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Gewalt und Individuum

Die Kolonie Deutsch-Südwestafrika vor dem Hintergrund der Herero-Aufstände Anfang des 20. Jahrhunderts hat der südafrikanische Schriftsteller André Brink zum Schauplatz seines Romans "Die andere Seite der Stille" gewählt. Im Mittelpunkt steht eine von deutschen Soldaten verstümmelte deutsche Frau, der zum Vornamen Hanna nicht einmal ein Nachname geblieben ist.

Von Michael Schmitt | 09.11.2008
    Windhuk, die Hauptstadt der Kolonie Deutsch-Südwestafrika hat Anfang des 20. Jahrhunderts vielleicht eintausend Einwohner und ist die mickrige Metropole eines Gebietes, das eineinhalbmal so groß ist wie das Deutsche Kaiserreich, aber nur von etwa zweihunderttausend Menschen bewohnt wird. Lediglich zweieinhalbtausend Deutsche leben um 1900 in dieser Kolonie, rund zweitausend Buren und Briten kommen hinzu; ihnen stehen 80.000 Angehörige des Stammes der Hereros gegenüber, 20.000 Namas und viele Tausende weiterer Mitglieder afrikanischer Stämme - und dennoch gilt Deutsch-Südwestafrika als eine der erfolgreicheren Gründungen in den Jahren des deutschen Imperialismus.

    Geographisch entspricht Deutsch-Südwestafrika ungefähr dem heutigen Namibia. 1883 hatte der deutsche Kaufmann Heinrich Vogelsang den Namas eine Meeresbucht samt Hinterland abgekauft und dabei sehr viel Grund und Boden gegen einige Hundert alte Gewehre und einhundert britische Pfund eingetauscht. Im Jahr darauf erhielt das Gebiet offiziell den Schutz des Deutschen Reiches, um britische Ansprüche auf diesen privaten Besitz abzuwehren, und die deutsche Flagge wurde gehisst. Weitere Erwerbungen kamen hinzu und am Ende erstreckte sich das Gebiet von der Grenze zum heutigen Angola im Norden bis zur britischen Kap-Provinz im Süden.

    Eine Eisenbahnlinie wird gebaut, die von der Küste nach Windhuk führt, die das Land erschließt und zur Lebensader der Kolonie wird. Abseits davon aber sind Ochsengespanne das gebräuchliche Transportmittel für Menschen oder Waren, da die Wege zu schlecht für die aufkommenden Kraftfahrzeuge sind. Die Siedler leben zunächst von der Viehzucht, später dann auch vom Handel mit Diamanten. Von den Achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg ist die Geschichte dieser Kolonie stets auch eine Geschichte ständiger Auseinandersetzungen mit den ursprünglichen Bewohnern dieses Landes, die durch Verträge um ihr Recht gebracht oder bei Feldzügen dezimiert werden. Deutsch-Südwestafrika ist die wenig exotische Wirklichkeit hinter dem klangvollen Namen des schwarzen Kontinents Großmachtphantasie, hinter der Verlockung von Ferne und Neuanfang.

    Diese Kolonie und die Jahre von 1902 bis 1906 hat der südafrikanische Schriftsteller André Brink zum Schauplatz seines Romans "Die andere Seite der Stille" gewählt. Im Mittelpunkt steht eine deutsche Frau, deren Leben von all diesen Faktoren bestimmt und ruiniert wird; deren Körper fast nur aus Narben und Verstümmelungen besteht, die ihr von deutschen Soldaten zugefügt worden sind. Sogar die Zunge hat man ihr herausgeschnitten, so dass sie auch noch stumm ist. Im englischen Original ist der Roman vor sechs Jahren erschienen und nun hat ihn Michael Kleeberg ins Deutsche übertragen. Der Hintergrund sind die Herero-Aufstände, die 1904 nach mehreren Jahren relativer Ruhe wieder aufflammen und von den Deutschen mit größter Brutalität niedergeschlagen werden. Aber es ist trotzdem kein Buch über diesen in Romanen öfter schon behandelten Kolonialkrieg, sondern vor allem eine Untersuchung zum Thema "Gewalt und Individuum" -- und zwar am Beispiel einer Heldin, die auf den ersten Blick untypisch für die zentralen Konflikte im Süden Afrikas scheint. Denn schließlich wird sie als Weiße unter Weißen zum Opfer, und es ist nicht selbstverständlich, dass sie dann unter den Schwarzen Freunde und Helfer findet.

