Donnerstag, 28. März 2024

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Gesundheitsforschung
"Wir haben enorme Fortschritte bei der Behandlung von Krebs"

Dass die Zahl der Krebserkrankungen in Deutschland weiter zunimmt, ist für den Onkologen Stephan Schmitz eine Folge des steigenden Lebensalters. Grundsätzlich habe man in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte in der Erforschung und Behandlung der Krankheit erzielt, sagte Schmitz im Deutschlandfunk.

Stephan Schmitz im Gespräch mit Mario Dobovisek | 29.11.2016
    Eine Patientin bekommt eine Infusion.
    "Wir haben eine Versorgungsstruktur in Deutschland, die sehr barrierefrei für die Patienten ist", sagte der Onkologe Stephan Schmitz im Deutschlandfunk. (picture-alliance / dpa / Klaus Rose)
    So habe es vor 30 Jahren noch kaum Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ärzten gegeben, erinnerte sich der Vorsitzende des Berufsverbands der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen (BNHO) im Deutschlandfunk. Das habe sich "komplett geändert". Künftig müsse es darum gehen, "den enormen Innovationsschub, den wir in der Onkologie haben, sinnvoll an die Patienten zu bringen". Für die Ausgabe der finanziellen Mittel hieße das: "keine Verschwendung, aber auch keine Rationierung".
    Grundsätzlich lobte Schmitz die "barrierefreie Versorgungsstruktur" im deutschen Gesundheitswesen: Jeder Patient bekomme schnellen Zugang zu onkologischen Behandlungen.
    "Krebs ist ein Preis des Lebensalters"
    Auch habe es einen großen "wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn" gegeben. So wisse man inzwischen, dass Krebs keine einheitliche Erkrankung sei. Es gebe ganz viele verschiedene Krebserkrankungen. Die Neuentwicklung von Medikamenten laufe international und schnell, auch gebe es kein Problem mit dem Informationstransfer, also dem Einsatz von neuen Erkenntnissen und Medikamenten in der Behandlung.

    Das Interview mit Stephan Schmitz in voller Länge:
    Mario Dobovisek: Zu mir ins Studio gekommen ist Stephan Schmitz. Er ist seit über 30 Jahren Onkologe hier in Köln und Vorsitzender des Berufsverbandes der niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland. Guten Abend, Herr Schmitz.
    Stephan Schmitz: Guten Abend.
    "Mit der demografischen Entwicklung steigen die Krebs-Neuerkrankungen"
    Dobovisek: Jedes Jahr erkranken eine halbe Million Menschen, fast eine halbe Million hier in Deutschland an Krebs. Im Vergleich zu den 70er-Jahren mehr als doppelt so viele. Krebs ist außerdem die zweithäufigste Todesart in Deutschland. Ist das der Preis des Älterwerdens und unseres Lebensstils?
    Schmitz: Ja, das ist auch ein Preis des Lebensalters. Krebs ist auch eine Alterserkrankung und mit unserer demografischen Entwicklung steigen dann die Krebs-Neuerkrankungen an.
    Dobovisek: Auf Deutsch gesagt: Wir werden älter, um dann am Krebs zu sterben?
    Schmitz: Ja. Um es salopp zu sagen: Ganz, ganz früher ist man an Tuberkulose gestorben, dann an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, und wenn man das alles überlebt hat, dann gibt es ein gewisses Risiko, dass man an einer Krebserkrankung erkrankt.
    "Krebs ist keine einheitliche Erkrankung"
    Dobovisek: Was wissen wir heute über die Ursachen?
    Schmitz: Wir haben im Vergleich zu den letzten 30 Jahren extrem viel neu gelernt über die Mechanismen der Tumorentstehung, gerade wissenschaftlich die letzten 10, 15 Jahre. Wir haben gelernt, wie molekular-genetische Veränderungen, biologische Veränderungen in den Zellen zu Krebserkrankungen führen.
    Aber man muss auch klar erkennen: Wir lernen immer mehr, aber es gibt auch immer neue Fragen. Das ist wie in der Physik oder so. Neue Erkenntnisse eröffnen neue Fragen. Und wir lernen dabei auch, dass Krebs natürlich keine einheitliche Erkrankung ist, sondern dass es ganz viele Krebserkrankungen gibt.
    "Bei Männern stagnieren die Lungenkrebs-Neuerkrankungen"
    Dobovisek: Ist das Wort Krebs eigentlich nur ein Überbegriff aus dem Nichtwissen heraus, was die Krankheiten unterscheidet?
