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Gewichtiges Werk

Was an Gerhard Roths Memoiren verblüfft, ist die Einfühlsamkeit, mit der sich der Schriftsteller in das Kind zurückzuversetzen vermag, das er einmal war. Das betrifft vor allem die Nachkriegspassagen.

Von Günter Kaindlstorfer | 22.10.2007
    "Die Erinnerung", schreibt Gerhard Roth im Motto seiner Memoiren, "die Erinnerung ist eine Fata Morgana in der Wüste des Vergessens". Heißt das, dass die detailgesättigten Kindheits- und Jugendreminiszenzen des 65-jährigen Österreichers auf bloßen Trugbildern basieren, dass man ihnen im Grunde nicht trauen darf?

    "Bekanntlich ist Erinnerung immer lückenhaft. Und vergessen Sie nicht: Es gibt auch falsche Erinnerungen. Dem wollte ich mit meinem Motto Rechnung tragen. Ich wollte eine gewisse Relativität herstellen."

    850 Seiten umfassen Gerhard Roths Kindheits- und Jugenderinnerungen. Der in Graz geborene Autor hat aber nicht nur ein vom Umfang her gewichtiges Werk vorgelegt. In dichten, bunten, eindringlichen Prosaskizzen beschwört der Schriftsteller die Jahre der Nachkriegszeit noch einmal herauf, die späten 40er, 50er und 60er Jahre, die nicht nur in Österreich Jahre des Mangels, des muffigen Biedersinns, des verbissenen Schweigens über die Jahre des Nationalsozialismus waren. Spät erst hat Gerhard Roth erfahren, dass seine Eltern in der NS-Zeit mehr waren als arglose Mitläufer. Sowohl sein Vater, ein Arzt, als auch seine Mutter waren um einiges früher in die NSDAP eingetreten, als sie ihrem Sohn gegenüber immer behauptet hatten. Nach dem Krieg, erinnert sich Gerhard Roth, reagierten die Eltern gern beleidigt, wenn die Sprache auf ihre Mitgliedschaft in der Nazipartei kam.

    "Es wurde alles verschwiegen und unter den Teppich gekehrt. Dadurch war es so schwierig für mich, ein Bild von dieser Zeit zu gewinnen. Als ich mit 15 oder 16 im Grazer Opernkino den Film 'Der Nürnberger Prozess' gesehen habe, ist das wie eine Welle über mich hereingebrochen. Ich habe erst damals begonnen darüber nachzudenken, was für ein gewaltiges Verbrechen der Nationalsozialismus eigentlich gewesen ist."

    Gerhard Roths Kindheits- und Jugenderinnerungen setzen mit einer starken Szene ein: In einem meisterlichen "Prolog" beschreibt der 65-Jährige, wie er im Jänner '45 als Zweieinhalbjähriger zusammen mit seiner Mutter und den beiden Brüdern eine Bahnfahrt von Graz nach Würzburg unternommen hat. Eindrucksvoll, wie Roth die dem Kleinkind unverständliche Dramatik der Eisenbahnreise schildert: die Fahrt im bitterkalten Zug, der über keine Fensterscheiben mehr verfügt, der milchigweiße Winterhimmel, der Tieffliegerangriff in der Nähe des Bahnhofs Mautern, die Flucht der Mutter mit den Buben über ein abgeerntetes Stoppelfeld, der erste Tote, den das Kind zu sehen bekommt, ein Mann mit gespenstisch verdrehten Augäpfeln.

    Was an Gerhard Roths Memoiren so verblüfft, ist die Einfühlsamkeit, mit der sich der Schriftsteller in das Kind zurückzuversetzen vermag, das er einmal war. Das betrifft vor allem die Nachkriegs-Passagen. Roth war ein trauriger, ein depressiver Bub, wie er von sich behauptet. Trost und temporäre Erlösung fand er im Kino und in der Welt seiner Bücher. "Gullivers Reisen", "Robinson Crusoe", "Doktor Doolittle", das waren die dutzendfach gelesenen Kultbücher des Knaben.

    "Der Einstieg in das Lesen war wie eine Droge, ich finde keinen anderen Vergleich. Es war die Möglichkeit, aus der drückenden Atmosphäre meiner Kindheit in eine fantastische Welt, eine Parallelwelt einzusteigen. Die Bücher waren eine wirksames Heilmittel gegen die Depressionen, unter denen ich litt."

    Das politische und kulturelle Klima im Österreich der 50er und der frühen 60er Jahre zeichnet Gerhard Roth in düsteren Farben. Das Schweigen über die Nazizeit und der Kalte Krieg, die restaurative Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung, die autoritäre Lebenshaltung von Eltern, Lehrern und Nachbarn, das alles sorgte für ein Klima der Angst und des Duckmäusertums.

    "Ich konnte eigentlich all das, was mich interessiert hat, nicht machen. Mich hat interessiert die Sexualität: Die war vollständig tabuisiert. Mich hat das Lesen interessiert und etwas später auch das Schreiben: Das musste ich geheim machen. Und mich hat die Politik interessiert, die nationalsozialistische Vergangenheit: Die war natürlich auch tabuisiert. Dazu kam der Kalte Krieg und der in den 50er Jahren immer noch beträchtliche Einfluss der katholischen Kirche, gepaart mit einer nostalgischen Sehnsucht nach der ,guten, alten K-und-K-Zeit, die so gut natürlich nicht gewesen ist. All das zusammen hat ein furchtbar drückendes und lähmendes Klima erzeugt, aus dem ich in meinem Alter nicht ausbrechen konnte, obwohl ich es immer wieder versucht habe."