    Folgt man den Angaben André Brinks, dann hat er versucht, sich ein Bild vom Leben einer Frau zu machen, von der in historischen Archiven nichts in Erfahrung zu bringen ist als ein Vorname. Er hat diesen Roman sozusagen in die Lücken der dokumentierten Geschichte hinein geschrieben -- und er beginnt sogleich mit einem Schockeffekt, denn der Leser trifft die Heldin gleich als geradezu monströs entstelltes Wesen an, und auf den folgenden 200 Seiten des ersten Teils wird dann nach und nach enthüllt, wie es dazu kommen konnte.

    "Im Schein einer tropfenden Kerze starrt sie in einen zerbrochenen Spiegel, der auf dem Treppenabsatz steht und der ihr Bild im Vorübergehen festgehalten hat wie ein Gespenst. Es ist das erste Mal, seit sie hierher gebracht wurde, das erste mal in drei Jahren, sieben Monaten und dreizehn Tagen, dass sie sich in einem Spiegel gegenübersteht.

    Sie zuckt nicht zusammen. Das liegt daran, dass das Spiegelbild so fremd ist, dass sie keine Erinnerung damit vergleichen könnte. (Sie hat nicht immer so ausgesehen.) Dies hier könnte ebenso gut ein Gespenst sein (...) Sie mustert das Bild so gleichmütig und objektiv, als handele es sich um eine große bleiche Motte, die hinter dem Glas aufgespießt wäre. (...) Die Büschel blonden oder grauen Haares, krumm und schief mit dem Küchenmesser abgeschnitten, wabern wie Plasma um das Gesicht herum. Ein Teil des rechten Ohrs fehlt, was ein dunkles Loch in einer Art Pils hinterlässt. Links nur eine halbe Augenbraue, die sich in einer Zickzacklinie von Narbengewebe verliert. (...) Das Erschreckendste ist die Grimasse, die den dünnlippigen Mund in die Breite verzieht, der selbst eher wie ein narbe als wie eine Körperöffnung aussieht: Er öffnet sich über einen Teil des rechten Kiefers unterhalb des Wangenknochens, sodass man die zerbrochenen Zähne sehen kann, die schief im Kiefer stecken. Ein Gesicht, das sich bereits auf halbem Wege zum Totenschädel befindet."

    Der Vorname dieser Frau ist Hanna, einen Nachnamen hat sie nicht, stattdessen wird ihr als Platzhalter ein "X" zugewiesen -- "Hanna X" heißt sie also für die Dauer des Romans und nach Deutsch-Südwestafrika ist sie auf einem jener Schiffe gekommen, auf denen nach 1900 zahlreiche Frauen aus dem Deutschen Reich in die Kolonie verfrachtet worden sind, um dort die verrohte, einsame Siedler zu heiraten, um Kinder zu kriegen und die Kolonie dadurch zu stärken. Das sind Frauen, die in der Heimat keinerlei Aussichten haben, die niemand braucht, die niemand gerne sieht, die man also in eine Weltgegend abschieben kann, wo ausgehungerte, gierige Männer schon lange auf einen "problemlosen Fick" warten. Wo keine Umstände gemacht werden, wo eine Frau allenfalls dann etwas wert ist, wenn sie sich nicht ziert. André Brink gibt an, den Namen "Hanna" auf der Liste eines dieser Transporte aus dem Jahr 1902 gefunden zu haben und dann noch einmal vier Jahre später in Zusammenhang mit einem Prozess, bei dem auch ein deutscher Offizier eine Rolle spielte. Das sind die Pole, zwischen denen er sein Netz spannt, zwischen denen er ihr ein Leben erfindet und sie vom Opfer zum Racheengel mutieren lässt.

