Donnerstag, 18. April 2024

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Gezeitenfischen in der Bretagne
Mit Muschelsuchern im Wattenmeer

Gezeitenfischen finden im Watt jede Menge Köstlichkeiten. Über 1,5 Millionen Franzosen - so schätzt man - gehen diesem Hobby nach. Bei Ebbe machen sich die sogenannten pêcheurs à pied auf und suchen nach bestimmten Muscheln, Krebsen, Garnelen und Austern. Dabei ist die Bretagne mit ihrer schier unendlichen Küstenlinie für sie ein Paradies.

Von Michael Arntz | 06.12.2015
    Zwei Männer im französischen Fischerort La Baule graben bei Niedrigwasser im Watt nach Krebsen und essbaren Herz- und Miesmuscheln
    Zwei Männer im französischen Fischerort La Baule graben bei Niedrigwasser im Watt nach Krebsen und essbaren Herz- und Miesmuscheln (Imago)
    Der Mann mit den schwarzen Gummistiefeln bückt sich. In der Hand hält er eine kleine Harke. Damit kratzt er den Wattboden auf.
    "Alors, j'ai 65 ans et je suis Monsieur Jolivet, de Plonéor-Lanvern."
    Monsieur Jolivet sucht nach Muscheln. Nach seinem Abendessen sozusagen. 65 Jahre ist er alt. Blaue Augen, grauer Bart, eine dicke braune Jacke. Aus dem Dörfchen Plonéour-Lanvern kommt er, sieben Kilometer von hier. Ein waschechter Bretone.
    Wir stehen an der Île Chevalier, eine winzige Insel im Südwesten der Bretagne, direkt vor dem Städtchen Pont-l'Abbé. Es ist Ebbe. Das Meer ist weit zurückgewichen. Doch von Ruhe keine Spur. Überall stehen die pêcheurs à pied. Wörtlich übersetzt: die Fußfischer; im Deutschen spricht man von Gezeitenfischern.
    "Alors, on pêche de la palourde, c'est de la palourde, on trouve en grattant dans le sable, voilà."
    Monsieur Jolivet habe ich zufällig getroffen, habe ihn einfach angesprochen. Er ist auf der Suche nach palourdes, also nach Venusmuscheln. Die sitzen im Sand, direkt unter der Oberfläche, erzählt er. Vier bis fünf Zentimeter müssen sie groß sein. Wenn man mit kleineren Muscheln erwischt wird, riskiert man eine Anzeige.
    "ça c'est bon. Si vous êtes pris avec des plus petites, vous risquez d'être verbalisés, voilà."
    Die Venusmuschel sieht ein bisschen aus wie eine Mainzelmännchenmütze. Sie ist bräunlich bis schwarz. Typisch sind die konzentrischen Rillen.
    "voyez, c'est pas. On ne gagne pas à tous les coups. C'est comme à la loterie."
    Da ist jetzt nichts dabei. Man hat halt nicht immer Glück. Das ist wie beim Lotto, sagt er, und versucht es einen halben Meter weiter. Schicht für Schicht kratzt Monsieur Jolivet den Sand auf. Oben heller Sand, darunter modrig riechender, dunkler Schlick. In diesem Schlamm stößt er immer wieder auf etwas, das wie Steine aussieht. Das sind die Muscheln. Mit geübtem Auge greift er nach den größeren, wäscht sie in einer der vielen Pfützen mit Meereswasser - und legt sie in seinen von Salzwasser und Sonne gegerbten Weidenkorb.
    "Alors pour les préparer, on peut les cuire avec très peu d'eau, dans la marmite."
    Wir wären nicht in Frankreich, wenn wir nicht sofort über die Zubereitung sprechen würden. Man kann sie mit ein wenig Wasser kochen, mit Weißwein, Pfeffer, dann wartet man, bis sie sich öffnen. Monsieur Jolivets Augen leuchten. Oder man füllt die Schalen mit dem Muschelfleisch. Schalottenbutter dazu. Und ab in den Backofen.
    "Et je mets du beurre d'escargot, et après je fais farcir au four. Très bien, très bien. Je vous remercie, au revoir, au revoir."
    Von der Île Chevalier geht es weiter an der Küste entlang nach Loctudy. Ich treffe mich mit Remi Trébaol. 47 Jahre. Schlank. Sportlich. Kurze schwarze Haare. Ein Dreitagebart auf sonnengebräuntem Gesicht. Remi arbeitet als Naturguide im Auftrag der Stadt Pont-l'Abbé. Er wird mir zeigen, was man alles im Watt finden kann.
    "Bonjour, monsieur - bonjour. Vous allez bien?"
    "Oui, merci - et vous? Très bien, avec ce soleil."
