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Gewaltige Ohrfeige von der Angebetenen

Aus der Ich-Perspektive schildert Autor Christian Frascella das Leben eines nicht gerade in glücklichen Umständen heranwachsenden Vorstadtitalieners. Realistisch ist Frascellas Erstlingswerk, nicht zuletzt durch eine direkte, rotzige Spreche, die bisweilen an den derben Jargon von Gassenjungen erinnert.

Von Aureliana Sorrento | 07.09.2012
    Wie lebt es sich als Teenager an der Peripherie einer italienischen Industriestadt? Wo es weder ein Kino noch ein Theater gibt und auch keinen richtigen Treffpunkt für Jugendliche? Nur einen kleinen Platz, an dem Jungs Joints rollen und Dosenbier kippen.

    Die Szenerie, in der Christian Frascella seinen Debütroman "Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe" angesiedelt hat, ist ein Paradebeispiel für die Trostlosigkeit italienischer Vorstädte – nicht gerade Orte, die die beste Vorbedingungen für ein glückliches Heranwachsen bieten. Da passt die Kraftmeierei des 16-jährigen Protagonisten und Ich-Erzählers des Romans bestens ins Bild. Kein Zufall, dass wir ihn gleich zu Beginn in einer Schlägerei auf dem Schulhof verwickelt sehen. Wie auch, dass er wegen des Streits von der Schule suspendiert wird und beschließt, sie ganz abzubrechen. Denn welche Aussicht hat so ein Vorstadtkind auf eine anständige Ausbildung und ein besseres Leben? So gut wie keine.
    Das ist dem Romanhelden, der vermutlich deshalb keinen Namen hat, weil er für viele steht, sehr wohl bewusst. Vom Vater zur Strafe für die Prügelei zum Rasenmähen verdonnert, räsoniert er:

    Während ich mich durch die Savanne schlug, überlegte ich, dass es keine Gerechtigkeit auf der Welt gab. Zusammengeschlagen von einem Gehirnamputierten, der auf so etwas wie Terminator abfuhr; gedemütigt wegen einer Schlampe; von einem arbeitsscheuen Alkoholiker-Vater bedroht; Bruder einer durchgedrehten Klausurnonne, Sohn einer Mutter, die mit einem jungen Pumpenschwengel geflüchtet ist; potenzieller Fische-Aufschlitzer; außerdem müde, verdreckt und zerbeult. Nee, Gerechtigkeit gab es wirklich nicht. Mein Leben lief nicht in die richtige Richtung.
    Ich sagte es laut: "Mein Leben läuft nicht in die richtige Richtung."
    Mein Vater brach in schallendes Gelächter aus, schaukelte in seiner Hängematte und trank.


    Um seine Verwandten ist der Held wahrlich nicht zu beneiden: Die Mutter ist mit einem jüngeren Tankwart durchgebrannt; der Vater heuert gelegentlich als Hilfsarbeiter an, liegt aber meistens saufend in der Hängematte. Schwester Francesca weiß sich hingegen nicht besser aus der Not zu helfen als mit Gebeten und Kirchenbesuchen. Weshalb der Ich-Erzähler sie Mönchsrobbe nennt.

    Außer im Titel spielt diese Francesca im Roman kaum eine Rolle, sie ist bloß die bevorzugte Zielscheibe der Sticheleien ihres Bruders. Dieser tut sein Bestes, um seinen Familienmitgliedern auf den Geist zu gehen und sich mit jedem anzulegen, der ihm über den Weg läuft. An Dreistigkeit mangelt es ihm nicht. Außerdem verfügt er über eine ziemlich große Klappe und eine exorbitante Selbstüberschätzung. Trotz der Prügel und Kränkungen, die er immerzu einstecken muss, wähnt er sich einen Frauenhelden und einen erstklassigen Schläger. Läuft dann alles nicht so, wie es seinem Selbstbild entspräche, hat er prompt eine passende Erklärung parat. Etwa als die Feinkostverkäuferin, in die er sich augenblicklich verliebt hat, ihm eine so gewaltige Ohrfeige verpasst, dass er bewusstlos zu Boden fällt. An der Ohrfeige habe es nicht gelegen, behauptet der gedemütigte Aufschneider, nachdem er wieder zu sich gekommen ist.