    Das ist im Kern durchaus ein Reißer - aber es ist eben auch "engagiert" und alles andere als eindimensional angelegt, steht somit in der besten Tradition der früheren Werke dieses Südafrikaners, der Historie und Erfindung gerne mischt und bei uns auch in seinen erfolgreichsten Zeiten - vor 1990 -- immer im Schatten von angeseheneren Kolleginnen und Kollegen wie Nadine Gordimer, Breyten Breytenbach oder J. M. Coetzee gestanden hat. Und das, obwohl er nicht nur als Essayist und Literaturprofessor, sondern auch als Schriftsteller stets pointiert gegen die Apartheid in seiner Heimat Stellung bezogen hat; obwohl er 1973 der erste Weiße war, von dem ein Buch verboten wurde; und trotz des Ruhmes, den er sich 1979 mit seinem Roman "Die weiße Zeit der Dürre" über die Aufstände in Soweto erworben hat.

    Seiner Heldin Hanna in "Die andere Seite der Stille" schreibt er nicht nur lange Leidenswege in Afrika zu, sondern auch schon unendliche Demütigungen in Kinder- und Jugendjahren im Deutschen Reich. Sie hat als kleines Mädchen, als Vollwaise in einem Heim in Bremen, immer vom Meer geträumt, ohne es jemals gesehen zu haben; sie hat seither eine Muschel gehütet, um sie gelegentlich ans Ohr zu halten und die Wellen darin zu hören. Sie hat sich von einem schmierigen Pastor, dem Leiter dieses Waisenheims, im Namen Gottes befummeln lassen müssen und weiß dann in Afrika sofort, was einen psychisch deformierten Missionar von einem gottesfürchtigen Menschen unterscheidet. In vielen Bürgerhaushalten hat sie sich als Dienstmädchen verdingt und verkauft, hat also schon viel gesehen, ehe sie von "Afrika" als einer realen Perspektive erfährt; sie hat sogar schon das eine oder andere gute Buch gelesen -- und ist dafür fast immer bestraft worden. Schön ist sie nicht, allenfalls ihre Haare können Männer beeindrucken; aber sie ist nicht dumm, also lernt sie beim Schachspielen, dass man im Leben wie bei einem Feldzug die Finten des Gegners vorausahnen muss. Aber was nützt das einer jungen Frau, die nichts hat und dabei auch noch auf einer sehr subjektiven Vorstellung von Integrität und Ehrbarkeit beharren will?

    Sie reist in der dritten Klasse, wo die armen Frauen hausen, und fährt mit der festen Absicht los, sich in Afrika nützlich zu machen, denn schließlich ist sie kräftig und guten Willens. Aber genau daran scheitert sie dann auch, schon bei der Anreise, denn in der Kolonie ist alles nur noch schlimmer, weil sich hier das Unrecht potenziert, weil nicht nur Arm und Reich oder Mann und Frau kollidieren, sondern auch noch Weiß und Schwarz; weil die Rassenfragen und der permanente Kriegszustand in der Kolonie aus den meisten Menschen nur die übelsten Charakterzüge hervortreiben. Also verliert sie alles, sie stirbt gewissermaßen mehrere Tode, und verantwortlich dafür ist ein deutscher Offizier, dem sie sich verweigert, als er sie in einem jener Eisenbahnwaggons nehmen will, in denen die Frauen nach der Ankunft in der Kolonie vom Hafen zur Hauptstadt Windhuk gebracht werden. Das ist seinerzeit für alle diese Frauen eine viertägige Reise gewesen - und im Roman ein reiner Horrortrip, denn in diesem Zug geschieht in allen Abteilen immer nur dasselbe: Die Männer aus der Kolonie stürzen sich auf die neuen Frauen, um der Reihe nach auszuprobieren, ob die für das Leben taugen, dass die Männer sich vorstellen. Rücksicht gibt es nicht -- und wer sich widersetzt, wie Hanna, muss büßen.

