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Gespenst Unabhängigkeit
Scheidung auf Schottisch

Beim Referendum zeichnet sich eine Mehrheit für die Unabhängigkeit Schottlands ab. Der britische Premierminister eilt nun höchst selbst nach Schottland, um die Stimmung noch zu wenden. Warum aber stehen die Zeichen auf Separatismus?

Von Burkhard Müller-Ullrich | 09.09.2014
    Kampagnen-Plakat gegen die Unabhängigkeit Schottlands
    Kampagnen-Plakat gegen die Unabhängigkeit Schottlands (AFP / Andy Buchanan)
    Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst der Unabhängigkeit. Ihre Befürworter nennt man Separatisten – ein hässliches Wort, das nach Heckenschützen und Attentaten klingt, nach militanten Soziopathen und völkischen Impulsen. Wahrhaftig gibt es genügend geschichtliche Beispiele für bösen, tribalen Separatismus; eines der dramatischsten ist die baskische Terror-Organisation ETA, die in den letzten 50 Jahren mehr als 800 Menschen umbrachte.
    Doch wer solche Assoziationen im Hinblick auf die Vorgänge in Schottland wachruft, verfehlt völlig den Gefühlskern des bevorstehenden Referendums. Dabei geht es nämlich keineswegs nur um das Verhältnis zu den englischen Nachbarn, sondern auch um das Verhältnis zu Staat und Politik im Allgemeinen sowie darum, ein neues Verhältnis zu sich selber zu gewinnen, wie es in jeder Paarbeziehung, und erst recht bei deren Beendigung, geschieht.
    Das Risiko steigt mit der Ehedauer
    Angesichts der heutigen Scheidungsraten ist es ja kein Wunder, dass inzwischen auch immer mehr Landesteile, Volksstämme und Regionen an Trennung denken. Engländer und Schotten haben es zwar schon mehr als 300 Jahre miteinander ausgehalten, aber es war alles andere eine Liebesheirat. Und gerade die Tatsache, dass man schon lange zusammen ist, bietet keinerlei Gewähr dafür, dass man es bleibt, sondern im Gegenteil: Das Risiko steigt mit der Ehedauer.
    Es mag zwar sonderbar und unpassend erscheinen, Nationen als Personen zu betrachten. Doch geht es in der Tat um Fragen, die eher dem Affektleben als der politischen Sphäre von Interessen und Ideologien zuzurechnen sind. Für die Schotten gibt es keinen rationalen Grund, der es als unbedingt notwendig erscheinen ließe, aus dem Vereinigten Königreich von Großbritannien auszutreten, genauso wenig wie es einen solchen Grund für Tschechen und Slowaken gab oder für Flamen und Wallonen in Belgien gibt, von der Auflösung Jugoslawiens ganz zu schweigen.
    Dennoch feiert der Separatismus in unserer Zeit Triumphe, nachdem die Tendenz der letzten zwei Jahrhunderte immer auf Vergrößerung und Zusammenschluss von territorialen Einheiten gerichtet war. Und selbstverständlich hängt beides historisch zusammen: das Erstarken der Nationalstaaten und die Autonomiebestrebungen ihrer Teile. Heute entwickelt sich unter dem Horizont der Globalisierung und der europäischen Homogenisierung ein neues Selbstbewusstsein der Regionen, das mit dem alten Nationalstolz konkurriert.
    Dieses Bewusstsein ist die Kehrseite des wirtschaftlich und administrativ vorangetriebenen Heimatverlustes in unserer Lebenswelt. Das Besondere, das Einzigartige wird zwar zuweilen unter Kulturerbe-Schutz gestellt, es gibt folkloristische oder gastronomische Ausnahmeregelungen für dieses und jenes, aber in der Tiefe fehlen Verständnis und Verehrung für alles, was Identität wirklich konstituiert: die Anderheit, die Eigenheit, die Differenz.
    Chancenlos - bis vorgestern
    Bis vorgestern hielten so gut wie alle Beobachter das schottische Unabhängigkeitsreferendum für chancenlos. Schon das Totschlagargument des Währungsverlustes schien den Fortbestand der britischen Union zu garantieren. Es werde doch niemand ernsthaft das britische Pfund gegen etwas Unbekanntes eintauschen wollen, erklärten die Experten. Doch seit vorgestern gilt das nicht mehr. Die süße Vorstellung, sich als Schotte sozusagen in der ganzen Vollständigkeit eines eigenen Staates zu erschaffen, überwiegt sämtliche Bedenken. Man kann dieses verzehrende Verlangen nach Autonomie in objektiven Kategorien gar nicht beschreiben. Es ist eine köstliche Fantasie, die in die Köpfe steigt und ungeahnte Wirkungskraft entwickelt.
    Hinzu kommt, dass in dieser Lossagungslust auch ein politischer Protest ganz anderer Art steckt, und zwar gegen die dauernden Drohgebärden in den Diskursen der Regierungen. Die Völker sind es allmählich leid, bei demokratischen Entscheidungen mit Katastrophenwarnungen diszipliniert zu werden. Die Schotten wollen sich jedenfalls von amtlichen Untergangsszenarien nicht mehr Bange machen lassen, und wenn die Angst erst einmal besiegt ist, wird man sehen, was von Sätzen wie "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa" übrig bleibt.
    Gewiss wird sich nicht nur die Karte, sondern das Antlitz Europas verändern, wenn am Donnerstag der kommenden Woche Schottland für die Trennung votiert. Am Donnerstag der kommenden Woche vor 200 Jahren begann der Wiener Kongress, der Europa grundlegend umgestaltete – auf eine doch recht haltbare, friedensichernde Weise. Auch Schotten und Briten werden Freunde bleiben – das Beste, was man sich bei einer Trennung versprechen kann. Und insgesamt ist Staatsverkleinerung kein schlechter Weg, um den leviathanischen Tendenzen unserer Zeit entgegenzuwirken.