    "Ich habe gerade eine komplizierte Lungenentzündung überstanden," sagte ich, mein Tonfall lag zwischen genervt und leidend, "darum habe ich nicht genug Antikörper und bin schwach. Dies ist schon das dritte Mal in vier Tagen, dass ich ohne Grund ohnmächtig werde."
    Ich meinte, ein Grinsen auf den Lippen des Mädchens zu erkennen.


    Ein Grinsen, das den Leser ansteckt. Es entbehrt ja nicht der Komik, wie sich dieser Maulheld durch die fantasievollsten Lügengespinste die Realität zurechtflunkert. Obwohl es nicht zu übersehen ist, dass ihm all die Märchen und Selbstlügen als rosarote Brille dienen, durch welche seine Lebenslage weniger erbärmlich erscheint, als sie ist. Sie bewahren ihn davor, in Selbstmitleid zu verfallen – und den Roman vor einem didaktischen Sozialrealismus.

    Realistisch ist Frascellas Erstlingswerk, insofern es den Leser den Standpunkt seines Protagonisten einnehmen lässt. Nicht zuletzt durch eine direkte, rotzige Spreche, die bisweilen an den derben Jargon von Gassenjungen erinnert, ohne aber die Reichhaltigkeit der Literatur vermissen zu lassen. Wir schauen nicht zu: Wir erleben mit, wie der Held, großspurig und blindlings, lauter Missgeschicken entgegenstürmt. Bis ihn äußere Umstände vom Sockel seiner Coolness herunter und zur Vernunft bringen. Die Erkrankung des Vaters, der durchs Trinken seine Leber ruiniert hat, und plötzlich, dem Tod nahe, ins Krankenhaus eingeliefert wird. Die Begegnung mit Chiara, der schönen und selbstbewussten Feinkost-Verkäuferin, die ihn mal in Schutz nimmt, mal barsch abweist, und zuletzt einer ordentlichen Kopfwäsche unterzieht, bevor sie seinem Werben nachgibt.

    Schließlich erweist sich die Arbeit in der Fabrik alles andere als ein Zuckerschlecken. Man zählt das Jahr 1989, der Neoliberalismus hat schon Einzug gehalten in die Industriebetriebe, und seine Auswirkungen auf die Arbeitswelt lassen sich bereits bemerken.

    Der inzwischen 17-Jährige wird in einer Maschinenbaufabrik auf Probe eingestellt und legt sich mächtig ins Zeug, um nicht nur seinen Soll zu erfüllen, sondern, wie der Abteilungsleiter von ihm verlangt, über den Soll hinaus zu produzieren. Will er den Job, muss er seine Kollegen durch eine größere Stückzahl übertreffen. Damit macht er sich zum Buhmann, denn seinetwegen werden die Älteren bald als weniger leistungsfähig eingestuft und aufs Abstellgleis geschoben werden. Aber er hat keine Wahl. Mag ihm im Betrieb nur ein graues Mühsalleben unter permanentem Konkurrenzdruck und ohne Aufstiegschancen winken – er braucht die Arbeit.

    Zum Glück ist ein Romanautor immer auch ein deus ex machina, der die Dinge zum Guten wenden kann. Nachdem er seinen Ich-Erzähler auf die Tiefebenen der Realität zurückgeholt hat, über welche normalerweise die Notwendigkeit waltet, schenkt er ihm die Freiheit. Der Chef kommt ihm schon mit dem Arbeitsvertrag entgegen, just da rennt der Junge aus der Fabrik hinaus. Rennt, rennt, rennt. Zum Krankenhaus, wo sein Vater gerade operiert wird. Und – so hofft man – in eine ungewisse, doch vielleicht bessere Zukunft.

    Nochmals eine Chimäre? Auch Christian Frascella hat in einer Fabrik gearbeitet, bevor ihn dieser bestrickende Roman in die Belletage der Literatur katapultierte. Er weiß, wovon er spricht.


    Buchinfos:
    Christian Frascella, "Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe", aus dem Italienischen von Annette Kopetzki übersetzt, Frankfurter Verlagsanstalt, 2012, 317 Seiten, 22,90 Euro