Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Gewiefter Sprachschöpfer

Andrea Molesini ist ein fesselnder Roman über den Ersten Weltkrieg gelungen. Am Beispiel des zusammenbrechenden Alltagslebens in einer italienischen Villa führt er die Gräuel des Krieges eindrucksvoll vor Augen.

Von Aureliana Sorrento | 31.01.2013
    Ein Auftakt wie ein Menetekel: Ein deutscher Hauptmann zu Pferde erscheint in der Nacht vom 9. November 1917 vor der Tür der Villa Spada. Es ist Krieg, der Erste Weltkrieg, und am Ende wird nicht nur der Mikrokosmos der Villenbewohner Kopf stehen. Molesini, der sich bislang als Kinderbuchautor hervorgetan hatte, weiß bei seinem Romandebüt die Fäden behutsam zu legen, Sinn und Hintersinn in Szenen zu hüllen, die sich abwechseln wie Filmsequenzen: rasch, detailreich, farbstrotzend.

    Die Feldspaten brachen eine Tür nach der anderen auf, und die Soldaten drängten mit ihren schweren Tornisten ins Haus; dort machten sie sich über die Schränke her, rissen alles heraus, machten Dinge kaputt und grölten dabei laut, ein Wirrwarr aus abgehackten Silben. Einer, dem noch nasses Laub am Helm klebte, fuhr laut knatternd mit dem Motorrad in den großen Saal und machte erst einen Schritt vor dem Eichentisch halt.

    Zunächst deutsche, dann österreichisch-ungarische Offiziere richten in der Villa ihre Kommandantur ein. Die 2. italienische Armee ist am 24. Oktober 1917 in Caporetto, dem heute slowenischen Kobarid, besiegt worden; das venetische Gebiet östlich des Piaves wird von den Truppen der Habsburger und Hohenzollern besetz. Erst im Oktober 1918 werden die Italiener die feindlichen Armeen zurückdrängen und Österreich-Ungarn zur Kapitulation zwingen können. Dies der historische Rahmen, in dem "zu lieben und zu sterben" spielt.

    Aber Molesini ist kein Historiker, sondern ein gewiefter Sprachschöpfer, der den historischen Fakten die Plastizität des unmittelbarer Erlebten verleiht. Repressalien an der Zivilbevölkerung, Vergewaltigungen, das Gruselkabinett des Militärspitals, das in der Kirche von Refrontolo aus dem Stegreif eingerichtet wurde – all das rückt der Autor so nah an uns, dass es tief unter die Haut geht.

    Ich begriff, das er brüllen wollte, doch aus seinem Mund kam nur noch ein Flüstern: "Ich kann gehen", sagte er noch einmal. "Helft mir aufzustehen."
    Ich schaute auf das dreckstarrende Laken, das ihn vom Hals abwärts bedeckte: Ich sah, dass er keine Beine hatte, sein Körper war nur noch halb.


    Molesini hat seine Erzählstimme dem siebzehnjährigen Spross der Spada geliehen: Paolo. Zu Beginn des Romans noch ein Grünling, wie sein Erröten beim Anblick der aufreizenden Giulia verrät, muss er schnell erwachsen werden. Vom Verwalter Renato, der in Wahrheit ein Agent des militärischen Geheimdienstes ist, wird er in die Rettung eines britischen Piloten involviert. Währendessen macht Paolo die ersten Erfahrungen auf dem Terrain der Liebe, lernt Leidenschaft, Eifersucht und Enttäuschung kennen. Insofern ist "zu lieben und zu sterben" ein Entwicklungsroman. Molesinis Aufmerksamkeit gilt aber einer Anzahl von Motiven und Figuren, die er kunstvoll mit dem Schicksal seines Protagonisten verwebt.

    Da ist die Haushälterin Teresa, eine knorrige, beherzte, devote Dienerin, die die Welt immerzu mit einem "Potz Deibel Sakrament" bestraft. Großmutter Nancy, eine begabte Mathematikerin, im Herzen gut aber stolz und herrisch. Unter ihr hat der Großvater Guglielmo nicht wenig zu leiden – ein liebenswürdiger, exzentrischer Herr, der den letzten Sinn allen Geschehens in Sentenzen packt. Die schöne, gescheite und melancholische Tante Maria ist die Verkörperung des Klassenbewusstseins, wobei Adel für sie zuallererst Verantwortungs- und Pflichtgefühl bedeutet. Im Grunde sind sie alle Vertreter eines Zeitalters, in dem nicht die Nationalität, sondern Schicht und Rang die Menschen voneinander trennen. Mit den Offizieren, die sich in ihrer Villa einquartiert haben, haben sie mehr gemeinsam als mit den Bauern, die auf ihren Ländereien schuften.

    Aber der Krieg ruft auch in den adligen Weltbürgern nationale Gefühle hervor und setzt eine Mechanik des Hasses in Gang, die alle beinah wider Willen in den gleichen Strudel mitreißt. In die Sabotagetätigkeit, die ihm schließlich teuer zu stehen kommt, wird Paolo anfangs nur herein gezogen vom Verwalter Renato. Am Ende werden seine Aktivitäten nicht nur ihm, sondern auch Großvater Guglielmo zum Verhängnis: Baron von Feilitzsch verurteilt beide zum Tode per Erschießung. Loretta, die Tochter der Haushälterin Teresa, hat die Spada verraten– aus Hass gegen die Herrschaften. "Nicht alle Schurken stammen aus Wien" lautet sinnfällig der italienische Titel des Romans.

    Hier laufen die teils nur hintergründig mitschwingenden Motive des Buches zusammen: Der Klassenkonflikt, Patriotismus und Sinnlosigkeit des Krieges, das missverstandene Pflichtgefühl des Militärs und der Untergang der vom Adel bestimmten Welt. Als der Baron von Feilitzsch sich weigert, Paolo zu begnadigen, schleudert ihm Tante Maria eine furiose Rede entgegen:

    Ihr tragt hier, an dieser Stelle dazu bei, die Kultur zu vernichten, von der Ihr und ich und dieser Junge...ein Teil sind, und diese Kultur ist wichtiger als das Schicksal der Habsburger oder der Savoyer. Die Welt, die sich da abzeichnet, gefällt weder Euch noch mir: Darin wird kein Platz mehr sein für Mitleid und auch nicht für jene Umgangsformen...an denen uns so viel liegt. Mit Eurer Strenge glaubt Ihr Gerechtigkeit zu schaffen, doch das Gegenteil ist der Fall, Herr Baron, Ihr bereitet einer Epoche den Weg, in der jeder Gefreite sich General nennen lassen und das Volk sich über uns lustig machen wird.

    Wir Nachfahren wissen schon, wie die Sache endete. Im Roman überlebt Paolo wie durch ein Wunder die Erschießung – was man nur als dramaturgischen Fauxpas in einem sonst wunderbar gestrickten Roman bezeichnen kann. In der Wirklichkeit begann die Zeit der Massen und der Massengräber.

    Andrea Molesini: zu lieben und zu sterben. Roman.
    Piper, München 2012, 350 S., Preis: 19,90 Euro.