    Erst die 68er Zeit, erinnert sich Gerhard Roth, hat umfassende Befreiungen gebracht. Den "Summer of Love" und das Aufatmen danach hat der Schriftsteller allerdings schon als Ehemann und wackerer Familienvater erlebt, was für andere Formen der Einschränkung sorgte.

    Dass sich Österreich seit den frühen 70er Jahren dramatisch verändert hat, hängt nicht nur mit den 68ern zusammen, sondern auch mit den Kreiskyschen Reformen, die Gerhard Roth wie viele andere Schriftsteller und Intellektuelle euphorisch-kritisch begrüßt hat. Das Österreich des Jahres 2007 sei um vieles liberaler, weltoffener, auch hedonistischer als das bedrückende Land seiner Kindheit, resümiert Gerhard Roth.

    Was sich gleich geblieben ist in all dem Wandel, ist des Schriftstellers Verbundenheit mit "Sturm Graz". Nicht ohne nostalgische Regungen beschreibt Roth in seinen Erinnerungen, wie er als Bub mit seinem Vater regelmäßig zu den Heimspielen des populären Grazer Fußballklubs in das legendäre Stadion "Gruabn" gepilgert ist. Große Matches waren das damals, zumindest in der Erinnerung, gegen Kapfenberg, gegen Admira, gegen Rapid Wien. Und heute? Wie steht es heute um des Autors Verhältnis zum SK Sturm? Kann man da noch von Liebe sprechen?

    "Die ist gleich geblieben, nur bin ich mehr so fanatisch wie früher. Als Bub bot mir ein Sturm-Graz-Sieg die Möglichkeit, mich selber irgendwie aufzuwerten. Zu dieser Zeit begann ich auch, die eben gesehenen Partien im Kopf nachzuspielen. Wenn Sturm Graz verloren hat, bin ich die entscheidenden Spielzüge im Geist noch einmal durchgegangen und habe sie entsprechend korrigiert. In der Fantasie habe ich mich etwa selbst eingewechselt und prompt das entscheidende Tor geschossen, womit ich den Sieg in letzter Sekunde sicherstellte. Grundsätzlich aber muss ich sagen: Als Sturm-Graz-Fan habe ich gelernt, Niederlagen mit Würde hinzunehmen. Denn Sturm war eine schwache Mannschaft, hat relativ oft verloren. Ich bin mit Sturm dreimal in die zweite Liga abgestiegen, aber wir haben jedes Mal den Aufstieg wieder geschafft. Daraus habe ich viel gelernt, auch für das sogenannte richtige Leben."

    Gerhard Roths Memoiren sind gespickt mit alltagskulturellen Details aus den Jahren seiner Jugend. Die Zelluloid-Schmachtfetzen mit Rudolf Prack und Winnie Markus, die der spätere Schriftsteller und seine Freunde im Grazer "Kroisbachkino" konsumierten, werden ebenso herbeizitiert wie die "Brisk"-Frisiercreme, die sich die Halbwüchsigen damals in die Haare zu schmieren pflegten. Zugleich lotet Roth auch die existenziellen Tiefenschichten seiner Biografie aus, von den peinigenden Schwermutattacken, die ihn bis heute immer wieder heimsuchen, bis hin zu dem einen oder anderen Nahtoderlebnis, das er glücklich hinter sich gebracht hat.

    "Ich war dem Tod relativ oft nah. Als Kind habe ich etwa eine Fotolinse verschluckt, ohne die Anwesenheit meines Vaters wäre ich mit Sicherheit erstickt. Und auch später, bei meinem Herzstillstand, war es wirklich ernst. Wenn man loslässt und glaubt, jetzt ist es vorbei, hat man das Gefühl, dass das Sterben keine Kunst ist. Solange man sich dagegen wehren kann und will, ist es sehr schwer."

    Das heißt, wenn man sich nicht dagegen wehrt, ist es leicht?

    "Das war der Eindruck, als ich im Haustor zusammengebrochen bin. Ich hatte das Gefühl, der Boden kommt auf mich zu wie eine Zugbrücke. Und mein letzter Gedanke dabei war: Sterben ist leicht."

    In seinem "Alphabet der Zeit" buchstabiert Gerhard Roth die Existenzialien seines Lebens noch einmal durch in kurzen, prägnanten Prosastücken, die sich zu einem facettenreichen Panorama der österreichischen Nachkriegszeit weiten. Der 65-jährige Autor hat ein großes, ein exzeptionelles Bekenntnisbuch vorgelegt, einen Text, der den Vergleich mit den bedeutendsten Memoirenwerken der europäischen Literatur nicht zu scheuen braucht.

    Gerhard Roth: Das Alphabet der Zeit
    S. Fischer, Frankfurt am Main
    850 Seiten, 28 Euro