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Gestorben für 16 Zeilen Kritik

Ossip Mandelstam starb einen gnädigen Tod: kurz bevor er für weitere fünf Jahre in ein Arbeitslager sollte. Das Verbrechen des Dichters: Josef Stalin gefiel eines seiner Gedichte nicht. Thrillerautor Robert Littell hat sich an der Geschichte versucht.

Eine Besprechung von Uli Hufen | 03.09.2009
    Im November 1933 schrieb der russische Dichter Ossip Mandelstam ein Gedicht über seinen Namensvetter Josef Stalin, das diesem nicht gefallen konnte:

    Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr,
    Wir reden, dass uns auf zehn Schritt keiner hört,

    Doch wo wir noch Sprechen vernehmen, –
    Betrifft's den Gebirgler im Kreml.

    Seine Finger sind dick und, wie Würmer, so fett,
    Und Zentnergewichte wiegt's Wort, das er fällt,

    Sein Schnauzbart lacht Fühler von Schaben,
    Der Stiefelschaft glänzt so erhaben.

    Schmalnackige Führerbrut geht bei ihm um,
    Mit dienstbaren Halbmenschen spielt er herum,

    Die pfeifen, miaun oder jammern.
    Er allein schlägt den Takt mit dem Hammer.

    Befehle zertrampeln mit Hufeisenschlag:
    In den Leib, in die Stirn, in die Augen, – ins Grab.

    Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten –
    Und breit schwillt die Brust des Osseten.
    (Kurt Lhotzky)


    War das ein gutes Gedicht? Ein richtiges? Ein kluges? Ein mutiges? Ein lebensmüdes? Nur eines ist sicher: Die Sowjetunion von 1934 war kein Land, in dem solche Gedichte gedruckt wurden. Daher kannten nur einige Freunde das später "Stalin-Epigramm" benannte Werk. Die Geheimpolizei bekam trotzdem Wind davon. Im Mai 1934 wurde Mandelstam verhaftet, verhört, gefoltert und zu mehrjähriger Verbannung verurteilt. Die Verbannung verbrachte er 500 km südlich von Moskau in Woronesch, gemeinsam mit seiner Frau Nadeschda. 1937 durften beide nach Moskau zurückkehren, im Mai 1938 wurde Mandelstam erneut verhaftet und zu fünf Jahren Lager verurteilt. Wenige Monate später starb der Dichter in einem Transitlager am Pazifischen Ozean an Typhus. So weit die Fakten.

    Diese Geschichte ist seither hundertfach erzählt worden. Von Biografen, Literaturwissenschaftlern, Kulturhistorikern und Russlandforschern. Der Nobelpreisträger J.M.Coetzee widmete ihr einen Essay. Der englische Dichter David Morley hat sie in einen Gedichtzyklus verwandelt. Dass auch russische Autoren aller Art über Mandelstam und Stalin geschrieben haben, versteht sich von selbst, selbst wenn davon wenig auf Deutsch verfügbar ist.

    Nun hat sich der als Krimi-Autor berühmt gewordene Amerikaner Robert Littell der Geschichte angenommen und daraus einen Unterhaltungsroman gemacht, einen Thriller.

    Für einen solchen braucht man nichts dringender als Helden und eine harte Konfrontation. Und Littell verliert keine Zeit: Auf der ersten Seite seines Romans wird der Held so eingeführt:

    Dieser nervöse, dickköpfige, lebensfrohe Homo Poeticus, ... dieser nervöse Liebhaber (von mir und verschiedenen anderen) ist beim Rezitieren wie verklärt und wird zu einem – zu etwas – anderem. ... Unbeholfen fährt er mit der Hand durch die Luft, und die Haltung seines Körpers spiegelt Reim und Rhythmus des Textes und die vielfältigen, darin verborgenen Bedeutungen wider. Den Kopf in den Nacken gelegt, fährt der unverwechselbare semitische Adamsapfel hinter der fast durchsichtig dünnen Haut seiner blassen Kehle auf und ab.

