Donnerstag, 25. April 2024

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Giacinto Scelsi: ''Quattro Illustrazioni'' u.a.

Während Finnissy in seiner Klaviermusik über Tradition, kulturelle Phänomene und nicht zuletzt über soziale und gesellschaftliche Belange reflektiert, ist die Tendenz bei dem 1988 verstorbenen italienischen Komponisten Giacinto Scelsi eher entgegengesetzt. Er entzog sich der Außenwelt und wandte sich der Erforschung fremder und geheimer Innenwelten zu, er hatte eine ausgeprägte Neigung zum Meditativen und Spirituellen. Freilich spielte auch für Scelsi das Klavier eine besondere Rolle. Er trat zwar nicht als Virtuose in Erscheinung, aber es war neben der elektronischen ''Ondioline'' das Instrument, das die Grundlage seines Schaffens bildete: Scelsi improvisierte, oder besser gesagt, fantasierte auf den Tasten und ließ die Ergebnisse, sofern gelungen, von einem Assistenten transkribieren. In Überlagerung mehrerer Schichten entstand so mutmaßlich auch der größte Teil seiner Orchester- und Ensemblestücke. Scelsis letzte größere Werke für Klavier solo stammen aus den 50er Jahren. Der Pianist Markus Hinterhäuser nahm sich nun drei weitere davon vor. * Musikbeispiel: Giacinto Scelsi - aus: ''Quattro Illustrazioni'' ''Krishna - Avatàra'', der letzte Teil aus den ''Quattro Illustrazioni'' von 1953. Scelsi spürte in dem Werk den Metamorphosen und irdischen Verkörperungen des hinduistischen Gottes Vishnu nach. Und Markus Hinterhäuser geht mit der nötigen Tiefe im Ausdruck vor, lässt sich aber vom mystischen Hintergrund nicht überwältigen. Und das ist gut so. Er bewahrt in jeder Phase Klarheit und Präzision, er lädt Scelsis Musik zwar mit Bedeutung auf, doch leitet er diese aus der Intensität der Klänge selbst ab. So auch in der sechsteiligen Suite Nr. 8 von 1952, die von tibetanischen Ritualen, Gebeten und Tänzen inspiriert ist. * Musikbeispiel: Giacinto Scelsi - ‚Bot - Ba' (Tibet) aus: ''Suite No. 8'' Eine besondere Herausforderung stellen Scelsis ''Cinque Incantesimi'' dar. In diesen ''Fünf Zaubersprüchen'' übersetzt Scelsi die abstrakten, halluzinatorischen Bewusstseinszuständen zugeschriebenen Tuschzeichnungen des französischen Malers und Schriftstellers Henri Michaux in Töne: in grelle Tupfer und nervös-schillernde, gebrochene Linien, die bis in extreme Lagen vordringen. Die expressive Kraft der fünf Stücke ist markant, und ihre Identität als augenblicksverhaftete Klangimaginationen entspricht in radikaler Form Scelsis schöpferischem Grundimpuls. Markus Hinterhäuser, für den technische Schwierigkeiten kein Hindernis sind, erweist sich auch hier als kongenialer Interpret. * Musikbeispiel: Giacinto Scelsi - aus: ''Cinque Incantesimi'' So unterschiedlich die kompositorischen Ansätze und Resultate bei Finnissy und Scelsi auch sind, die Klaviermusik der beiden beschert, zumal im Zugriff solch herausragender Interpreten, spannende Hörerlebnisse. Die CD ''Etched bright with sunlight'' mit Werken von Michael Finnissy und dem Pianisten Nicolas Hodges ist bei dem englischen Label Metronome erschienen, die CD mit Musik von Giacinto Scelsi und dem Pianisten Markus Hinterhäuser bei col legno. Hören Sie zum Ausklang nun noch einmal Nicolas Hodges mit einem Ausschnitt aus Finnissys Bearbeitung des Strauß-Walzers ''O, schöner Mai''. Am Mikrofon verabschiedet sich Egbert Hiller. Die Redaktion der Sendung hatte Frank Kämpfer. * Musikbeispiel: Michael Finnissy - ''O, schöner Mai''

Egbert Hiller | 21.04.2003