Samstag, 20. April 2024

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Gibt es eine Fußball-Politik-Analogie?

Oliver Ramme: Wer sich unter den Nationaltrainern in Portugal bei der Europameisterschaft umhört, kommt zu folgendem Ergebnis: Frankreich wird das Finale im Juli gewinnen. 14 der 16 Trainer tippen auf Zidane und Co. Bei ihrer Entscheidung verlassen sich die Trainer auf ihren Sachverstand. Was sie wahrscheinlich nicht tun, einen Vergleich ziehen zwischen politischer und sozialer Situation im jeweiligen Land und den Spielern auf dem Rasen, also eine Fußballpolitikanalogie. Demnach dürfte Deutschland nicht einmal die Vorrunde überstehen, so groß sind die Probleme im eigenen Land, um einen Sieg in Portugal zuzulassen. Herr Seitz, stimmen Sie dem zu?

12.06.2004
    Norbert Seitz: Ja, es gibt erneut eine gewisse Ähnlichkeit. Man kann sie im Übrigen auch wieder feststellen, was Kanzler und Trainer angeht. Völler und Schröder haben ja diese Analogie, wenn Sie so wollen, im Jahre 2002 im Wahljahr und im Weltmeisterschaftsjahr gebildet. Damals hat keiner einen Pfifferling auf die Deutschen gesetzt, keiner hat einen Pfifferling nach den ersten Umfragen des Jahres damals auf die SPD gesetzt, und dann kam es dann doch, dass sie aus einer aussichtlosen Position heraus es doch noch geschafft haben. Die Deutschen wurden Vize-Weltmeister und der Schröder hat es gerade noch mal so geschafft. Da sich ja so eine Art Schicksalsgemeinschaft herausgebildet hat, wie wir das schon in den Jahrzehnten davor, damals mit Herberger und Adenauer hatten oder mit Helmut Schön und Willy Brandt oder mit Jupp Derwall und Schmidt. Immer gab es ja diese Parallele und dieses Mal wieder frappierend. Aber ich möchte noch was zu den Fähigkeiten der deutschen Mannschaft sagen und der Parallele zur derzeitigen wirtschaftlichen Situation: Es ist wohl so, dass das, was man früher die deutschen Anstrengungen genannt hat, oder was im Fußballerischen immer wieder hieß, die "teutonischen Tugenden": zu kämpfen, diszipliniert zu sein, konzentriert zu sein, Konsequenzbewusstsein zu beweisen, wie das immer so schön hieß - im Fußball hieß das immer: "Ihr Franzosen könnt noch so schön spielen, aber wir gewinnen ja trotzdem wieder, denn wir wissen, worauf es in letzter Sekunde ankommt" - das gibt es eigentlich nicht mehr.

    Ramme: Norbert Seitz ist Journalist und Buchautor. Eines seiner Werke lautet "Kohl und Maradona. Politik und Fußball im Doppelpass". Jetzt müssen Sie mir noch mal genau erklären: Wie funktioniert denn diese Interaktion Politik und Fußball?

    Seitz: Natürlich ist das kein ursächliches Verhältnis. Es ist ja blanker Obskurantismus, behaupten zu wollen, dass das eine das andere bedingt. Aber es hat sich so im Lauf der Jahre herausgebildet, wahrscheinlich auch dadurch, dass im selben Jahr immer wieder Weltmeisterschaft und Bundestagswahlen sind, dass man immer geschaut hat: Kann das eine das andere Ergebnis beeinflussen. Wir hatten 1998 das letzte Jahr von Kohl. Da waren die Deutschen ganz schwach mit Berti Vogts ausgeschieden, und der war ja auch sozusagen das Pendant von Kohl. Dann hat man gesagt: "Da gibt es wahrscheinlich doch so eine Art Parallele", zumal Schröder 1998, als die Deutschen ausgeschieden sind, da gar nicht mehr hingegangen ist, weil er wusste, dass das schlecht für das Image wäre.

    Ramme: Aber ist diese Theorie nicht auch interpretierbar: Die Ära Kohl ist zu Ende gegangen, aber es gab ja das Morgenleuchten der SPD. Insofern gab es ja auch Gewinner in der damaligen Zeit 1998 und trotzdem hat die Nationalmannschaft in Frankreich verloren.

