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Gewalt in Jugendbüchern

Beim Thema Gewalt und Gewaltprävention bei Kindern und Jugendlichen sind nicht nur Eltern, Schule und Polizei gefragt. Auch Bücher nehmen sich dieses Themas an: Wie fühlt es sich an, wenn ich Opfer von Gewalt werde, mich in Skinhead-Kreise bewege oder selbst andere mit Gewalt überziehe? Vier Bücher haben sich in unterschiedlicher Weise mit diesen Themen auseinandergesetzt.

Von Ralf Schweikart | 08.07.2006
    Kinder und Jugendliche retten die Welt, mindestens. Sie trotzen finsteren Mächten und fiesen Schurken. Sie geraten in brenzlige Situationen, stehen mit dem Rücken zur Wand und finden doch immer wieder, der Literatur sei Dank, einen Ausweg und ein Mittel, das Böse zu besiegen - mit List und Tücke, unscheinbaren Helfern und manchmal auch mit purer Gewalt. Am Ende steht der junge Held, noch sprachlos ob all der Erlebnisse, aber glücklich, den Gefahren entronnen zu sein und seine Mission erfüllt zu haben. Aus diesem Antagonismus entfaltet sich die Wirkung vieler fantastischer Romane. Deren Erfolg aber wäre längst nicht so groß, stünde am Ende nicht der unausweichliche Sieg des Helden, der Triumph des Guten über das Böse.

    Die hinter jeder Ecke lauernden Gefahren sind keine Erfindung der Literatur. Sie sind alltäglich, tragen ein sehr viel menschlicheres Antlitz als in den fantastischen Geschichten und sind Bestandteil vieler Lebenserfahrungen, die Kinder und Jugendliche heute machen. Im Klassenzimmer, in der Gruppe der Gleichaltrigen, in bestimmten jugendkulturellen Szenen ist Gewalt heute präsenter denn je. Laut einer Studie des Erlanger Psychologieprofessors Friedrich Lösel geben 13 Prozent von 1000 befragten Schülern zu, schon mal einen Raub- oder Erpressungsdelikt begangen zu haben, acht Prozent räumen ein, schon einmal ein Kind mit Messer oder Pistole bedroht zu haben. Erschreckende Ergebnisse, die aber doch in Relation gesetzt werden müssen, wie Andreas Arnemann findet. Er ist Jugendkoordinator beim Hessischen Landeskriminalamt und beschäftigt sich dort intensiv mit dem Thema Gewalt und Gewaltprävention bei Kindern und Jugendlichen. Seine Einschätzung ist weit weniger beunruhigend:

    " Wenn wir einen Blick auf unsere Statistiken werfen, stellen wir fest, dass der geringste Teil unserer Kinder und Jugendlichen mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind. Obwohl wir auch feststellen müssen, dass in den letzten 10 Jahren in den Ursachen – verändertes Anzeigeverhalten - die Zahl der straffällig gewordenen Kinder und Jugendlichen angestiegen ist. Aber es ist trotzdem so, dass wir nicht sagen können, dass wir haben es hier mit einer verrohten Jugend oder verrohten Kindern zu tun."

    Eine Entwarnung aus polizeilicher Sicht ist das jedoch nicht. Denn Andreas Arneman muss zugeben, dass

    "bestimmte Werte, die vorhanden sind, wie Respekt, Toleranz und dieses Miteinander in den Hintergrund treten und Werte wie Eigentum, Ich als Egoist und die Ellenbogengesellschaft mehr nach vorne rückt. Das stellen wir schon in Kindergärten fest, wo also das Miteinander eigentlich nicht mehr so geprägt ist, das ist also auch der Hintergrund, warum wir sagen, wir müssen aus Sicht der Prävention gesamtgesellschaftlich arbeiten, um die Werte, Respekt, Toleranz und das Miteinander gerade im Jugendalter weiter zu prägen."

    Es liegt also nahe, dass sich gerade die Jugendliteratur dieses Themas annimmt und sich zur Gewaltprävention mittels Beispielgeschichten aufgefordert sieht. Das Wirkungsschema ist oftmals austauschbar: Der Jugendliche, der zum Opfer wird, immer tiefer hineingerät in Demütigungen und physische Übergriffe, sich dann einer Person des Vertrauens öffnet und so der Spirale der Gewalt entrinnt. Ein typischer Fall für den rüstigen Opa als treuen Seelsorger, denn die Eltern sind oftmals überfordert darin, die Signale der Kinder zu erkennen.

