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Gewandelte Stimmung

Nach der Tschernobyl-Katastrophe zählte die Küstenregion um die schwedische Hafenstadt Gävle zu den Gebieten, die vom radioaktiven Niederschlag am stärksten betroffen waren. Fische, Pilze und Rentierfleisch sind bis heute durch hohe Strahlungswerte belastet. Doch für die meisten Schweden hat die Atomenergie anscheinend ihren Schrecken wieder verloren. Alexander Budde berichtet.

26.04.2006
    Marianne Stolt steht mit der Küchenschürze am Herd und gießt die dampfenden Kartoffeln ab. In der gusseisernen Pfanne brutzelt das Dorschfilet, das sie am Morgen aus der Tiefkühltruhe im Supermarkt gezogen hat.

    " Wir mögen Fisch, aber nur noch den tief gefrorenen aus der Konserve. Es schmeckt einfach besser, wenn man nicht so genau weiß, was einem da auf den Tisch kommt. "

    Marianne und ihr Mann Stig bewohnen ein rotes Holzhaus im Weiler Vittersjö in Mittelschweden. Aus dem Küchenfenster schweift der Blick über den See. Das Wasser funkelt in der Sonne. In der Tiefe ziehen Saibling, Hecht und Barsch friedlich ihre Bahnen. In den guten alten Zeiten saßen die Bewohner von Vittersjö mit der Angelrute am Ufer, erinnert sich Stig mit einem Seufzer. Doch seit 1986 hat es niemand mehr gewagt, einen Fisch aus dem See zu verspeisen.

    Mit bis zu 20.000 Becquerel pro Kilo sind die Barsche aus Vittersjö bis heute belastet. Zum Vergleich: Der von den Behörden festgelegte Grenzwert für die zulässige Strahlenbelastung bei Fisch, Wildprodukten und Pilzen aus dem Wald liegt bei 1500 Becquerel.

    Börje Walén lebt mit seiner Frau und drei Töchtern auf einem Hof bei Gävle. Ein paar hundert Hektar Land. Früher hielten sie Schafe, doch die mussten sie töten. Börje erinnert sich an den Reaktorunfall, als wäre es gestern gewesen.

    " Wir standen kurz vor der Panik, denn es gab reichlich Regen und Wind und niemand wusste, was da auf uns niederging. Wir waren damals oft draußen im Wald, die Kinder stiefelten durch die Pfützen und gruben im Sand. Dieses Gefühl von Ohnmacht und Wut, das hat mich bis heute nicht losgelassen. "

    1980, bei der Volksbefragung zum Atomausstieg in Schweden, waren die Fronten klar: Das AKW-Unglück im nordamerikanischen Harrisburg brachte die Stimmung im bis dahin kernkraftfreundlichen Schweden zum Kippen. Eine Mehrheit entschied sich für den langfristigen Ausstieg. Bis zum Jahr 2010 sollten die 12 schwedischen Reaktoren abgeschaltet sein. Die dänischen Nachbarn machten vor, wie man mit Sonne, Wind und allerhand Einsparungen den Energiehunger einer aufstrebenden Volkswirtschaft stillen kann.

    Ein Vierteljahrhundert später ist Ernüchterung eingekehrt: Zwar wurden die beiden Reaktoren im südschwedischen Barsebäck tatsächlich vom Netz genommen. Das Jahr 2010 als definitives Ende der schwedischen Kernkraft ist aber längst vom Tisch.

    Wind- und Wasserkraft lassen sich nach Ansicht von Experten kaum mehr ausbauen und die verbliebenen zehn Atomreaktoren, die rund die Hälfte des schwedischen Strombedarfs produzieren, ließen sich kurzfristig allenfalls durch klimaschädliche Öl- und Gaskraftwerke ersetzen.

    Ein 25 Jahre altes Referendum könne nicht länger die Grundlage für die schwedische Energiepolitik sein, meint Jan Björklund. Und der Vizechef der oppositionellen liberalen Volkspartei darf sich auf jüngste Umfragen berufen, wonach sich inzwischen eine deutliche Mehrheit der Schweden den Fortbestand, ja gar den Ausbau der Kernenergie wünscht.

    " Bei der Abstimmung 1980 wussten wir noch nichts vom Phänomen der globalen Erwärmung und von der Wirkung der Treibhausgase. Schweden hat sich verpflichtet, den Ausstoß von Kohlendioxid zu verringern. Doch was jetzt geschieht, ist das genaue Gegenteil. Wir sind das einzige Land in Europa, das eine Steigerung der Emissionen einplant. Und das beruht vor allem auf der Entscheidung der Regierung, die Kernkraft in den nächsten Jahrzehnten abzuwickeln. "

    Zwanzig Jahre nach Tschernobyl hat sich das politische Umfeld verändert. Industrie und private Haushalte dringen auf billige Energie, in der Europäische Union wird über längere Laufzeiten für die bestehenden Anlage diskutiert und in Schweden verkündet der sozialdemokratische Premier Göran Persson, dass sich sein Land bis 2020 vom Erdöl unabhängig machen will. Allen Unkenrufen aus Stockholm zum Trotz: Beim Atomausstieg treibt die Schweden keine Eile.