    André Brink erspart dem Leser nur wenig; mal vage spekulierend, mal mit ausgeprägter Detailfreude setzt er nach und nach ein Bild von Hannas Prüfungen zusammen und springt dabei ständig zwischen Zeiten und Orten hin und her. Das ist über weite Strecken eine verstörende Lektüre, weil Spannung und Irritation Hand in Hand gehen. "Die andere Seite der Stille" ist zwar von einem eindeutig aufklärerischen Ethos getragen, der Roman will aber nicht eine einzige Lesart oder gar Eindeutigkeit erzwingen.

    " Selbst in den gut dokumentierten historischen Darstellungen über die Männer die Deutsch-Südwestafrika an der Wende zum 20. Jahrhundert beherrschten, jene ersten Gouverneure, die nach fast einem Jahrhundert des Pioniertums die Missionare, Händler und Goldsucher ablösten, bleiben die Individuen Schemen im Hintergrund ihrer eigenen Geschichte, in den Schatten gestellt von den historischen Tatsachen (...) Es gilt ebenfalls für die einheimischen Führer wie Samuel Maharero oder den gefürchteten Nama-Hauptmann Hendrik Wibooi (....) Das heißt, dass die dokumentierte Geschichtsschreibung in all diesen Fällen noch einmal neu geordnet, neu bedacht werden muss, um auch die einzelnen Individuen zu erfassen, die in dieser Geschichte gefangen waren. Und wie viel mehr gilt das dann auch für jemanden wie Hanna X. (...) Ich habe mehr und mehr das Gefühl, es ihr gerade als Mann zu schulden, das ich wenigstens versuche, zu verstehen, was sie zu einem ganz eigenen Menschen, einer Persönlichkeit gemacht hat und was das spezifisch Weibliche ist an ihr." "

    Das klingt ideologisch ein bisschen verstaubt, vielleicht sogar anbiedernd, so, als wolle André Brink sich den gender studies verschreiben. Im Verlauf des Romans aber verliert sich das schnell, denn es sind nicht die immer mal wieder eingeschobenen Reflektionen des Erzählers über seine Erzählung, die den Leser überzeugen, sondern die Eindringlichkeit, mit der es Brink gelingt, so etwas wie ein Gegenbild zur tradierten Geschichte des Kolonialismus zu schreiben. Und zwar sowohl beim Blick auf die Unterdrücker als auch bei dem auf die Unterdrückten. Er beschreibt natürlich vor allem eine brutale Männerwelt, aber er belässt es nicht dabei, sondern lässt seine Hanna schließlich auch zu einer "Täterin" werden, zu einer Furie, die sich von Johanna von Orleans inspiriert fühlt.

    Der Moment vor dem Spiegel, der das Buch einleitet und auf den André Brink immer wieder zurück kommt, ist der Dreh- und Wendepunkt in Hannas Leben. Sie ist nach der Schändung zunächst von Schwarzen vom Stamm der Namas in der Wüste gefunden und gepflegt worden und hat dann dreieinhalb Jahre in einem Heim für Frauen verbracht, die noch nicht einmal den grobschlächtigen Siedlern gut genug sind. An diesem Ort wird sie erneut zur Zeugin männlicher Übergriffe, und weil sie ein halbwüchsiges Mädchen, Katja, vor der Vergewaltigung durch einen Soldaten beschützt, wird sie erst zur Mörderin -- und zieht dann in den Krieg.

    "Nein, sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Hass so sein könnte. So schön, so einzigartig. So vollkommen rein. So unglaublich prall voll Leben. Es ist, als hätte sie ihr ganzes Leben eine Leere in sich gehabt, die sich immer einmal wieder eine Zeitlang mit Furcht auffüllte, mit Ängsten, mit Unsicherheit und Rastlosigkeit, ab und an sogar einmal mit einem Anflug von Liebe, mit allen wirren und undurchsichtigen Gefühlen jedenfalls, aber meistens war da doch Leere. Und die ist jetzt bis zum Rande gefüllt mit diesem strahlenden hass. Er funktioniert wie ein Vergrößerungsglas, das eine große menge einzelner Lichtstrahlen dazu zwingt, sich mit schrecklicher Präzision auf einen einzigen Punkt zu fokussieren, bis er in Flammen aufgeht, und verleiht dadurch ihrem ganzen Leben in einem einzigen erstaunlichen Moment eine Richtung und einen Sinn."

