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Gespräche über das System

Zum zehnten Todestag des Soziologen und Gesellschaftstheoretikers Niklas Luhmann hat Wolfgang Hagen den Interview-Band "Was tun, Herr Luhmann?" herausgegeben. Zahlreiche Gespräche mit Luhmann zu den Themen Menschen, Medien, Kultur, Wirtschaft und Politik sind in dem Buch zusammengefasst und helfen, einen Eindruck von der Denkart der Systemtheorie zu erhalten.

Von Matthias Eckoldt | 06.11.2008
    Ich lehne alle Einladungen ab, die mich veranlassen wollen, über den Menschen zu sprechen. Menschenbilder, so was Grausliches. Also der Mensch interessiert mich nicht, wenn ich das so hart sagen darf.

    Einer der vielen verstörend wirkenden Aussprüche von Niklas Luhmann. Nachzulesen in dem gerade noch rechtzeitig zu seinem zehnten Todestag veröffentlichten Band "Was tun, Herr Luhmann?". An dem provokanten Denker scheiden sich die Geister. Von den einen wird ihm intellektueller Zynismus, herrschaftskonformes Denken und die Bejahung des Bestehenden vorgeworfen.

    Andere sehen Luhmann als den Begründer einer modernen Gesellschaftstheorie, der für die gesamte Soziologie im Alleingang ein neues Fundament errichtete. Luhmann selbst charakterisierte sein Theorie-Projekt als Abklärung über Aufklärung. Er wollte die heißen politischen und utopischen Leidenschaften abkühlen zugunsten einer Theoriearbeit, die auf Beschreibung und Beobachtung zielt, auf die Wertung des Beschriebenen aber verzichtet.

    "Was ich als Plan hatte, war eigentlich immer eine Gesellschaftstheorie, eine Theorie für die moderne Gesellschaft. Das war ja auch die Zeit, wo der Marxismus wieder aufkam, wo ich also nur den Kopf schütteln konnte über so viel altmodische Vorurteile, aber verstand, dass man das nicht ohne eine adäquate Gesellschaftstheorie erledigen konnte. So dass eigentlich die Frage war: Wie kommt man zu einer Beschreibung der modernen Gesellschaft?"

    In "Was tun, Herr Luhmann?" versammelt der Herausgeber Wolfgang Hagen eine Auswahl der mit Luhmann in den neunziger Jahren geführten Interviews.

    Schwerpunktmäßig geht es hier um Fragen der Politik, Kunst und der Massenmedien. Der Publizist und Medientheoretiker Rudolf Maresch eröffnet den Interviewreigen und befragt Luhmann zu Protestbewegungen, von denen der Systemtheoretiker bekanntermaßen wenig hält.

    Während 1968 die revoltierenden Jugendlichen auf die Straße gingen, um die Gesellschaft zu verändern, erklärte Luhmann in seinen Seminaren vor damals noch spärlich besetzten Stuhlreihen, dass eine Veränderung der Gesellschaft gar nicht möglich sei, weil der Mensch in den sozialen Systemen des zwanzigsten Jahrhunderts bestenfalls noch eine Statistenrolle spiele.

    Seine Gesellschaftstheorie sah die Systeme - wie Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft - im Zentrum und den Menschen am Rande, in der Umwelt der Systeme. Messerscharf formuliert Luhmann im Gespräch:

    Im Zusammenhang mit einer Theorie, die die moderne Gesellschaft über funktionale Differenzierung beschreibt, sind Bewegungen, die nicht den Anspruch erheben, anstelle der Wirtschaft oder der Politik zu wirtschaften oder zu regieren, Randerscheinungen. Bewegungen werden gespalten in Teile, die kompromissbereit sind und mitwirken wollen, oder in Teile, die an Prinzipien festhalten und dann enttäuscht werden.

    Luhmann geht davon aus, dass die moderne Gesellschaft funktional differenziert ist. Das heißt: die einzelnen Teilsysteme übernehmen spezifische Funktionen. Ihre Arbeitsweise bezeichnet Luhmann als autopoietisch, also als selbstgesteuert. Sie können von außen nicht beeinflusst werden. Ihr vorrangiges Ziel ist die Reproduktion. Dazu brauchen sie zwar Menschen, die aber können in den Systemen nur zu den systemeigenen und nicht zu ihren Bedingungen agieren.

    Wer wirtschaftlich handelt, muss über Geld kommunizieren, wer wissenschaftlich handelt, über Wahrheit und wer politisch handelt, über Macht. Dieses Konzept macht deutlich, wieso sich Wissenschaft mit der Verantwortung für das von ihr produzierte Wissen so schwer tut, warum der Wirtschaft mit moralischen Kriterien schwer beizukommen ist und warum sich Politiker nach der Wahl nicht an ihre Wahlkampfversprechen erinnern mögen.

    Luhmann, das wird aus seinen Statements rasch klar, will die strukturellen Besonderheiten eines jeden gesellschaftlichen Systems analysieren. Deswegen sind weder Protestbewegungen noch Menschen für ihn von Interesse. Die Teilsysteme, die von der soziologischen Systemtheorie beschrieben werden sind: Politik, Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft, Religion, Erziehung, Recht und Massenmedien. Über letztere unterhielt sich Dirk Knipphals von der "taz" mit Luhmann.

    "Ich hatte richtig Muffensausen davor. Wir sind nach Örlinghausen gefahren und haben ihn da in seinem Wohnzimmer besucht. Er war absolut unkompliziert. Er was absolut höflich. Sehr, sehr nett. Und vor allem - was ich interessant fand und was außergewöhnlich ist für viele deutsche Intellektuelle - er war absolut professionell. Ich hab so ein unkompliziertes Interview mit einem so berühmten Philosophen nicht kennengelernt."