    Seitz: Das ist sicher richtig. Man muss aber auch sehen, man kann natürlich nicht sagen, das eine bedingt das andere, oder das eine setzte das andere voraus, zumal man diese Parallelen ohnehin erst immer, und das ist der Trick dabei, feststellen kann, wenn etwas bereits stattgefunden hat. Aber es hat in allen Jahrzehnten der Bundesrepublik historische Analogien gegeben. Denken Sie an 1954, damals das Wirtschaftswunder und die Weltmeisterschaft, denken Sie an 1974, damals die sozialliberale Ära und die Weltmeisterschaft, denken Sie an die Wiedervereinigung und Weltmeisterschaft 1990 mit Helmut Kohl. Es hat sie immer gegeben, und es scheint sie heute, wo es den Deutschen nicht mehr ganz so gut geht, auch wieder zu geben, denn die Spieler beherrschen diese kämpferischen Tugenden von einst nicht mehr, und deshalb können auch nur noch wenige Menschen auf sie setzen oder glauben, dass sie als Turniermannschaft vielleicht doch noch ins Endspiel kommen.

    Ramme: Also kann man sagen, Ballack und Co. sind im Prinzip gehemmt im Kopf, weil die Wirtschaft nicht floriert bei uns?

    Seitz: Das ist sicher etwas übertrieben, aber bei Ballack hängt das sicher auch mit den Problemen bei Bayern München zusammen. Er ist sicher nicht der Führungsspieler, wie das früher mit Beckenbauer, Netzer, Overath oder ganz früher Fritz Walter gewesen ist. Ob das nun was zu tun hat mit dem schlechten Zustand der Wirtschaft in Ostdeutschland...?

    Ramme: Zumal Ballack Ostdeutscher ist. Es gab ja bestimmte Paarungen in der Geschichte. Sie haben das ja auch angedeutet: Adenauer - Herberger zum Beispiel, Vogts - Kohl. Wie harmonieren denn Völler und Schröder?

    Seitz: Ich habe es schon gesagt: Die harmonieren eigentlich ganz gut. Sie waren damals schon im Jahre 2002 Schicksalsbrüder einer aussichtslosen Situation. Wahrscheinlich denken sie sich jetzt auch, wir könnten noch mal rauskommen, vielleicht ein Zeichen setzen bei der Thüringen-Wahl. Die Deutschen gegen Holland am Dienstag, das muss man abwarten. Aber ich glaube schon, dass es da wieder so eine Art Entsprechung gibt.

    Ramme: Fußball erscheint ja nicht nur vom sozialen Umfeld beeinflusst zu werden. Der Schriftsteller Klaus Teweleith stellt in seinem Buch "Tor zur Welt" die Parallel her zwischen Fußball und Kultur. Also hätten digitale Computerspiele einen wesentlichen Einfluss auf unser Raumverständnis, und damit auch auf die Spielweise großer Fußballmannschaften. Stimmen Sie dem zu?

    Seitz: Da ist etwas dran. Teweleith hat das sehr gut beschrieben, auch dass im Grunde genommen das Spielverständnis, wie es noch Netzer hat, wenn er seine Runde mit Delling diskutiert, dass das im Grunde genommen altmodisch ist. Man muss ja sehen: Wie spielt ein Zidane. Ein Zidane ist nicht nur ein großer Techniker. Das ist ein Mann, der überhaupt nicht für die Galerie spielt, sondern das ist ein absolut mannschaftsdienlicher Spieler. Das heißt, heute ist der wichtigste Spieler derjenige, den man den Scheibenwischer nennt, das heißt, der zwischen Abwehr und Angriff spielt, ein Edgar Davids zum Beispiel und nicht mehr der frühere Spielmacher mit der Nummer zehn, wo Netzer dann sagt, er muss Dominanz ausüben. Das würde man heute nicht mehr so sehen. Das ist ein anderes Spielverständnis. Was Teweleith in seinem Buch aufgreift ist richtig, dass hier ein neues Raumverständnis Platz gegriffen hat.

    Ramme: Ist es zu weit gefasst, zu sagen "Fußball ist Religion"?

    Seitz: Ach, für manche ist das sicher so. Und ich würde auch sagen, dass vor allen Dingen für junge Staaten wie in Afrika - oder wir haben es erlebt in Post-Jugoslawien, an den Kroaten - dass das schon eine Art Religion ist, dass da auch noch richtiger Nationalismus möglich ist. Ob das bei uns so ist? Ich glaube, dass die Deutschen sehr unterkühlt sind. Das sieht man auch an den Zahlen, wenn man befragt, wie Deutschland abschneiden wird, dass sie doch ziemlich zurückhaltend sind. Andererseits freuen sie sich, holen ihre Fähnchen raus, machen ihre Autokorsos, Hupkonzerte, wenn dann doch gewonnen wird. Aber ich denke, das schon mit Religion zu bezeichnen, wäre übertrieben.