    Es ist ein Krieg in eigener Sache, den sie führt - auch wenn er vielleicht durch das Unrecht zu rechtfertigen ist, das ihr und anderen angetan worden ist. Mit einer Handvoll schwarzer und weißer Getreuer, die zufällig und ohne besondere Tauglichkeit zum Guerillakrieg zusammengewürfelt sind, erobert sie zuerst ein deutsches Fort, vernichtet eine ganze Garnison und steht am Ende in Windhuk tatsächlich wieder vor dem Offizier, der ihr all die Verletzungen zugefügt hat.

    Das ist, im zweiten Teil des Romans, ein ziemlich spektakulärer Plot, den man nicht unbedingt nach den Maßstäben der Wahrscheinlichkeit bewerten sollte. Er gestattet es dem Schriftsteller aber, bestimmte Haltungen zur Frage der Gewalt durchzuspielen. Schon in seinem Roman "Sandburgen" hat er vor vielen Jahren eine solche stumme Heldin eingeführt, die nur durch ein Blutbad überhaupt ein Zeichen ihrer Existenz hinterlassen konnte. Wenn er Hanna nun in eine ähnliche Lage bringt, ihr aber schließlich doch noch so etwas wie eine Läuterung zugesteht, dann muss man das vielleicht vor dem Hintergrund der neuen Zeit in Südafrika lesen, die mit der Regierungsübernahme der Schwarzen begonnen, aber seither noch keinen Frieden und keine wirklich gerechte neue Gesellschaft hervorgebracht hat. Rache und Hass, das sagt dieser Roman, sind keine Basis für "Vergesellschaftung", wer als Opfer das Opfersein nicht verwinden kann, der kann auch keinen Frieden finden.

    Hanna ist gezeichnet, als sie loszieht, sie ist aber auch so stark, dass sie sich stets gegen die Männer in ihrer eigenen Truppe durchsetzen kann. Nur sprechen kann sie nicht - oder nur durch den Mund jener jungen Katja, die sie gerettet hat. Katja ist ihr daher auch durchaus eine treue Dienerin, manchmal bis hin zur Selbstverleugnung, aber sie hat nicht jene lange Leidensgeschichte hinter sich, auf die Hanna immer wieder zurückblicken muss. Das macht zwischen der älteren und der ganz jungen Frau einen entscheidenden Unterschied.

    Als Hanna noch alleine mit ihrem Schmerz und ihren Torturen war, gab es keine Sprache für den Schmerz:

    "Es ist nicht nur ihre verlorene Zunge, die sie zum Schweigen verdammt, sondern das Wissen, dass nichts in der Sprache, die sie mitgebracht, fähig wäre, das auszudrücken, was sie so dringlich sagen möchte."

    Nun, da Hanna vom Leiden zur Tat übergegangen ist und sich mit Katja in einer Zeichensprache verständigt, die Katja dann den anderen Menschen in Sprache übersetzt, stellt sie fest, dass sie dem jungen Mädchen ihren innersten Antrieb trotz aller Vertrautheit nur schwer übermitteln kann, denn es gibt nicht nur keine Sprache für ihre Empfindungen, sondern auch keine Geste für "Hass". Sie muss das Wort buchstabieren, muss es in die Luft hineinschreiben - und markiert damit den Riss, der sich zwischen den beiden Frauen andeutet, je länger Hannas Krieg sich hinzieht. Katja setzt dagegen, sie kenne nichts Größeres als das Leben und entzieht sich damit der Forderung, alle Gefühle im Interesse der Rache zu verleugnen.

    "'Wohin gehen wir Hanna?' fragt Katja unerwartet ganz geradeheraus?

    Hanna deutet mit der Hand auf ihr vernarbtes Gesicht, dann schweigt sie und versucht, ihre Gedanken zu ordnen.