    Die Sonne ist durchgekommen. Vor uns ein felsiger Küstenstreifen. Wir gehen los:
    "Alors là, on va. La mer est en train de déscendre, elle est basse d'ici une petite demi-heure."
    Das Meer geht zurück, sagt Remi. In einer halben Stunde hat es seinen Tiefstand erreicht. Über Felsen und Steine klettern wir Richtung Wasserlinie. Wir werden Steine hochheben, ein bisschen graben und sehen, was wir finden – das hier, sagt er, ist ein magischer Ort:
    "Soulever les cailloux, fouiller et voir un peu ce qu'on trouve, parce que là, c'est un endroit magique. Cet animal-là on appelle le Chapeau chinois."
    Remi bleibt stehen und zeigt auf eine Muschel - pardon: eine Schnecke, die hier überall an den Felsen sitzt. Es ist die Gemeine Napfschnecke, die in der Bretagne viele Namen hat.
    "On l'appelle aussi Patelle, Bernique, Birinique. Il a plein plein de noms, issus de la langue bretonne."
    Das Schneckenhaus sieht aus wie ein kleiner Chinesenhut. Die patelle sitzt wirklich sehr fest am Felsen. Der kleine Austernhammer muss her.
    "Et c'est bon a manger, oui. Alors, ça se mange assez peu, mais."
    Ein paar gezielte Hammerschläge an die Ränder vom Schneckenhaus, und die Schnecke löst sich vom Felsen ...
    "Alors, soit on la mange maintenant, tout de suite, si vous voulez."
    Man kann sie sofort essen. Jetzt, hier, roh. Man kann sie auch sehr gut auf den Grill legen, die Spitze des Hütchens nach unten. Butter, Petersilie, Knoblauch dazu. Fertig.
    "Du persil, du l'ail et puis, je pose sur le barbecue. Très bon à manger. Mais: si vous voulez, on peut les gouter maintenant."
    Gut, ich werde eine patelle probieren. Vorsichtig schlägt Remi eine Napfschnecke vom Felsen. Mit den Fingern löst er das Schneckenfleisch aus dem Hütchen, wäscht alles im Meereswasser. Et voilà - schmeckt interessant. Wie ein fischiges Gummibärchen.
    "C'est iodé, très iodé."
    Ich frage mich, wenn über 1,5 Millionen Franzosen diesem Hobby nachgehen - hinterlässt das keine Spuren in der Natur?
    "Je viens découvrir l'environnement avec le public depuis environnement plus de 25 ans dans cet endroit."
    Remi erklärt mir, dass er seit 25 Jahren an diesen Ort kommt. Und er hat das Gefühl, dass die Fauna inzwischen ärmer geworden ist. Es gibt ein paar wenige Regeln, die man beim pêche à pied beachten muss - aber nicht jeder hält sich daran. Wenn man einen Stein hochhebt, um Krebse zu suchen, muss man den Stein in dieselbe Position zurücklegen. Sonst trocknet die vielfältige Tierwelt darunter aus. Und natürlich muss man die Mindestgrößen beachten.
    "Et après respecter les tailles des animaux que l'on doit ramasser - et voilà."
    Die Sonne hat sich inzwischen durchgesetzt. Am Horizont sieht man die eigenwilligen Kurven der bretonischen Küstenline. Weit entfernt blitzen kleine Hafenstädte in der goldenen Herbstsonne. An der Wasserlinie stehen Fußfischer mit Keschern. Sie fangen Garnelen. Jetzt ist Saison. Ein wahrhaft schmackhaftes Hobby.
    "Puisque la saison de la crevette est maintenant, on va pêcher la crevette avec l'épuisette."
    Remi möchte mir noch zeigen, wie man Krebse fängt. Er dreht einfach die Steine um. Unter fast jedem Felsblock stecken kleine étrilles und torteaux, Samtkrabben und Taschenkrebse. Sie sind noch viel zu klein. Heute wandern sie also nicht in den Kochtopf - obwohl sie sehr, sehr lecker sind, sagt Remi.
    "Mais ça c'est un petit crabe, c'est pareil, très, très, très bon à manger."
    Das pêche à pied gehört zum Leben der Menschen in der Bretagne dazu, sagt Remi nicht ohne Stolz. Das wird von Generation zu Generation weitergegeben. Sich von der Küste zu ernähren, ist Teil der bretonischen Kultur. Das ist untrennbar miteinander verbunden.
    "ça fait partie de la culture bretonne. Ah oui, ça c'est indissociable."