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Gewalt gegen Flüchtlinge
"Diese Verbrechen werden nicht aufgeklärt"

Fast täglich hört man von Übergriffen auf Flüchtlingsheime. Aber werden auch Täter gefasst? Die Redaktionen von "Zeit" und "Zeit Online" sind dieser Frage nachgegangen. "Die Antwort ist für uns ziemlich erschütternd", sagte Karsten Polke-Majewski von "Zeit Online" im DLF: "Diese Verbrechen werden nicht aufgeklärt." Bei 222 gefährlichen Angriffen gab es nur vier Verurteilungen.

Karsten Polke-Majewski im Gespräch mit Bettina Klein | 03.12.2015
    Ein Feuerwehrmann löscht am 08.10.2015 in einer geplanten Flüchtlingsunterkunft in Grimma (Sachsen) einen Brand. Foto: Frank Schmidt/dpa
    Ausgebranntes Flüchtlingsheim in Grimma am 8.10.2015 (picture alliance / dpa / Frank Schmidt)
    Bettina Klein: Wie schaut es mit der Stimmung in Deutschland eigentlich aus? "In Grenzen willkommen" - so die Titelzeile der heutigen Ausgabe der Wochenzeitung "Die Zeit". Mehrdeutig, wenn man so will. Aber die Kollegen von "Zeit" und "Zeit Online" haben in einem größeren Rechercheprojekt unter anderem herausgefunden, wie viele Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte es in Deutschland in den vergangenen Monaten tatsächlich gegeben hat. Einer der Kollegen, die daran beteiligt waren, ist uns jetzt zugeschaltet aus Hamburg. Guten Morgen, Karsten Polke-Majewski.
    Karsten Polke-Majewski: Guten Morgen, Frau Klein.
    Klein: Zunächst mal die Frage: Weshalb haben Sie sich dieses Themas noch mal so gründlich vorgenommen, über das wir ja schon seit einiger Zeit auch berichten?
    Polke-Majewski: Die Frage, die sich bei uns gestellt hat, war: Fast täglich hört man von Übergriffen auf Flüchtlingsheime. Aber man hört fast nie davon, dass auch Täter gefangen worden sind. Das war unsere Ausgangsfrage, nämlich: wie kann das sein. Wie kann es sein, dass es so viele Übergriffe gibt, aber fast nie Berichte davon, dass auch jemand gefangen oder sogar verurteilt wird.
    Klein: Welche Antwort haben Sie darauf gefunden?
    Polke-Majewski: Die Antwort ist für uns ziemlich erschütternd. Wir haben nur die gefährlichen, wirklich gefährlichen Angriffe untersucht, also Angriffe, wo die Täter mindestens in Kauf genommen haben, dass Menschen verletzt oder sogar getötet werden, und haben 222 gefährliche Angriffe gefunden und alle nachrecherchiert. Das Ergebnis ist: Es gibt bisher nur vier Verurteilungen in diesem Jahr, und es gibt nur weitere acht Fälle, wo Anklage erhoben worden ist. Das heißt, diese Verbrechen werden nicht aufgeklärt.
    Warum werden die Täter nicht gefasst?
    Klein: Haben Sie denn Anhaltspunkte dafür gefunden, weshalb das so ist?
    Polke-Majewski: Ja, das haben wir. Wir sind mit 15 Kollegen von "Zeit" und "Zeit Online" losgegangen und haben tatsächlich alle Staatsanwälte gefragt, die zuständig waren für diese einzelnen Fälle, und es zeigt sich ein sehr vielschichtiges Bild. Es hat zu tun damit, dass die Delikte tatsächlich schwer zu ermitteln sind. Die Dinge passieren oft nachts, da werden Molotowcocktails geworfen aus vorbeifahrenden Autos, oder mit Stahlkugeln wird auf Fenster geschossen, oder es werden Steine geworfen. Es werden Brände so gründlich gelegt, dass alle Spuren nachher verschwunden sind.
    Für die Polizei ist das nächste Problem: Es gibt keine Beziehungen zwischen Tätern und Opfern. Das heißt, die Täter richten sich gegen die Einrichtung und nicht gegen einzelne Menschen. Das ist schwerer zu ermitteln. Manchmal sind die Gebäude unbewohnt.