    Diese Grundstrukturen füllt der Roman "Sie kriegen dich" von Oliver Pautsch weitgehend aus. Der Autor, mit Erfahrungen als Drehbuchschreiber für Krimiserien wie "SK Kölsch" und "Die Wache", verfolgt nebeneinander und in minutengenauer Abfolge die Ereignisse um Ben, eines dieser typischen Schüleropfer, und seiner drei Peiniger und dazu noch die parallel verlaufenden Ermittlungen zweier gegeneinander arbeitenden Polizisten. Es sind viele Handlungsfäden, die sich gerade zu Beginn unnötig verknoten und eher verwirren denn Spannung aufbauen. Dass hinter der Turnschuhabzocke ein Ganovenring steckt, einer von ihnen in Wirklichkeit ein Mädchen ist und sich zwischen Täter und Opfer gleich noch eine Hart-aber-herzlich-Liebesgeschichte entwickeln muss, verrät schon, dass der Autor mehr gewollt hat, als er erfüllen kann. Die Hintergründe bleiben schwammig und wenig nachvollziehbar. Es passt nicht so recht zusammen: Polizeikrimi einerseits und Täter-Opfer-Geschichte andererseits. Auch wenn der Ansatz, aus der pädagogisch wertvollen Beispielgeschichte einen atemlos erzählten Krimi zu machen, grundsätzlich nicht falsch ist.

    Jugendliche können ihre Konflikte aber auch alleine lösen. Davon handelt formal konventionell erzählt Christian Linkers Roman "Das Heldenprojekt". Eine engagierte Schülergruppe versucht mit Mitteln der Kunst in den örtlichen Wahlkampf einzugreifen. Ihr Gegner ist eine rechtspopulistische Partei, deren Plakate sie mit eigenen Motiven überklebt. Aus der kleinen Aktion der Gruppe, die sich "Das Projekt" nennt, wird ein mediales Ereignis. Die Aktionen weiten sich aus, die Partei reagiert mit Angst einflößenden Auftritten von Schlägertrupps. Bis die Konfrontation rund um eine Riesenparty eskaliert.

    Christian Linker bleibt in einem eher konservativen Erzählmuster, und darin gelingt es ihm gut nachvollziehbar, das wachsende politische Engagement der Schüler, aber auch die zunehmende Angst vor den Folgen darzustellen. Die Figur des Klassenstrebers, der plötzlich als Aktivist der Partei wieder auftaucht, findet darin ebenso seinen Platz wie die Liebesgeschichte zwischen Magnus und Marie. Das ab und an überflüssiges Sozialpädagogendeutsch auftaucht und Magnus bester Freund sterben muss, als alles längst ausgestanden scheint, trüben den Leseeindruck nur kurz.

    Aber es lässt sich über Gewalterfahrungen auch ganz anders erzählen. Ein ungewöhnliches Buch, ein ungewöhnlicher Autor, ein ungewöhnlich drastischer und direkter Erzählton, das bietet das Buch "No llores, mi querida – Weine nicht, mein Schatz" von André Pilz. Der Untertitel, "Ein Skinhead-Roman" verspricht, was die folgenden 240 Seiten einlösen. Schlägereien und Sex, Alkohol und Fußball, derbe Sprüche, Rotz und Wasser, Böse Onkelz und verlorene Cousinen. Und vor allem eines: Gewalt. Und Nico immer mittendrin. Ganz unmittelbar führt der Autor, der sich selbst als Skinhead bezeichnet, in eine Szene ein, über die viel geredet wird, aber wenig Wissen und noch weniger Verständnis herrscht – im Alltag wie in der Jugendliteratur. Skinheads, das sind doch diese rechten Schläger, so lautet das gängige Vorurteil. Doch dem es nicht so, wie auch Andreas Arnemann bestätigt.

    " Wir müssen aufteilen, also gerade in der rechten Szene gibt es also, nicht jeder der in irgendeiner Form eine Glatze hat, ist ein Skinhead. Das muss man feststellen. Es gibt bei der rechten Szene Sympathisanten, es gibt einfach nur die Neugierde, die einen da kurz mal in diesen Bereich reinbringt, und es gibt auch die harte rechte Szene."