    Schmitz: Nein, das ist falsch, aus dem Nichtwissen. Das ist ein Sammelbegriff, auch historisch bewahrt. Es gibt auch gemeinsame Kriterien für Krebserkrankungen, ungehemmtes Wachstum von Tumorzellen und Infiltration, also Metastasierung. Das sind gemeinsame Parameter für eine Krebserkrankung. Aber wenn man dann genauer reinguckt in die Ursachen, wie das entsteht, dann sehen wir doch, dass es ganz, ganz viele verschiedene Erkrankungen sind.
    Zum Beispiel vor 10 oder 15 Jahren gab es zwei Arten von Lungen-Karzinomen. Heute wissen wir, mit zwei verschiedenen Lungen-Karzinomen kommen wir gar nicht mehr weiter, sondern molekularbiologisch wissen wir, dass es zehn verschiedene Lungenkrebs-Erkrankungen gibt, die auch verschieden behandelt werden. Das ist sozusagen der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn, den wir zusammen mit den Wissenschaftlern gewinnen und dann auch in die Behandlung der Patienten einführen wollen.
    Dobovisek: Rauchen und Alkohol nach wie vor Nummer eins als Krebsrisiko?
    Schmitz: Rauchen ist sicher noch ein Riesenthema, wobei auf der anderen Seite gerade bei den Männern die Lungenkrebs-Neuerkrankungen stagnieren oder sogar etwas zurückgehen. Das sind die veränderten Rauchgewohnheiten. Bei Frauen interessanterweise steigen die Lungenkrebs-Erkrankungen langsam an. Das liegt daran, dass die Frauen in den 60er-, 70er-Jahren im großen Maße angefangen haben zu rauchen, und das braucht jetzt vielleicht noch 10, 15 Jahre, bis man da auch sehen kann, dass die Lungenkrebs-Erkrankungen weniger werden.
    "Früherkennung reicht definitiv nicht aus"
    Dobovisek: Wir lesen heute auch in dem nationalen Krebsbericht der Bundesregierung, dass ein Drittel aller Krebserkrankungen vermeidbar wären. Reichen denn Vorbeugung und Früherkennung, wie wir sie in Deutschland durchführen, aus?
    Schmitz: Früherkennung alleine reicht sicher nicht, um diese Zahl um ein Drittel zu reduzieren, wobei ich, ganz ehrlich gesagt, nicht genau weiß, wie diese ein Drittel vermeidbare Krebserkrankungen entstehen. Das ist sicher sehr, sehr multifaktoriell.
    Dobovisek: Haben Sie ein anderes Bild davon?
    Schmitz: Nein! Aber es ist total kompliziert, wissenschaftlich die Ursache genau zu erforschen. Bei Rauchen ist es klar: Wir wissen, wenn einer raucht, hat er ein 80-faches Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken. Aber bei anderen Umwelteinflüssen oder selbst eingeführten Einflüssen sind diese Einflüsse deutlich geringer und damit ist es auch schwerer, das zu messen.
    Dobovisek: Und Sie sagen, Früherkennung reicht nicht aus?
    Schmitz: Früherkennung reicht definitiv nicht aus, weil es gibt ja nur wenige Krebserkrankungen zurzeit, wo eine Früherkennung wirklich sinnvoll ist. Das ist Brustkrebs, das ist Zervikal-Karzinom, Scheidenstumpf-Karzinom, eventuell Prostata und ganz wichtig Darm-Karzinom-Erkrankungen. Für alle anderen Erkrankungen gibt es bis jetzt keine guten, wirklich sinnvollen Früherkennungen.
    "Nur mit gesundem Leben kann man dieses Problem nicht lösen"
    Dobovisek: Das heißt, wie kann besser vorgebeugt werden?
    Schmitz: Einmal natürlich, Umweltgifte zu vermeiden, zweitens den eigenen Lebenswandel natürlich, Rauchen, Alkohol, Übergewicht, diese Risikofaktoren zu reduzieren. Aber selbst, wenn man das alles macht, wird es einen großen Anteil an Patienten geben, die trotzdem eine Krebserkrankung bekommen.
    Ich habe ja ganz viele Patienten in der Praxis bei einer neuen Krebserkrankung, die erschüttert sind: Herr Doktor, ich habe doch gesund gelebt, ich habe Sport getrieben, ich habe alles gemacht, habe trotzdem eine Krebserkrankung. Das soll jetzt nicht heißen, dass man nicht gesund leben soll, aber nur mit gesundem Leben kann man leider dieses Problem auch nicht lösen. Aber man kann sicher substanziell einen Anteil der Krebserkrankungen vermeiden.