    Alles klar? Hochfragile, hochgeniale Dichtermaterie – auf der Liste der bewahrenswerten Arten auf Platz eins. So einer ist Mandelstam.
    Aber das ist nicht alles. Littells Mandelstam ist außerdem noch mutig, von niemandem korrumpierbar und er sagt stets die Wahrheit, jedem:
    Seiner Geliebten erklärt er, sie müsse seinen Samen schon schlucken, um den Tag zu gewinnen, den er beim Samenerguss verliert. Er geigt bolschewistischen Bürokraten die Meinung und auch vor Stalin hat er keine Angst.

    Stalin – Mandelstams angeblicher Gegenspieler – wird im nächsten Kapitel eingeführt. Wir treffen ihn bei einem Abendessen in der Villa des Schriftstellers Maxim Gorki. Der Diktator ist hier alles, was er sein muss, damit man ihn erkennt: jovial, zynisch, nicht dumm, jederzeit bereit, auch den unbedeutendsten Kritiker den "Organen" zum Fraß vorzuwerfen.

    Um sicherzustellen, dass auch der letzte Leser merkt, wie singulär Mandelstam ist, karikiert Littell Maxim Gorki in dieser Passage als unterwürfigen und eitlen Trottel. Und so reiht sich Klischee an Klischee und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Das Epigramm wird geschrieben, Mandelstam wird verhaftet, gefoltert, ein Urteil ergeht.

    Littell lässt die Geschichte von verschiedenen Stimmen erzählen: Ossip und Nadeschda Mandelstam wechseln sich ab mit ihren Dichter-Freunden Boris Pasternak und Anna Achmatowa, Stalins Leibwächter Nikolaj Wlasik, einer halbfiktiven Geliebten und einem ehemaligen Gewichtheber, der von Littell offensichtlich als eine Art Vertreter des Volkes in den Roman eingebaut wird. Littell weiß, wie man Spannung aufbaut und hält, die Konstruktion ist clever und die Beschreibung von Folter und Verhören geht ihm als Thriller-Experten gut von der Hand.

    Unschön ist zweierlei: Weil Littell keinen Erzähler in seinen Roman eingebaut hat, trotzdem aber sicher gehen will, dass auch der letzte der angepeilten Millionenleserschaft jederzeit versteht, wer wer ist und worum es geht, müssen seine Figuren ständig Sachen erklären, die in der Sowjetunion der 30er-Jahre jedes Kind wusste und die deshalb keiner Erklärung bedurften. Am Anfang ist das komisch, nach einer Weile wird es albern und dann lästig.

    Im ersten Kapitel erzählt ein Mann Mandelstam von einem Kinobesuch:

    "Wir haben gerade unseren ersten Tonfilm gesehen. Bestimmt haben Sie die fabelhafte Besprechung in der Prawda gelesen, wobei es Leute gibt, die überzeugt sind, Stalin habe sie selbst geschrieben, weiß man doch, wie sehr er den Film bewundert. Ich rede von Tschapajew von den Brüdern Wassiljew. Der Film basiert auf dem Roman von Furmanow über den Bürgerkriegshelden Wassili Tschapajew."

    Derart umständlich dürften selbst die umständlichsten sowjetischen Kulturbürokraten nicht gesprochen haben. Außerdem musste einem Intellektuellen wie Mandelstam selbstverständlich niemand erklären, wer Tschapajew oder Furmanow waren. Noch ärgerlicher aber ist die Antwort, die Littell Mandelstam in den Mund legt:

    "Das Problem mit sowjetischen Filmen, ob es Stumm- oder Tonfilme sind", sagte er und nahm einen übertrieben breiten georgischen Tonfall an, der die Leute an Stalin erinnern sollte, "besteht darin, dass sie bei allem Reichtum im Detail ohne inhaltliche Tiefe auskommen. Aber Propaganda braucht nun mal keine inhaltliche Tiefe".

