr gefährlich."
    Kluft zwischen Arm und Reich, Österreichern und Ausländern
    Der Keil werde vor allem auch in die unterste soziale Schicht hineingetrieben, befürchtet Michael Schodermayr. Denn Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft, befristet Asylberechtigte und Personen mit subsidiärem Schutz, sollen laut Plan der neuen Regierung künftig monatlich 300 Euro weniger bekommen als Menschen mit österreichischer Staatsbürgerschaft.
    "Dass man die noch einmal auseinanderdividiert in solche, die die österreichische Staatsbürgerschaft haben, denen steht das zu, und solche die halt zu uns gekommen sind als Gäste, als Flüchtlinge, und diesen Menschen gesteht man das Mindeste nicht zu."
    Sein Vater, erzählt er noch, habe viele seiner Patienten noch gekannt. Er war Lehrer im Arbeiterbezirk, was heute noch für witzigen Gesprächsstoff sorge. Sein gerahmtes Foto hängt gleich neben dem Schreibtisch. 31 Jahre schon ist Michael Schodermayr hier Hausarzt.
    "Werden wir halt miteinander alt", lacht er trocken und bricht auf zu einer Visite im nahegelegenen Altenheim, während nur wenige Gehminuten entfernt, in den Werkhallen, alle 14 Sekunden ein Motor von den Montagebändern läuft.