    Nico jedenfalls hält sich raus aus politischen Diskussionen, vor allem, nachdem er die dunkelhäutige Studentin Lena kennengelernt hat. Nicht gerade der rechte Umgang für eine Glatze, andersherum auch nicht, wenn Nico in der Mensa auftaucht und ihrem Professor Schläge androht. Noch viel intensiver als diese Liebesgeschichte ist die Art und Weise, wie André Pilz in das Selbstverständnis Nicos eintaucht, seine Welt skizziert und beschreibt und darin auch die Rolle der Gewalt deutlich macht – Zitat: "Gewalt ist die einzige Form der Achtung, die wir von euch erzwingen können. Gewalt ist in Eurem Spiel nicht erlaubt, jedenfalls nicht die, die die Leute beim Einkaufen oder Spaß haben stören könnte. Aber wir, wir lieben sie. Nur die Gewalt auf der Straße und im Stadion schafft es, uns für kurze Zeit über euch zu stellen. In dem Moment, wo es knallt, da spüren wir Eure Angst. Vor uns, den Glatzköpfen."

    Sympathien gewinnt Nico damit beim Leser nicht. Eine Spur Verständnis aber schon. Denn in seine Gedanken entpuppt er sich als Moralist, als Kämpfer für eine sehr eigenwillige Form der Gerechtigkeit, die ihm als Skinhead selten widerfährt. Eben weil er ein Skinhead ist.

    Deutlich subtiler, in der Konsequenz nicht weniger drastisch geht Jan Guillous Roman "Evil. Das Böse." mit dem Thema Gewalt um. Als Internatsroman in der Tradition von Robert Musils "Zögling Törleß" und Hermann Hesses "Unterm Rad" schildert er die Karriere von Erik, die gemäß dem Satz verläuft: Schlägst du mich nicht, dann schlag ich dich". Zuhause ist es der Vater, der ihn quält, in der Schule ist er es der die anderen dominiert. Die Rollen werden getaucht, als Erik ins Internat einzieht und mit strengen Regeln konfrontiert wird, was den Umgang mit Neulingen angeht.

    Gewalt macht nicht glücklich, aber sie beruhigt. Ein trauriger Schluss für Erik, aber nur so kann er sich wehren. Gewalt, um Gewalt zu beenden, eingebettet in diesen beinahe philosophischen Diskurs gewinnt das Buch seine überragenden Qualitäten und verstört dennoch nachhaltig. Denn nach den Prämissen von Toleranz, Achtung, Rücksichtnahme ist das Verhalten Eriks nicht zu billigen. Aber das weiß er selbst auch.

    Die beiden letztgenannten Bücher verbindet, dass sie den Leser festhalten, ihm vorführen wollen, was er vielleicht gar nicht sehen und lesen will. Doch es bleibt dabei hängen, was Andreas Arnemann als eine der Grundlagen auch für die polizeiliche Präventionsarbeit fordert: Wissen zu vermitteln. Wer mehr weiß, ist vor falschen Reizen gewappnet. Demzufolge ist gerade die Wirkung dieser Bücher nicht zu unterschätzen, als literarische Auseinandersetzung wie als Mittel zum Zweck, sogar im Sinne der polizeilichen Arbeit:

    " Jede Institution kann ihren Beitrag zur Gewaltprävention leisten, ich bin kein Medienpädagoge, der jetzt entsprechend auf Grundlage von Literatur sagen kann, ob das entsprechende Auswirkungen hat, das Wissen, was mir zugrunde liegt, ist natürlich so, dass man bei der Wissensvermittlung im Rahmen der modernen Bildungsmanagements natürlich davon ausgeht, dass man lesen, hören und schreiben, dass das mehr Wissen verinnerlicht so mit Sicherheit Literatur, das was ich lesen kann, sogar parallel in Tagesstätten vorgelesen bekomme, was ich dann sogar selbst im Rahmen von Rollenspielen nachspielen kann, eine positive Wirkung haben kann auf die Entwicklung von Kindern."

    Besprochene Bücher
    Jan Guillou:
    Evil. Das Böse.
    München: Hanser 2005
    384 Seiten, € 19,90 (ab 14)

    Christian Linker:
    Das Heldenprojekt.
    München: dtv junior 2005
    254 Seiten, € 7,50 (ab 12)

    Oliver Pautsch:
    Sie kriegen dich.
    Stuttgart: Thienemann 2005
    192 Seiten, € 9,90 (ab 12)

    André Pilz:
    No llores, mi querida – Weine nicht, mein Schatz.
    Ein Skinhead-Roman.
    Bad Tölz: Archiv der Jugendkulturen/Verlag Thomas Tilsner 2005
    230 Seiten, € 18,- (ab 16)