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Gewieft, gewaltig, gierig - und alt

Ingvar Ambjørnsen ist in Norwegen so berühmt, dass seine Taschenbücher an jedem Kiosk liegen. Und er geht stramm auf die 60 zu - Parallelen zu seinem neuesten Protagonisten, der sich aus seinem aufreibenden Leben zurückziehen und über das Altern nachdenken will.

Von Ralph Gerstenberg | 12.07.2013
    Ein Norweger in Berlin, genauer gesagt: in West-Berlin. Auch wenn der neue Roman von Ingvar Ambjørnsen knapp zwanzig Jahre nach dem Mauerfall spielt, ist es der alte Berliner Westen zwischen Kant- und Knesebeckstraße, der ihm als Schauplatz dient. Dorthin verschlägt es seinen Protagonisten Claes Otto Gedde, der kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag steht und für ein paar Wochen oder Monate in der Wohnung einer verstorbenen Freundin untertauchen will. Gedde, Kriegsreporter, Journalist und als Showman bekannt aus dem norwegischen Fernsehen hat in den achtziger Jahren als Korrespondent in Berlin gelebt und gearbeitet. Nun soll ihm diese Gegend, die mit ihm in die Jahre gekommen zu sein scheint, als Ort dienen, um über das eigene Leben, das Altern und den Tod nachzudenken. Ein wenig Ruhe, eine Auszeit vom aufreibenden Leben als Journalist und Selbstvermarkter, das sucht er hier und nimmt sich vor, das Bermudadreieck rund um den Savignyplatz zu meiden, besonders den Zwiebelfisch, in dem er schon in so manchen Nächten versackt ist.

    "Die norwegischen Presseleute gehen unheimlich gerne in den Zwiebelfisch. Die sind da jeden Freitag. (...) Es war seit Jahrzehnten so, dass die Norweger in den Zwiebelfisch gehen. Jetzt, nach dem Buch haben viele davon gelesen. Der Zwiebelfisch ist jetzt eine ziemlich bekannte Berliner Kneipe in Norwegen."

    Auch Ingvar Ambjørnsen kehrt im Zwiebelfisch ein, wenn er mal wieder in Berlin ist. Ein Porträtfoto von ihm hängt an der Wand der Kultkneipe. Sogar die Buchpremiere der bereits 2007 erschienenen norwegischen Originalausgabe des Romans "Eine lange Nacht auf Erden" fand hier statt. Norwegische Presseleute reisten extra an. Dabei stand eine Frage offen im Raum: Welcher norwegische Journalist lieferte die Vorlage für Ambjørnsens Hauptfigur Claes Otto Gedde?

    "Das war in Norwegen offene Frage, als das Buch herauskam. Auch weil diese ganzen norwegischen Presseleute ja in den Zwiebelfisch gehen. Das waren natürlich einige Kandidaten. Aber ... Gedde ist mein Mann. Ich erfinde meine Hauptfiguren. Ich finde die nicht im Zwiebelfisch. (...) Ich kenne unheimlich viele Journalisten, ich hab für verschiedene Zeitungen in Norwegen seit 25 Jahren gearbeitet. Und tue es auch heute noch. Ich kenne diesen ganzen Jargon, ich kenne diesen Typen. Auf der einen Seite zynische Typen, aber sehr häufig mit einem großen Herz. Claes Otto Gedde ist meine Figur, den gibt’s nicht in der Wirklichkeit, aber solche Leute gibt es. Ich kenne mehrere."

    Claes Otto Gedde ist nicht gerade ein Sympathieträger: egozentrisch und egomanisch, jemand, der keine Pointe auf Kosten anderer auslässt, der Frauen vor allem nach ihrer Physis beurteilt und wesentlich mehr trinkt, als ihm gut tut. Ein Chaot, eine Urgewalt, die die Verhältnisse gründlich durcheinanderwirbelt - so auch bei seinem Auftauchen in Berlin. Vom Sohn der verstorbenen Freundin wird Gedde der Schlüssel für die Wohnung verweigert, weil dieser zwei Lithografien von Edvard Munch aus dem Besitz der Toten verkauft haben soll. Doch der gewiefte Journalist findet einen anderen Weg, sich Zutritt zum auserkorenen Winterquartier zu verschaffen. Er beobachtet den Hausmeister, ein verdruckstes Männlein, das noch bei seiner Mutter lebt, und nutzt dessen Schwachstellen gnadenlos aus. Während der Observation produziert Gedde ständig neue Ideen für Projekte, die in seiner Phantasie sofort Gestalt annehmen.

    "Jetzt meldete sich wieder der Fernsehreporter in ihm, und der würde sich immer melden, solange noch Leben in ihm war, jetzt war er wieder da, und Gedde wusste, er hätte eine zwanzigminütige Dokumentation über ebendiesen ein wenig schiefen Rücken machen können, diesen schleichenden Gang, durch die Straßen von Berlin, während das Leben, das Leben der anderen, sich auf allen Seiten entfaltete, Huren, Geschäftsmänner, Touristen, Punks und Penner, Zuwanderer und Polizisten, auf den Straßen Berlins, Europas neuer Hauptstadt, mit diesem erbärmlichen Jammerlappen in einer Art verzerrter Hauptrolle (...). Ein Spiel. Aber mehrere von Geddes Projekten, Dokumentationen, Artikel und Interviews hatten sich eben durch das Spiel entwickelt."