    Kann man sich vorstellen, dass ein Mann von Mandelstams Format derart schablonenhafte Dummheiten über das hoch experimentierfreudige Kino der frühen Sowjetunion verbreitet, über geniale Regisseure wie Eisenstein und Dziga Wertow? Es ist absurd.

    Und hier liegt das größere Problem des Buches. Das Bild der bösen, bösen Sowjetunion, das Littell entwirft, es könnte von Ronald Reagan stammen; die Mandelstam-Gestalt aber geht zurück auf die Memoiren der Witwe des Dichters. Littell gibt den Hinweis selbst – im letzten Kapitel erzählt er von einem Besuch bei der greisen Nadeschda Mandelstam im Dezember 1979. In "Das Jahrhundert der Wölfe" entwarf Nadeschda Mandelstam ein Bild von Ossip Mandelstam, das zutiefst verführerisch war und die Mandelstamrezeption auf Jahrzehnte prägen sollte: Der Dichter als heiliger Künstler-Märtyrer, der versucht, mit dem bloßen Wort gegen ein barbarisches System und seinen Diktator zu kämpfen, dabei sein Leben einsetzt und verliert.

    Dieser Mythos war zur Zeit seiner Erfindung wichtig und richtig, nicht zuletzt deshalb, weil die Veröffentlichung von Mandelstams Werken und seine Kanonisierung als großer Dichter erst noch erkämpft werden mussten. Heute aber weiß man, dass das Leben in der Sowjetunion der 30er-Jahre und nicht zuletzt Ossip Mandelstams Leben und Werk komplexer und unbeständiger waren, als der Mythos erlaubt.

    In der Verbannung in Woronesch zwischen 1934 und 1937 entstanden zahlreiche neue Gedichte, eine ganz neue Phase in Mandelstams Werk. Das berühmteste dieser Gedichte ist eine Ode an Stalin, die zu lang ist, um sie hier zu zitieren. Nadeschda Mandelstam und mit ihr Robert Littell tun diese Ode mit schneller Hand ab als minderwertiges, vom Staat erpresstes Machwerk, mit dem Mandelstam sein Leben retten wollte.
    Der 2005 verstorbene russische Mandelstamexperte Michail Gasparow – einer der großen humanistischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts – sieht das anders. Mit seiner Studie zu Mandelstams späten Gedichten leitete Gasparow 1996 einen Paradigmenwechsel ein: weg vom publizistisch effektvollen Antistalinismus hin zu einem tieferen Verständnis der poetischen und philosophischen Strategien eines Mannes, der ein Künstler war, kein politischer Oppositioneller. Gasparow konnte zeigen, dass die Ode an Stalin keineswegs ein einzelner Ausrutscher, ein erpresstes Gedicht oder ein in Wahrheit subversives Meisterwerk war. Vielmehr fügt die Ode sich organisch ein in das gesamte Spätwerk Mandelstams aus den Jahren 1934 bis '37.

    Als Grund für Mandelstams Unbeständigkeit wird von russischen Autoren häufig angeführt, Mandelstam habe kein Außenseiter mehr sein wollen; er habe das Leben nach der ersten Verhaftung als Geschenk betrachtet und annehmen wollen; er habe kein Interesse daran gehabt, gegen das russische Volk zu argumentieren, das den Herrscher Stalin akzeptiert hatte. Mandelstams Stalin-Ode und seine geschichtsphilosophischen Überlegungen hinsichtlich der Beziehungen zwischen Staat, Herrscher, Volk, Literatur und Dichter – darüber hätte man gern einen klugen Roman gelesen. Das wäre neu gewesen, mutig und verwirrend.

    Robert Littell hat es vorgezogen, den alten Mythos vom heiligen Dichter-Märtyrer aufzuwärmen. Wer Freude hat an solch antiquiertem, quasi-religiösem Künstlerkult, der ist mit Littells Buch gut bedient. Alle anderen müssen Mandelstam lesen.

    Robert Littell: Das Stalin-Epigramm
    Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence
    400 Seiten, Arche Verlag (August 2009)