    Luhmann ging es auch bei seiner Analyse der Massenmedien nicht um inhaltliche Aspekte, sondern um die Struktur des Systems, um die Art und Weise, wie Massenmedien funktionieren. Besonderes Augenmerk richtete er dabei auf die extrem starken Filter des Systems, die zur Folge haben, dass sich die Medien kaum für die Wirklichkeit als solche interessieren. Also beispielsweise nicht für die geglückten Starts und Landungen auf den Flughäfen dieser Welt, sondern für die ganz wenigen Ausnahmen von der Regel.

    Die Wirklichkeit interessiert die Massenmedien nur unter stark limitierten Bedingungen. Berichtet wird nicht über die Realität, sondern über kleinste Wirklichkeitsfenster, über Ereignisse, die es schaffen, die Selektionsbarrieren der Massenmedien zu nehmen. Die Pointe dieses Gedankenganges ist umstürzend: Die Massenmedien, so lehrt es die luhmannsche Systemtheorie, bilden die Welt nicht ab, wie sie ist, sondern sie malen ein ganz spezifisches - medienspezifisches - Bild der Welt, indem Wahrheit nicht das oberste Kriterium ist. Dirk Knipphals fragt Luhmann mit berechtigtem Misstrauen:

    Ob ein Artikel tatsächlich stimmt, ist für Sie nicht das Entscheidende?

    Luhmann antwortet lakonisch:

    Ich glaube nicht, dass Wahrheit des zentrale Moment der Medien sein kann. Die Meldungen müssen ja auch zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig sein. Jeden Morgen muss eine Zeitung vorliegen, jede Sendeminute im Fernsehen muss gefüllt sein. Ich denke, dass eine Kommunikation, die auf Wahrheit spezialisiert ist, nicht unter Zeitdruck stehen darf. Man weiß ja nicht, wie lange man prüfen muss.

    "Diese Massenmedientheorie hat für einen Praktiker - also für einen Journalisten - erstmal etwas von einer narzistischen Kränkung. Also dass das so ist, dass man vom Selbstverständnis her eine Sache von Grund auf kritisiert, in Wirklichkeit aber nur seine Rolle spielt als kritischer Journalist, was ja längst eingetütet ist innerhalb der Schemata, wie über Dinge geredet wird. Und mit Herr Luhmann kann man da ganz fremd - wie von einem anderen Stern drauf gucken. Als wenn man sich selbst von oben am Schreibtisch sieht. Mit Herrn Luhmann kann man gewissermaßen erwachsen werden - auch was die eigene Rolle betrifft und was die Grenzen der eigenen Rolle betrifft."

    Ebenso ungewöhnlich erweist sich im Interview, das Hans-Dieter Huber mit Luhmann geführt hat, die systemtheoretische Perspektive auf die Kunst. Als spezifische Funktion des Kunstsystems hat Luhmann die Kontingenzbewältigung analysiert. Mit Kontingenz ist ein Begriff benannt, der in der Systemtheorie zentral ist und das Phänomen der Nichtnotwendigkeit bezeichnet.

    Kunst führt der Gesellschaft vor Augen, dass alles immer auch anders möglich ist. Wer - durch Lektüre eines Romans oder durch das Anschauen eines Bildes - am Kunstsystem teilnimmt, partizipiert am Bewusstsein vom hohen Risiko aller Entscheidungen. Jede getroffene Entscheidung ist riskant, weil sie eine gewaltige Fülle von möglichen anderen Entscheidungen ausschließt. Luhmann bringt mit dem Beobachter noch eine zweite Kategorie in seine Kunstreflexionen ein:

    Was die Soziologie beiträgt, ist die Frage, ob nicht all das letztlich seine Realität, seine soziale Existenz einer Kommunikation verdankt. Das würde zum Beispiel bedeuten, dass der Künstler in der Herstellung Unterscheidungen so platziert, dass er beobachtet, was ein anderer Beobachter beobachten wird, wenn er das Kunstwerk sieht. In der neueren Ästhetik sagt man ja, ein Betrachter versteht das Kunstwerk nur, wenn er die Mittel erkennt - oder in meiner Sprache - wenn er die Beobachtungsweise erkennt, mit der ein Künstler in der Arbeit das Kunstwerk produziert hat, so dass in diesem Sinne Kunst wie auch Sprache eine Vermittlung zwischen Beobachtungen ist.

    Durch den Interviewband "Was tun, Herr Luhmann?" bekommt man auch ohne sich durch die vielbändige, teilweise schwer zugängliche Theoriebildung zu arbeiten, einen Eindruck von der Denkungsart der Systemtheorie. Das Buch endet in einem Streitgespräch über den Begriff des Politischen. Kontrahenten sind der Politikwissenschaftler Herfried Münkler und der wirkmächtigste Luhmann-Schüler Dirk Baecker, die auf über dreißig Seiten ausloten, welche Beschreibungskompetenz die Systemtheorie in politischen Konstellationen hat.

    Ein würdiges Ende des Bandes, das nach den Vorlagen, die Luhmann in den gut ausgewählten Interviews lieferte, demonstriert, wie lebendig die Systemtheorie zehn Jahre nach dem Tod des Ausnahmegelehrten ist. Seine Bedeutung für die moderne Gesellschaftstheorie lässt sich wohl am ehesten mit den Worten des Philosophen Norbert Bolz ausdrücken, der über Luhmann sagte: Er war der letzte Theorieriese, auf dessen Schultern sich zu stehen lohnt.

    Wolfgang Hagen: Was tun, Herr Luhmann?
    Vorletzte Gespräche mit Niklas Luhmann

    Kulturverlag Kadmos, 160 Seiten, 14,90 Euro