    "Es gibt viele Leute, die offenbar nicht so gerne mit der Polizei reden"
    Das nächste Problem ist aber auch: Es gibt viele Leute, die offenbar nicht so gerne mit der Polizei reden. Das sind zum Teil die Flüchtlinge, die sehr schlechte Erfahrungen mit der Polizei in ihren Heimatländern haben und deswegen Angst. Das sind aber auch viele Nachbarn, die sich anscheinend nicht daran stören, dass eine Unterkunft oder ein unbewohntes Gebäude, das eine Unterkunft werden soll, abbrennt oder zerstört wird. Die Polizei trifft oft auf eine Mauer des Schweigens und kommt da nicht weiter.
    Klein: So beklagenswert das ist, was Sie schildern, das klingt im Augenblick so, als sei das immanent, als könne man daran nicht viel ändern. Oder sehen Sie durchaus auch Versagen der Politik und der Behörden in diesem Zusammenhang?
    Polke-Majewski: Es gibt durchaus ein Versagen, und das Versagen spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab. Wenn man Flüchtlingsunterkünfte vor allen Dingen in sehr abgelegenen Gegenden von Städten einrichtet oder auch auf dem Land - ich habe eine Unterkunft angeschaut, die ist ganz schön, die liegt einsam an einem See in Schleswig-Holstein, da ist nichts außen herum -, dann führt das natürlich dazu, dass solche Unterkünfte auch leicht angegriffen werden können.
    Wenn man keine Videokameras installiert, die den Außenbereich beobachten, wie bei einer Tankstelle oder bei einem Supermarkt, dann führt das dazu, dass man Probleme hat, Täter zu ermitteln. Wenn man beständig davon redet, dass man Schwierigkeiten mit den Flüchtlingen hat und über Obergrenzen diskutiert und über den Familiennachzug, den man möglichst verhindern will, und Ähnliches, dann bestätigt man Täter, die denken, sie würden den Volkswillen erfüllen, wenn sie solche Einrichtungen angreifen.
    Zu wenig Polizisten, zu wenig Sachverständige
    Klein: Gibt es eine Schlussfolgerung oder einen Appell, den Sie als Kollegen, als Journalisten nach diesen Recherchen an die Politik zum Beispiel richten würden?
    Polke-Majewski: Ja, es gibt einen Appell. Der geht in drei Richtungen. Das eine ist: Die Sicherheitsbehörden, vor allen Dingen die Polizeien, haben tatsächlich ein Problem. Es sind besonders in Ostdeutschland viele Polizeistellen abgebaut worden. Das heißt, es gibt nicht mehr genug Polizisten, die auf Streife unterwegs sein können, die in einzelnen Orten auch die Milieus gut kennen und wissen, wen sie ansprechen müssen.
    Es gibt zu wenig Brandsachverständige. Das heißt, wenn eine Tat geschehen ist, ist es sehr schwer, sie aufzuklären, einfach weil es nicht genug Fachleute gibt. Man kann sich auch fragen, wie stark eigentlich der Verfassungsschutz diese Szenen aufklärt. Da ist sicherlich viel zu tun, was auch politisch gestützt werden muss.
    Es ist aber genauso, dass wir auch als Zivilgesellschaft uns gegen solche Vorfälle richten müssen und das deutlich sagen und deutlich aussprechen. Und manchmal kann es vielleicht helfen, wenn man morgens nicht durch den Wald joggt, sondern an der nächsten Unterkunft vorbei und mal schaut, ob alles in Ordnung ist.
    Aufklärungsquote in ganz Deutschland mangelhaft
    Klein: Vielleicht noch kurz abschließend von den Zahlen her. Haben Sie besondere Schwerpunkte dieser Vorfälle, dieser Übergriffe gefunden, oder verteilt sich das mehr oder weniger gleichberechtigt auf ganz Deutschland?
    Polke-Majewski: Ja, das ist sehr interessant. Wir haben diese Vorfälle überall im Bundesgebiet gefunden und in großer Zahl. Es gibt tatsächlich einen Schwerpunkt: Das ist Sachsen. Dort gibt es besonders viele Vorfälle. Aber in Westdeutschland ist das Problem der Aufklärung genauso groß. Man kann zum Beispiel nach Baden-Württemberg schauen, ein Land, das sogar Polizeikräfte aufgebaut hat, und dort hat es in diesem Jahr 17 Vorfälle gegeben, sieben schwere Brandanschläge, und kein einziger dieser Vorfälle ist aufgeklärt worden.
    Klein: Informationen von Karsten Polke-Majewski. Er und eine Reihe von Kollegen von "Zeit" und "Zeit Online" haben das, was er gerade geschildert hat, in einem größeren Rechercheprojekt herausgefunden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Gewalt gegen Flüchtlinge : "Es brennt in Deutschland" - Eine Recherche von "Die Zeit" und "Zeit Online"