    Ingvar Ambjørnsen hat mit Claes Otto Gedde einen ruhelosen Ideenproduzenten und Selbstdarsteller in seine Romanwelt gesetzt - jemanden, der augenscheinlich gar nicht in der Lage ist, allein mit sich und seinen Gedanken zu bleiben, in aller Stille Bilanz zu ziehen. Aus dem Widerspruch zwischen dem Ernst und der Beharrlichkeit, mit der Gedde sein Vorhaben verfolgt, und der vorhersehbaren Unmöglichkeit seiner Verwirklichung schöpft Ambjørnsen jede Menge Komik. Hinzu kommt ein skurriles Personal, das von Gedde aufgescheucht und angezogen wird – Figuren, die auch Fellini zu schätzen gewusst hätte. Da wären zum Beispiel die dominante Mutter des Hausmeisters, deren Hinterhofhausmannskost Gedde in einem Kochbuch über preußische Küche zu verewigen gedenkt, ein betriebsmüder Zahnarzt mit Hang zu melancholischen Klavierstücken sowie eine siebzigjährige, übergewichtige Prostituierte namens Adele Lusthoff, in deren Speckfalten Gedde Trost und Geborgenheit sucht. Der Humor, der in fast allen Büchern Ambjørnsens zu finden ist, macht auch vor dem Alter, der Vergänglichkeit und dem unbarmherzigen Näherrücken des Todes nicht Halt.

    "Das ist mein Style. Es ist nicht so, dass ich denke, jetzt will ich ein lustiges Buch über den Tod und Krankheit schreiben. So läuft es nicht. Aber so wird es, wenn ich über diese Themen schreibe, wird es auch komisch. Ich finde es auch teilweise komisch. Jetzt bin ich fast 57. Und ich weiß, wie es ist, alt zu werden, ich merke das jeden Tag, ständig neue Begrenzungen, das kann ich nicht mehr, das auch nicht. Also wenn man damit nicht mit Humor umgeht, dann hat man wirklich ein Problem."

    Obwohl der umtriebige Gedde in Berlin keine Ruhe findet, kommt er in den verkaterten oder verbummelten Stunden des Alleinseins doch zum Resümieren und Nachdenken über das, was war, was ist, was noch werden könnte. In Rückblenden erfährt man von Kriegserlebnissen und Begegnungen auf der Frankfurter Buchmesse, auf der Gedde soeben sein Buch über "Die alte belgische Küche" präsentiert hat. Hingeworfene Sätze und Bemerkungen anderer wirken nach, torpedieren Geddes Selbstbewusstsein. Immer wieder, auch in der Berliner S-Bahn, sieht er sich mit den Augen der anderen: ein Mann am Tor zum Alter, der seine beste Zeit schon eine ganze Weile hinter sich hat und noch immer den heißen Stachel des Begehrens spürt.

    "Er war ja nicht dumm genug, um nicht zu begreifen, was die jungen Fahrgäste sahen, wenn sie jetzt ihre Blicke auf ihn richteten, falls sie nicht ganz einfach durch ihn hindurchblickten, ihn bereits für ganz oder teilweise aus der Welt hielten. Dort steht ein fetter alter Mann, mochten sie denken, vielleicht sogar ein altes Schwein, falls sie die langen Blicke auffingen, die er ab und zu den Hinterteilen und Brüsten diverser Frauen sandte, ein alter Mann, jenseits von Sex, impotent und sexfixiert, in seiner Jugend hatte er selbst so gedacht, wenn er alternde Exemplare der Spezies Mensch erblickt hatte, die da, hatte er als junger Mann immer gedacht, die da, der da, sind damit fertig, und dann stehen sie da, sitzen sie da und denken dennoch ihre Gedanken ..."

    "Eine lange Nacht auf Erden" von Ingvar Ambjørnsen ist das Gegenteil einer selbstgefälligen Altherrenfantasie. Es ist der schonungslose, sehr menschliche Blick auf die eigene Vergänglichkeit und die damit verbundenen Absurditäten und Zumutungen. Ganz nebenbei bringt Ambjørnsen das Kunststück fertig, eines der schönsten Porträts einer etwas angestaubten Ecke Berlins sowie eine sarkastische Beschreibung der Rituale und Albernheiten des Literatur- und Medienbetriebes unter einen Hut zu bringen. Im Zentrum des sprachlich und erzählerisch überzeugenden Romans steht jedoch die schmerzhafte Selbstbegegnung eines alternden Mannes, der es gewohnt ist, mit probaten Tricks und Mittelchen die Dämonen zu verjagen, die in der Einsamkeit rumoren.

    Ingvar Ambjørnsen: "Eine lange Nacht auf Erden"
    Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Rotbuch Verlag, 256 Seiten, 18,99 Euro.