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Gewaltfantasien im Supermarkt

Im Supermarkt treffen sie aufeinander: die kalorienbewusste Doris, der Obdachlose Anton und die Karrierepolitikerin Luise. Während des alltäglichen Einkaufens lassen die Protagonisten ihren Gefühlen, Gedanken - und Gewaltfantasien - freien Lauf. In Olga Flors "Kollateralschaden" wird der Supermarkt zum Schauplatz einer ganzen Gesellschaftsanalyse.

Von Sabine Peters | 30.10.2008
    Der Bauplan des neuen Romans von Olga Flor ist einfach und dabei doch reizvoll: Zeit und Ort sind klassisch streng festgelegt; die Handlung spielt sich während einer einzigen Stunde an einem Spätnachmittag im Januar ab, im Supermarkt eines kleinen österreichischen Ortes. Verschiedene Kunden und Angestellten streifen umher und sind dabei ganz mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt. Das Geschehen läuft in Zeitlupe ab; und um den Roman unter Spannung zu setzen, lässt Olga Flor die an sich banale Situation in einem Anschlag gipfeln - in einer Aktion, die eigentlich etwas anders hatte werden sollen.

    "Kollateralschaden", dieser Titel des dritten Romans der Grazer Autorin Olga Flor, lässt einen Gewalt assoziieren; Kollateralschäden in Kriegen sind "Begleitschäden", die nicht primär beabsichtigt waren. Aber der Supermarkt, in dem Flors Roman spielt, liegt doch in tiefem Frieden? Das schon - nur, Gewaltfantasien haben sämtliche der hier geschilderten Figuren. Sie alle stehen unter Druck, und der wird im Zweifelsfall weitergegeben: Hier ein Vordrängen, da ein giftiger Kommentar - und was an unzensierter innerer Rede abläuft, wirkt noch härter.

    Da hängen sie über den Einkaufswagen, begutachten Waren, wüten vor sich hin oder hängen schrägen Tagträumen nach: Anton ist noch nicht so weit gesunken, um Katzenfutter für sich selbst zu kaufen, aber dieser Obdachlose würde doch gern der mildtätigen Doris, die ihm einmal ungefragt Geld gab, vor die Füße spucken. Oder den Laden in die Luft sprengen.

    Der erfolglose Journalist Erich spekuliert, wie er Kollegen ausstechen könnte, und an der Fleischtheke stellt er sich vor, die Verkäuferin schneide die Wurstscheiben von ihrem eigenen Körper ab. Die karriereversessene Politikerin Luise schließlich macht sich einmal mehr klar: Die wichtigste Kunst im Leben besteht darin, jeden Rivalen auszustechen, überall und immer Sieger zu sein und dabei selbstverständlich auch noch fernsehtauglich dazustehen.

    Keiner von diesen Leuten weiß, dass der Halbwüchsige Mo sich auf den Weg zu ihnen gemacht hat. Mo ist ein Youngster, der auf Extremsportarten wie Freerunning steht, der jedes Hindernis zu überwinden gelernt hat. Er plant eine "kreative Aktion", die sein Freund filmen und ins Netz stellen soll, er will ein anonymer "Sturmläufer" sein, der den Konsumüberschuss, die Warenfülle beiseite fegen wird und dem Rest der Welt damit zeigt, dass man sich nicht alles bieten lassen muss, dass man handeln kann.

    Olga Flor führt einen Reigen von dreizehn Figuren vor, die an sich nur Zeit und Ort teilen - was sonst würde den obdachlosen Anton mit der eisernen Lady Luise verbinden. Die Struktur des Reigens kennt man aus vorausgegangenen Büchern der Autorin: In den beiden Romanen mit den Titeln "Erlkönig" und "Talschluss" ging es allerdings jeweils um Familiengeschichte, und natürlich bröckelte es hinter der schönen Fassade ganz gewaltig. So verhält es sich auch im neuen Buch, "Kollateralschaden".

    Was sich im Herz und Hirn des ganz normalen Zeitgenossen abspielt, ist größtenteils verschusselt oder bösartig - die karrieresüchtige Politikerin Luise beispielsweise definiert die Beziehung zu ihrem gelegentlichen Lover und Parteifreund feixend als ein "Gleichgewicht des Schreckens." In einer Gegend und Gegenwart, die von den Imperativen der Ökonomie beherrscht ist, beißt sich jeder allein durch, so gut es geht. Es ist bezeichnend, dass die beiden am deutlichsten und extremsten gezeichneten Figuren, der junge Outcast Mo und die perfekte Politikerin Luise letztlich dasselbe wollen: "Medial gut rüberkommen", den Rest der Welt manipulieren und für die eigenen Zwecke nutzen. In ihrem Egotrip verliert vor allem die beinharte, scheinbar so rationale Luise völlig den Kontakt zur Realität. Kein Wunder, dass es schließlich knallt.

    Was ist Realität? Viele Kunden in diesem Supermarkt sind durch ihren permanenten Medienkonsum derartig dressiert, dass sie weniger der unmittelbaren eigenen Wahrnehmung trauen als den tausendfach gehörten Floskeln, etwa der vom islamistischen Anschlag, deren Opfer sie zu sein meinen. Olga Flor zeigt in ihrem Buch exemplarisch, dass Realität immer auch als Ansichtssache und Interessensache funktioniert.

    Der Marxsche Satz vom Sein, das das Bewusstsein bestimmt, findet im Roman "Kollateralschaden" immer neue, teils witzige, teils groteske Ausdrucksformen: So geht Mos Überfall beziehungsweise sein "Sturmlauf" völlig an einem genervten Auszubildenden vorbei - den interessieren nur die schnieken Schuhe Mos, die er dem zusammengeschlagenen Kämpfer in einem unbeobachteten Moment schließlich abnimmt.

    Olga Flors Verfahren ist am Freudschen Prinzip der "gleichschwebenden Aufmerksamkeit" orientiert: In ihrem Roman gibt es keine Hierarchien, das Sonderangebot der Säuglingsnahrung ist ebenso bedeutsam oder unbedeutsam wie die Reflektionen eines Rentners über den Niedergang der abendländischen Kultur. Das Fehlen von Hierarchien bewirkt auch, dass einem einige Figuren herzlich gleichgültig bleiben; das Buch hätte durchaus ein paar Kürzungen vertragen. Und gegen Ende zwingt die Autorin ein paar Begegnungen zu viel zusammen.

    Trotzdem: Ihr Roman ist insgesamt gut lesbar und unterhaltsam, denn die allwissende Erzählerin hält einen gewissermaßen fest bei der Hand und führt einen mit trockenem Witz durchs Getümmel. Es ist unvermeidlich, dass Klischees auftauchen, wenn der begrenzte Raum eines Supermarkts zum Ort für eine ganze Gesellschaftsanalyse gemacht wird. Und doch werden die Klischees immer wieder aufgebrochen durch die Arbeit im Detail. Da zeigt Olga Flor: Die Figuren gehen nicht allesamt vollständig und zwanghaft in ihrer Rolle auf, sondern bewahren sich bestenfalls etwas Unbotmäßiges, etwas Aufmüpfiges.

    Olga Flor: Kollateralschaden
    Zsolnay-Verlag, 208 Seiten, 17,90 Euro