    "Jeder Patient bekommt schnellen Zugang zur onkologischen Versorgung"
    Dobovisek: Schauen wir uns die Behandlungsmöglichkeiten an. Da ist mir vor allem aufgefallen, dass die Zulassung neuer Krebsmedikamente, von Medikamenten in Deutschland insgesamt sehr lange dauert. Außerdem sind die Mittel hier in Deutschland sehr teuer, viel teurer als in anderen Ländern. Warum ist das so?
    Schmitz: Das waren jetzt mehrere Fragen auf einmal. Die Neuentwicklung von Medikamenten, die läuft international und ist eigentlich relativ schnell. Es gibt aus meiner Sicht kein Problem mit dem Innovationstransfer, sprich von neuen Erkenntnissen und Medikamenten in die Behandlung. Das geht relativ schnell in Deutschland. Das liegt auch an unserem System, das ist gut so.
    Es liegt einmal daran, dass die Krankenkassen in der Regel mit Zulassung eines Medikamentes auch die Medikamente bezahlen, auch für die Kassenpatienten. Das gibt es in vielen anderen Ländern nicht so. Das ist extrem wichtig. Und wir haben eine Versorgungsstruktur in Deutschland, die sehr barrierefrei auch für die Patienten ist.
    Dazu gehören drei Säulen: einmal die Universitätsklinika, die wichtig sind, natürlich Motor der Innovation zu sein, neue Sachen zu entwickeln, Studien zu machen. Dann gibt es die Versorgung in Krankenhäusern und bei niedergelassenen Onkologen, und das ist ein hervorragendes System in Deutschland. Da beneiden uns die meisten Länder.
    Das heißt, der Zugang für jeden Patienten, für jeden Patienten, nicht nur für reiche, privilegierte Patienten, jeder Patient bekommt schnellen Zugang zur onkologischen Versorgung in Deutschland. Insofern sehe ich da überhaupt kein Problem, was die Geschwindigkeit von Innovationen anbetrifft. Wir haben ein Thema - und das haben alle Gesundheitssysteme natürlich -, ein Problem der Mittel, der finanziellen Mittel, die natürlich vernünftig eingesetzt werden müssen.
    "Nicht die Patienten aus finanziellen Gründen schlechter versorgen"
    Dobovisek: Da sind wir auch bei dem großen Punkt, wie Politik mit Krebs umgehen soll. Da wurden heute viele Thesen aufgestellt, an welchen Stellschrauben gedreht werden soll, auch politisch gesehen, um besser gegen den Krebs vorgehen zu können. Welche Stellschrauben sehen Sie aus der Praxis?
    Schmitz: Der erste Punkt ist, dass aus finanziellen Gründen nicht die Patienten schlechter versorgt werden sollen. Es ist manchmal so, dass in der Politik, wenn es Probleme gibt, sehr zentralistische Ideen entstanden, wie man ein System steuert, wie man ein Mangelsystem steuern kann. Das funktioniert meistens zentralistisch nicht gut. Da gibt es viele Beispiele in der Geschichte.
    Ich bin ein großer Fan des Pluralismus, dass es auch verschiedene Systeme gibt. Wir haben in den letzten 30 Jahren enorme Fortschritte in der Behandlung von Krebstherapie mit den Patienten geschaffen. Vor 30 Jahren war es in der Regel so: Wenn ein Patient das erste Mal zum Chirurg kam, wurde er operiert. Wenn er zu solchen Leuten kam wie ich, die medikamentöse Therapien machen, hat er Chemotherapie bekommen, oder er hat Strahlentherapie bekommen. Das heißt, es gab überhaupt keine Zusammenarbeit vor 30 Jahren. Es gab große Mauern zwischen verschiedenen Abteilungen. Das hat sich komplett geändert die letzten 20 Jahre.
    "Den Innovationsschub sinnvoll an die Patienten bringen"
    Dobovisek: Was muss noch besser werden?
    Schmitz: Wir arbeiten intersektoral, wir arbeiten zusammen, niedergelassene Ärzte arbeiten mit Krankenhausärzten zusammen, es gibt gemeinsame Tumorkonferenzen. Was wir in Zukunft schaffen müssen ist, diesen enormen Innovationsschub, den wir in der Onkologie haben, vernünftig, sinnvoll an die Patienten zu bringen, und zwar keine Verschwendung zu machen, aber auch keine Rationierung zu machen. Noch mal: Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme auf der Welt und diesen Zugang für innovative Medikamente und auch Therapiekonzepte, den müssen wir erhalten. Und das können wir auch schaffen.
    Dobovisek: Stephan Schmitz - er ist Vorsitzender des Berufsverbandes der niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland. Vielen Dank für das Gespräch, das wir am Abend aufgezeichnet haben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.