    'Du willst Dich an dem Mann rächen, der Dir das angetan hat, das weiß ich. Ich verstehe es auch. Aber das ist doch vor mehr als vier Jahren geschehen, nicht wahr? Wie groß ist denn noch die Chance, dass er überhaupt noch in Windhuk ist? Und selbst wenn .. und falls du dann tatsächlich Rache genommen hast, was dann? Ist es dann vorüber? Hast Du dann mit Dir selbst Frieden geschlossen?'

    Hanna legt ihre Hand auf die Katjas, um das Mädchen zum Schweigen zu bringen. Einen Moment lang blickt sie suchend um sich, auf der Suche nach der Möglichkeit, ihrer Stummheit zu entkommen, dann macht sie sich daran, ein Rechteck Sand mit der Hand glatt zu streichen. Sie greift sich einen Zweig und fängt hastig zu schreiben an. Aber die Sandschicht ist zu dünn und der Boden zu hart und ihr Gekritzel ist fast nicht zu entziffern."

    Rache allein sei nicht das, was sie antreibe, möchte Hanna gerne klar machen, es gehe um etwas Bedeutsameres; aber was das sein könnte, das rumort nur in ihr allein und kann nicht heraus. Hanna erinnert an jenen Typus der "bewaffneten Frau", der in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern im Kino und in Krimis Konjunktur hatte, an Frauen, die sich den Weg frei schießen konnten, aber dabei emotional nicht weniger verkrüppelt waren, als die Männer, an denen sie zuvor gelitten hatten. Es ist also einmal mehr ein populäres Erzählmuster, das hinter André Brinks verwickelter Konstruktion hervor scheint - und Hanna ist eine zwiespältige Figur, die zur Lichtgestalt nicht taugt und auch nicht taugen soll.

    "Literatur ist nur im Frieden nur Literatur", hat André Brink vor Jahren im Rückblick auf die eigene Arbeit und auf die seiner Schriftstellerkollegen erklärt und bedauert, dass man in Südafrika nicht schreiben könne, ohne dabei in das Politische verwickelt zu sein. Aber er hat sich dem nie entzogen, nicht als er anfangs seine Bücher in Afrikaans schrieb und sie dann ins Englische übersetzte - und auch heute nicht, nachdem er inzwischen diese Reihenfolge umgekehrt hat. Mit Langmut hat er die neueren Entwicklungen in Südafrika kommentiert, erst in jüngster Zeit zeigt auch er sich deutlich desillusioniert von den bestehenden Verhältnissen, von Kriminalität und Korruption in Südafrika.. Aber in der Geschichte von Hannas Feldzug ist das durchaus schon spürbar.

    "Die andere Seite der Stille" bleibt deshalb auch dann, wenn man im Einzelnen vielleicht einmal Kritik üben möchte, im Ganzen eine äußerst unbequeme und nachhaltige Lektüre. Anders als etwa Gerhard Seyfrieds Versuch den Herero-Aufstand zum Romanstoff zu formen, der vor fünf Jahren in Faktenseeligkeiten und Klischees endete. Und frischer als Uwe Timms Anlauf, dieses Sujet als kritische Analyse kolonialer Verhältnisse auszuloten -- am Beispiel von "Morenga", dem berühmten Guerillaführer der Schwarzen, der auch nur mit einer kleinen unscheinbaren Heerschar gegen die Deutschen ins Feld zog und ihnen schmerzhafte Verluste zufügte, ehe er schließlich den gemeinsamen Anstrengungen von Deutschen und Briten zum Opfer fiel.

    André Brink hat in "Die andere Seite der Stille" nun eine Heldin auf die Bühne gestellt, der für kurze Zeit etwas vergleichbares wie Josephus Morenga gelingt -- und die am Ende in einer ähnlich ausweglosen Lage ist, ehe sie für immer aus den Akten und damit aus der Geschichte verschwindet. Denn die Geschichte wird nach wie vor von den Siegern geschrieben; den Verlierern kann man meist nur mit Hilfe der Fantasie gerecht werden - in immer neuen Versuchen, unter veränderten Zeitumständen, unter sich wandelnden Vorzeichen.

    André Brink: Die andere Seite der Stille.
    Roman. Aus d. Englischen von Michael Kleeberg.
    Osburg Verlag, Berlin 2008,416 Seiten